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»Sie tun es unter dem Vorwand, es sei das praktischste«, fuhr Denise fort. »Tatsächlich sind sie beide schrecklich sentimental.« Sie wandte sich zu Philippa. »Was würdest du sagen, wenn ich Dr. O'Donnell heirate?«

»Hat er dich darum gebeten?« Philippas Interesse war sofort wach. Ohne auf eine Antwort zu warten, rief sie aus: »Du tust es doch natürlich?«

»Das hängt von vielem ab, mein Kind«, antwortete Denise. »Selbstverständlich müssen erst ein paar Kleinigkeiten, wie meine Scheidung, geordnet werden.«

»Ach das. Es ist sehr unvernünftig von Daddy, daß er es von dir verlangt. Aber abgesehen davon, worauf braucht ihr zu warten?«

Sie sah O'Donnell offen an. »Warum lebt ihr nicht einfach zusammen. Dann liegt der Scheidungsgrund schon vor, und Mutter braucht nicht nach einem dieser scheußlichen Orte wie Reno zu fahren.«

»Es gibt Augenblicke«, sagte Denise, »an denen mir ernste Zweifel am Wert der fortschrittlichen Erziehung kommen. Nun ist es aber genug.« Sie trat auf Philippa zu. »Gute Nacht, mein Kind.«

»Oh, Mutter«, antwortete das Mädchen, »manchmal benimmst du dich geradezu vorsintflutlich.«

»Gute Nacht, mein Kind«, wiederholte Denise nachdrücklich.

Philippa wandte sich an O'Donnell. »Dann muß ich wohl gehen.«

Er antwortete: »Ich habe mich sehr gefreut, Sie zu sehen, Philippa.«

Das Mädchen kam zu ihm. Ungekünstelt sagte sie: »Wenn Sie doch mein Stiefvater werden, kann ich Sie ja ruhig küssen.«

Er beugte sich zu ihr, und sie küßte ihn auf die Lippen, trat dann zurück. Sie lächelte leicht. Dann sagte sie: »Sie gefallen mir.« Und warnend zu Denise: »Mutter, was du auch tust, laß dir den nicht entgehen.«

»Philippa!« Diesmal war der tadelnde Ton unverkennbar.

Philippa lachte und küßte ihre Mutter. Mit einem übermütigen Winken nahm sie ihren Gedichtband und ging.

O'Donnell lehnte sich an die Wand auf der Terrasse und lachte. In diesem Augenblick erschien ihm sein Junggesellendasein in Burlington unglaubwürdig leer und langweilig.

XVIII

Die Amputation von Vivians linkem Bein begann Punkt halb neun. Pünktlichkeit in den Operationsräumen gehörte zu den Dingen, auf denen Dr. O'Donnell bestanden hatte, als er Chef der Chirurgie im Three Counties Hospital wurde, und die meisten der Chirurgen fügten sich seiner Forderung.

Die Operation war nicht schwierig, und Lucy Grainger rechnete mit keinen besonderen Komplikationen. Sie plante, das Bein ziemlich weit über dem Knie im Oberteil des Oberschenkelknochens zu amputieren. Sie hatte auch erwogen, das Bein im Hüftgelenk abzunehmen, in der Meinung, daß damit bessere Aussichten bestanden, den sich vom Knie ausbreitenden bösartigen Zellen zuvorzukommen. Aber das hatte den Nachteil, daß es später außerordentlich schwierig war, an einem ungenügenden Stumpf eine Prothese anzubringen. Darum hatte sie sich entschlossen, einen Teil des Oberschenkels zu erhalten.

Sie hatte auch schon geplant, wie sie die Muskellappen schneiden wollte, die später den Stumpf ausreichend bedecken konnten. Tatsächlich hatte sie schon am Abend vorher in Gedanken die erforderlichen Schnitte vollzogen, wobei sie Vivian in dem Glauben ließ, daß sie nur eine weitere Routineuntersuchung vornähme. Das war, nachdem sie Vivian die Nachricht überbracht hatte. Natürlich war es ein ergreifendes und bedrückendes Gespräch gewesen. Zuerst hatte das Mädchen sich gefaßt gezeigt, aber war dann zusammengebrochen. Sie klammerte sich an Lucy, und ihr verzweifeltes Schluchzen verriet, daß sie die letzte, ungewisse Hoffnung verloren hatte. Obwohl Lucy durch ihre Ausbildung und ihre Tätigkeit darin geschult war, sich in solchen Augenblicken klinisch und unsentimental zu geben, fand sie sich selbst ungewöhnlich bewegt.

