174189.fb2 Letzte Diagnose - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 49

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»Wie werden Sie vorgehen?« fragte der Praktikant.

»Ich werde unter örtlicher Betäubung einen Schnitt unmittelbar über der Nabelvene machen.« Zu der Schwester gewandt fragte Dornberger: »Ist das Blut vorgewärmt?«

Sie nickte. »Ja, Doktor.«

Dornberger erklärte dem Praktikanten: »Es ist wichtig, daß das neue Blut Körpertemperatur hat, sonst ist die Gefahr eines Schocks größer.«

Dornberger war sich bewußt, daß er mit seinen Worten sich selbst ebenso vergewissern wie den Praktikanten belehren wollte. Das Sprechen hielt ihn mindestens davon ab, zu gründlich nachzudenken, und gründlich nachdenken war etwas, das Dornberger im Augenblick vermeiden wollte. Seit er Pearson nach der Auseinandersetzung im Labor verlassen hatte, folterte ihn ein Sturm von Befürchtungen und Selbstvorwürfen. Die Tatsache, daß technisch gesehen ihn selbst kein Vorwurf für das Geschehene traf, erschien ihm nebensächlich. Es ging um seinen Patienten, der sich in Gefahr befand, es war sein Patient, der wegen einer ärztlichen Nachlässigkeit schlimmster Art sterben konnte, und die letzte Verantwortung lag allein bei ihm.

Im Begriff weiterzusprechen, hielt er plötzlich inne. Etwas stimmte nicht. Ihm schwindelte. Sein Kopf schmerzte, der Raum schwankte um ihn. Er schloß einen Augenblick die Augen, öffnete sie wieder. Alles in Ordnung. Seine Umgebung war wieder klar, das Schwindelgefühl fast verschwunden. Aber als er auf seine Hände sah, stellte er fest, daß sie zitterten. Er versuchte es zu unterdrücken. Es gelang ihm nicht.

Der Brutkasten mit dem Säugling wurde hereingerollt. Er hörte den Praktikanten fragen: »Dr. Dornberger, fehlt Ihnen etwas?«

Es lag ihm auf der Zunge, nein zu sagen. Er wußte, wenn er es tat, konnte er es durchstehen, verbergen, was in ihm vorging, ohne daß jemand anders als er selbst etwas bemerkte. Und vielleicht konnte er selbst noch zu dieser späten Stunde dank seines Könnens und Wissens dieses Kind retten, im letzten Augenblick wenigstens im gewissen Maß sein Gewissen entlasten und seine Integrität bewahren.

Aber dann fiel ihm ein, was er selbst in all den Jahren immer wieder gesagt und woran er geglaubt hatte: von den alten Männern, die sich zu lange an ihre Macht klammern, seine Behauptung, er würde wissen, wann es für ihn an der Zeit sei, zurückzutreten, seine Überzeugung, daß er nie einen Patienten behandeln würde, wenn er nicht mehr seine vollen Fähigkeiten besaß. Daran dachte er. Dann sah er wieder auf seine zitternden Hände hinunter.

»Nein«, sagte er, »ich glaube, ich bin nicht in Ordnung.« Er schwieg. Und zum erstenmal ergriff ihn ein überwältigendes Gefühl, das es ihm schwermachte, seine Stimme zu beherrschen. Er bat: »Bitte, rufen Sie Dr. O'Donnell an. Sagen Sie ihm, ich sei nicht in der Lage, die Transfusion durchzuführen, und bäte ihn, sie für mich zu übernehmen.«

In diesem Augenblick hatte Dr. Charles Dornberger es aufgegeben, Arzt zu sein, und das wußte er.

Als das Telefon klingelte, riß Pearson den Hörer von der Gabel.

»Ja?« Eine Pause. »Hier spricht Dr. Pearson. « Er hörte zu. »Gut, danke.«

Ohne den Hörer zurückzulegen, drückte er auf die Gabel, und als die Zentrale antwortete, sagte er: »Geben Sie mir Dr. Dornberger. Hier Dr. Pearson.«

Eine Stimme meldete sich kurz, dann sagte Pearson: »Also gut, dann teilen Sie ihm mit, ich hätte gerade die Nachricht von der Universitätsklinik erhalten. Der Bluttest für den Säugling Alexander ist positiv. Das Kind hat Erythroblastose.«

Pearson legte den Hörer zurück. Dann sah er auf und bemerkte, daß David Colemans Blick auf ihm ruhte.

Dr. Kent O'Donnell ging durch den Hauptgang des Krankenhauses zur Neurologie. Er hatte dort eine Konsultation verabredet, um sich über eine partielle Lähmung bei einem seiner Patienten beraten zu lassen.