Die anschließende Unterhaltung mit den Eltern und mit dem jungen Dr. Seddons, der später zu ihr kam, war weniger persönlich, aber immer noch bedrückend gewesen. Lucy glaubte, es würde ihr nie gelingen, ihre Gefühle für ihre Patienten völlig zu beherrschen, wie manche andere das konnten, und mitunter mußte sie sich selbst zugeben, daß ihre äußerliche Kühle nur eine Pose, wenn auch eine notwendige, war. Allerdings war ihre Sachlichkeit hier im Operationsraum keine Pose. An diesem Ort war Sachlichkeit eine Notwendigkeit, und sie fand sich jetzt kühl und ohne persönliche Empfindungen dabei, die unmittelbaren Aufgaben der Operation zu überdenken.

Der Narkosearzt am Kopf des Operationstisches hatte schon sein Zeichen gegeben, daß sie beginnen könne. Bereits seit einigen Minuten hielt Lucys Assistent - heute einer der Praktikanten des Krankenhauses - das Bein, das amputiert werden mußte, hoch, damit das Blut soweit wie möglich in den Körper zurückfloß. Jetzt begann Lucy weit oben am Oberschenkel eine pneumatische Aderpresse anzulegen, ließ sie aber im Augenblick noch locker.

Ohne aufgefordert zu werden, reichte ihr die Operationsschwester eine Schere über den Tisch, und Lucy begann den Verband aufzuschneiden, der das Bein umhüllte, seit es am Abend vorher rasiert und anschließend zur Desinfektion mit Hexachlorophen bestrichen worden war. Der Verband fiel zu Boden, und die zweite Operationsschwester hob ihn auf.

Lucy sah auf die Uhr. Das Bein war jetzt fünf Minuten lang fast senkrecht hochgehalten worden, das Fleisch erschien bleich. Der Praktikant wechselte den Griff, und sie fragte ihn: »Strengt es die Arme an?«

Er lächelte hinter seiner Gesichtsmaske. »Ich möchte es nicht eine Stunde lang so halten.«

Der Narkosearzt war zu der Aderpresse getreten und sah Lucy an. Sie nickte und sagte: »Ja, bitte.« Der Narkosearzt begann Luft in den Gummischlauch zu pumpen und unterband damit die Blutzufuhr in das Bein. Als er fertig war, ließ der Praktikant das Bein sinken, bis es ausgestreckt auf dem Operationstisch lag. Die Operationsschwester und der Praktikant bedeckten die Patientin mit einem sterilen, grünen Laken, so daß nur das linke Bein frei blieb.

Dann begann Lucy mit den letzten Vorbereitungen und bestrich das Operationsfeld am Oberschenkel mit einer alkoholischen Lösung von Zephiran.

In dem Operationsraum waren heute Gäste anwesend - zwei Medizinstudenten von der Universität -, und Lucy winkte sie näher heran. Die Operationsschwester reichte ihr ein Messer, und Lucy ritzte mit der Spitze der Klinge in die Haut des freiliegenden Oberschenkels und erklärte dabei:

»Beachten Sie, daß ich die Umrisse der Muskellappen zunächst durch Kratzer markiere. Das gibt uns Anhaltspunkte.«

Jetzt begann sie tiefer zu schneiden, legte sofort die Muskelfascien unter der Haut und ihrer Fettgewebeschicht frei. »Es ist immer wichtig, den vorderen Lappen länger als den hinteren zu machen, damit die Nahtlinie später etwas nach rückwärts liegt. Auf diese Weise hat der Patient keine Narbe unmittelbar am Ende des Stumpfes. Eine Narbe an dieser Stelle kann sich später als außerordentlich schmerzhaft und empfindlich erweisen, wenn sie durch Gewicht belastet wird.«

Nun schnitt sie tief in das Fleisch. Die Umrisse beider Lappen wurden durch das Blut erkennbar, das hervorzusickern begann. Das Ergebnis war vorn und hinten, ähnlich zwei Hemdschößen, ein langer und ein kurzer Lappen, die zum Schluß zusammengezogen und an den Rändern sauber vernäht wurden.

Mit kurzen, scharfen Bewegungen begann Lucy mit dem Skalpell die Muskel zurück und nach oben zu schieben und legte die blutigrote Masse des darunterliegenden Gewebes bloß.

»Klemme, bitte.« Die Operationsschwester reichte ihr das Instrument. Lucy brachte es an, so daß es die gelösten Muskeln von der nächsten darunterliegenden Schicht zurückhielt. Sie winkte ihrem Assistenten, die Klemme zu halten, und schnitt tiefer durch die oberste Schicht des vierköpfigen Oberschenkelmuskel».

»Gleich werden wir die Hauptarterien freilegen. Ja. Hier haben wir das erste femorale Gefäß.« Während Lucy darauf deutete, beugten sich die beiden Medizinstudenten interessiert vor. Ruhig fuhr sie fort, das, was sie tat, zu erklären: »Wir wollen die Gefäße so hoch wie möglich freilegen, sie dann herunterziehen und abbinden, so daß sie sich möglichst weit von dem Stumpf zurückziehen.« Die Nadel, die die Operationsschwester gereicht hatte, fuhr herein und heraus. Lucy band die großen Gefäße zweimal ab, um sicherzugehen, daß sie gut abgedichtet waren und blieben. Jede spätere Blutung in diesem Gebiet konnte für den Patienten eine Katastrophe bedeuten. Dann streckte sie ihre Hand nach der Schere aus, nahm sie und durchtrennte die Hauptschlagader, die zum Unterteil des Gliedes führte. Der erste unwiderrufliche Schnitt der Amputation war damit geschehen.

Schnell wiederholte sie das gleiche an anderen Arterien und den Venen. Dann durchtrennte Lucy weitere Muskeln, griff herunter und legte den Nerv frei, der parallel nach unten verlief. Während ihre behandschuhten Hände prüfend darüber tasteten, regte sich Vivian plötzlich, und aller Augen richteten sich schnell auf den Narkosearzt am Kopfende des Tisches. Er nickte beruhigend. »Der Patientin geht es gut, keine Komplikationen.« Eine seiner Hände lag auf Vivians Wange. Sie war bleich, aber ihr Atem ging tief und regelmäßig. Ihre Augen standen offen, ohne etwas zu sehen. Ihr Kopf lag gerade weit zurück, nicht zur Seite geneigt, die Augenwinkel waren mit Wasser gefüllt, Tränen, die sie in der Bewußtlosigkeit geweint hatte.

»Mit dem Nerv verfahren wir in gleicherweise wie mit den Arterien und den Venen, ziehen ihn also soweit wie möglich am Oberschenkel herunter, durchtrennen ihn und lassen ihn sich zurückziehen.«

Lucy sprach fast automatisch, ihre Handbewegungen begleiteten ihre Worte und verrieten ihre Gewohnheit, zu unterrichten. Ruhig fuhr sie fort: »Zwischen Chirurgen wird immer viel über die beste Methode diskutiert, Nervenenden bei einer Amputation zu behandeln. Die Absicht ist selbstverständlich, später im Stumpf Schmerzen zu vermeiden.« Gewandt knüpfte sie einen Knoten und nickte dem Assistenten zu, der das überstehende Ende des Fadens abschnitt. »Eine ganze Reihe von Methoden sind erprobt worden - Injektion von Alkohol, Abbrennen des Nervenendes mit elektrischem Strom. Aber die Methode, die wir heute anwenden, ist immer noch die einfachste und die am häufigsten befolgte.«

Lucy sah auf die Uhr an der Wand des Operationsraumes. Sie wies auf neun Uhr fünfzehn. Fünfundvierzig Minuten waren verstrichen, seit sie angefangen hatte. Sie sah zu dem Narkosearzt.