Es war der erste Tag, an dem O'Donnell nach seiner Rückkehr von New York am Abend vorher wieder im Three Counties Hospital war. Er empfand noch den Auftrieb und die Anregung, die ihm diese Reise gegeben hatten. Er sagte sich, daß jeder Arzt hin und wieder eine Luftveränderung brauche. Mitunter wirkte der tägliche Umgang mit der Medizin und mit Krankheiten deprimierend, erschöpfte nach einiger Zeit die Kräfte, ohne daß man selbst es bemerkte. Und im weitesten Sinn erwies sich die Abwechslung als belebend und stärkend für seinen Verstand. In diesem Zusammenhang drängte sich ihm immer wieder unausweichlich die Frage auf, ob er seine Tätigkeit im Three Counties Hospital aufgeben und Burlington endgültig verlassen solle, und jedesmal erschienen ihm die Argumente zugunsten des Entschlusses überzeugender.

Natürlich wußte er, daß er durch seine Gefühle für Denise stark beeinflußt wurde und daß vor der letzten Begegnung mit ihr der Gedanke, Burlington zu verlassen, nie in ihm aufgetaucht war. Aber, fragte er sich, was sprach dagegen, daß ein Mann eine berufliche Entscheidung traf, die seinem persönlichen Glück entgegenkam? Sie bedeutete nicht, daß er die Medizin aufgab. Er würde lediglich den Ort seiner Arbeit wechseln und einfach an einer anderen Stelle sein Bestes geben. Schließlich bestand das Leben eines Menschen aus der Summe aller seiner Teile. Ohne Liebe, wenn er sie einmal gefunden hatte, konnte der Rest verdorren und wertlos werden. Mit Liebe konnte er ein besserer Mensch sein - fleißig und hingebungsvoll -, weil sein Leben ein geschlossenes Ganzes war. Wieder dachte er an Denise, und seine Erregung und Erwartung stiegen.

»Dr. O'Donnell, Dr. O'Donnell!« Der Klang seines Namens aus dem Lautsprecher des Krankenhauses riß ihn in die Wirklichkeit zurück. Er blieb stehen, sah sich nach einem Telefon um, um sich zu melden. Er entdeckte eins in einem durch Glaswände abgetrennten Büro, ein paar Schritte entfernt. Er meldete sich und nahm Dr. Dornbergers Mitteilung entgegen. Er folgte ihr sofort, änderte seine Richtung und ging zu den Fahrstühlen, um sich in die vierte Etage zur Entbindungsstation bringen zu lassen.

Während Kent O'Donnell sich für die Operation die Hände wusch, stand Dornberger neben ihm, schilderte ihm den Fall und erklärte ihm seine Gründe, weshalb er nach dem Chef der Chirurgie hatte rufen lassen. Dornberger dramatisierte nichts, noch hielt er irgend etwas zurück. Er beschrieb die Szene im Labor der Pathologie und die Ereignisse, die dazu geführt hatten, genau und sachlich. Nur an zwei Punkten unterbrach O'Donnell ihn, um scharfe Zwischenfragen zu stellen. Im übrigen hörte er aufmerksam zu, und sein Gesichtsausdruck wurde immer grimmiger, während Dornberger berichtete.

O'Donnells gehobene Stimmung war verflogen, plötzlich und unerwartet durch das, was er erfuhr, zerschlagen, durch die Erkenntnis, daß in seinem Krankenhaus ein Patient durch Nachlässigkeit und Unfähigkeit - für die er in einer sehr realen Weise selbst verantwortlich war - das Leben verlieren konnte. Erbittert dachte er: Ich hätte Joe Pearson entlassen können. Dafür lagen ausreichend Gründe vor. Aber nein, ich spielte und zauderte, betrieb Hauspolitik, redete mir ein, das sei vernünftig, während ich die ganze Zeit meine ärztliche Aufgabe vernachlässigte. Er nahm ein steriles Handtuch und trocknete seine Hände, schob sie dann in Handschuhe, die eine Schwester bereithielt. »Also gut«, sagte er zu Dornberger, »gehen wir hinein.«

Nachdem sie den kleinen Operationsraum betreten hatten, warf O' Donnell einen prüfenden Blick über die bereitstehenden Instrumente und Vorrichtungen. Die Technik der Austauschtransfusion war ihm vertraut. Das wußte Dornberger, und das war der Grund, daß er den Chef der Chirurgie rufen ließ, denn O'Donnell hatte gemeinsam mit den Leitern der Kinderklinik und der Entbindungsstation die Richtlinien für Austauschtransfusionen im Three Counties Hospital ausgearbeitet, wobei sie sich auf die Erfahrungen in anderen Krankenhäusern gestützt hatten.

Das winzige, gebrechliche Baby wurde aus seinem Brutkasten genommen und auf den vorgewärmten Operationstisch gelegt. Dann sicherte die assistierende Schwester mit Hilfe des Praktikanten das Kind mit Windeln, die zu schmalen langen Streifen gefaltet um die Arme und Beine des Säuglings geschlungen und mit Sicherheitsnadeln an der Auflage des Tisches festgesteckt wurden. O'Donnell fiel auf, daß das Kind sehr ruhig lag, nur ganz schwach auf das, was mit ihm geschah, reagierte. Das war bei seinem Zustand und seiner Winzigkeit kein ermutigendes Zeichen.