»Noch alles in Ordnung?«

Der Narkosearzt nickte. »Könnte nicht besser sein, Lucy. Sie ist ein wirklich gesundes Mädchen.« Boshaft fragte er: »Sind Sie sicher, daß Sie der richtigen Patientin das Bein abnehmen?«

»Keine Sorge.« Lucy hatte nie etwas dafür übrig, wenn im Operationsraum über die Patienten auf dem Tisch Scherze gemacht wurden, obwohl sie manche Chirurgen kannte, die die ganze Zeit, vom ersten Einschnitt bis zur letzten Naht, witzelten. Es war alles eine Frage des Standpunktes, nahm sie an. Leichtfertigkeit war für manche vielleicht ein Mittel, tiefere Empfindungen zu verbergen. Vielleicht auch nicht. Jedenfalls zog sie es vor, das Thema zu wechseln. Während sie begann, die hinteren Muskeln des Beines zu durchschneiden, fragte sie den Narkosearzt: »Wie geht es Ihrer Familie?« Lucy unterbrach sich, um eine zweite Klemme anzusetzen, die das Gewebe von dem neuen Einschnitt zurückzog.

»Ausgezeichnet. Wir ziehen nächste Woche in ein neues Haus.«

»Wirklich? In welcher Gegend?« Zu dem Assistenten sagte sie: »Etwas höher, bitte. Versuchen Sie, es mir aus dem Weg zu halten.«

»Somersets Heights. Es ist die neue Siedlung im Norden.«

Die hinteren Beinmuskeln waren fast durchtrennt. »Ich glaube, ich habe davon gehört. Ihrer Frau wird es sicher sehr gefallen«, antwortete sie.

Jetzt war der Knochen sichtbar. Der ganze große Schnitt klaffte rot. Der Narkosearzt antwortete: »Sie ist im siebten Himmel. Kauft Teppiche, sucht Vorhänge aus und all das andere. Es gibt nur ein Problem.«

Lucys Finger griffen um den Beinknochen herum, arbeiteten nach oben, lösten die umgebenden Muskeln. Den Studenten erklärte sie: »Sie werden bemerken, daß ich die Muskeln soweit wie möglich zurückschiebe. Dann können wir den Knochen recht hoch durchtrennen, und er ist nachher vollständig von Muskeln umgeben«

Der Assistent hatte Schwierigkeiten, die Muskellappen mit den beiden Klemmen zurückzuhalten. Sie half ihm, die Stellung zu verbessern, und er murmelte: »Das nächste Mal bringe ich mir eine dritte Hand mit.«

»Säge, bitte.« Die Operationsschwester war schon bereit, legte den Griff der Knochensäge in Lucys ausgestreckte Hand. Zu dem Narkosearzt sagte Lucy: »Was ist das für ein Problem?«

Lucy setzte die Säge so hoch an, wie sie konnte, und begann mit kurzen, gleichmäßigen Strichen zu sägen. Ein dumpfes, durchdringendes, knirschendes Geräusch wurde hörbar, als die Sägezähne sich in den Knochen hineinfraßen. Der Narkosearzt antwortete: »Ich muß das alles bezahlen.«

Lucy lachte. »Wir werden Sie öfter beschäftigen müssen, mehr Operationen ansetzen.« Sie hatte den Knochen halb durchgesägt, er erwies sich zäher als andere, aber selbstverständlich waren junge Knochen von Natur aus härter. Plötzlich kam ihr der Gedanke, wie tragisch dieser Augenblick war und sie sich trotzdem ungeniert unterhielten und sogar über alltägliche Dinge scherzten. In ein oder zwei Sekunden, länger dauerte es nicht mehr, war dieses Bein abgetrennt, und ein junges Mädchen - kaum mehr als ein Kind hatte für immer einen Teil seines Lebens verloren. Nie mehr könnte sie frei laufen, unbehindert wie andere, oder tanzen oder schwimmen oder reiten oder unbefangen lieben. Schließlich würde sie wohl das eine oder andere wieder tun, vieles aber nur mühsam und mit mechanischen Hilfen. Aber nichts konnte je wieder ganz das gleiche wie früher sein. Niemals würde sie wieder so fröhlich, unbeschwert und sorglos sein wie vorher, als ihr Körper noch ganz gewesen war. Hier lag der Kern der Tragödie: sie trat zu früh ein.

Lucy hielt inne. Ihre sensiblen Fingerspitzen verrieten ihr, daß die Säge den Knochen fast durchgeschnitten hatte. Dann erfolgte unvermittelt ein knirschendes Geräusch, auf den ein scharfes Knacken folgte. Im letzten Augenblick war der letzte Teil des Knochens unter dem Gewicht des fast abgetrennten Gliedes gebrochen. Das Bein war lose und fiel auf den Tisch. Zum erstenmal hob Lucy ihre Stimme und rief: »Halten Sie es! Schnell!«