Die Schwester entfaltete ein steriles Tuch und legte es über den Säugling. Nur Kopf und Nabel, an dem die Stelle, wo bei der Geburt die Nabelschnur durchtrennt worden war, noch heilte, ließ sie unbedeckt. Die örtliche Betäubung war bereits erfolgt. Nun reichte das Mädchen O'Donnell eine Pinzette. Er nahm sie, hob damit den Gazetupfer ab und begann, die Operationsstelle vorzubereiten. Der Praktikant hatte eine Notiztafel und einen Bleistift aufgenommen. O'Donnell fragte ihn: »Schreiben Sie mit?«

»Ja, Sir.«

O'Donnell bemerkte den respektvollen Ton, und unter anderen Umständen hätte er innerlich darüber gelächelt. Praktikanten und Assistenten, die zum festen Stab des Krankenhauses gehörten, waren eine notorisch respektlose Bande. Sie fanden Schwächen bei den älteren Ärzten des Krankenhauses schnell heraus, und von einem von ihnen mit »Sir« angeredet zu werden, kam fast einem Ritterschlag gleich.

Ein paar Minuten vorher waren zwei Lernschwestern in das Zimmer geglitten, und O'Donnell, der es gewöhnt war zu unterrichten, erklärte ihnen seine Handlungen.

»Eine Austauschtransfusion ist, wie Sie wahrscheinlich wissen« - O'Donnell sah die beiden Lernschwestern an -, »tatsächlich eine Durchspülung. Wir entnehmen zunächst dem Kind eine kleine Menge Blut und ersetzen es sofort durch die gleiche Menge Spenderblut. Dann wiederholen wir das gleiche und fahren so lange damit fort, bis der größte Teil des ursprünglichen kranken Blutes entfernt und ersetzt ist.«

Die assistierende Schwester befestigte ene Halbliterflasche mit Blut an einem Ständer über dem Tisch. O'Donnell erklärte: »Die Blutbank hat bereits das Blut des Patienten mit dem des Spenders verglichen, um sicherzugehen, daß beide die gleiche Blutgruppe haben. Ferner müssen wir auch sicher sein, daß wir genau die gleiche Blutmenge ersetzen, die wir entfernen. Aus diesem Grunde schreiben wir mit.« Er deutete auf die Notiztafel des Praktikanten.

»Temperatur 35,5«, verkündete die assistierende Schwester.

O'Donnell sagte: »Skalpell, bitte«, und streckte die Hand aus.

Behutsam entfernte er mit dem Messer den getrockneten Teil der Nabelvene und legte das frische Gewebe bloß. Er reichte das Messer zurück und sagte leise: »Haemostat.«

Der Praktikant reckte beobachtend den Kopf vor. O' Donnell erklärte: »Wir haben die Nabelvene freigelegt. Ich werde sie jetzt öffnen und das Blutgerinnsel entfernen.« Er streckte die Hand aus, und die Schwester reichte ihm eine Pinzette. Das Blutgerinnsel war winzig, kaum sichtbar, und er zog es behutsam und vorsichtig heraus. Ein so kleines Kind zu behandeln war, als ob man an einer Puppe arbeitete. Wie groß sind die Chancen für einen Erfolg? fragte sich O'Donnell. Welche Aussichten bestanden für das Überleben des Kindes? Ursprünglich mochten sie durchschnittlich, vielleicht sogar gut gewesen sein, aber jetzt, nach tagelanger Verzögerung, waren die Hoffnungen auf Erfolg erheblich geringer. Er blickte auf das Gesicht des Kindes. Seltsamerweise war es kein häßliches Gesicht, wie die Gesichter von Frühgeburten es oft sind. Es war sogar fast hübsch. Eine kräftige Kieferlinie deutete auf eine ihm innewohnende Stärke hin. Einen Augenblick ließ er, ganz gegen seine Natur, seine Gedanken abschweifen. Wie schändlich war das doch, geboren zu werden und einer so feindseligen Umgebung gegenüberzustehen.

Die assistierende Schwester hielt ein Kunststoffkatheter, an das eine Nadel befestigt war, bereit. Dadurch wurde das Blut entnommen und wieder ersetzt. O'Donnell nahm das Katheter und führte die Nadel mit äußerster Behutsamkeit in die Nabelvene ein. Er sagte: »Prüfen Sie den venösen Druck, bitte.«

Während er das Katheter senkrecht hielt, maß die Schwester mit einem Zentimetermaß die Höhe der Blutsäule. Sie verkündete: »Sechzig Millimeter.« Der Praktikant notierte es.

Ein zweiter Kunststoffschlauch führte zu der Flasche mit Blut über ihnen, ein dritter zu einem der zwei Metallbecken am Fußende des Operationstisches. O'Donnell schloß die drei Schläuche an einen Dreiwegehahn an, der an einer Zwanzig-Kubikzentimeter-Spritze angebracht war. Er drehte den Hahn um neunzig Grad. »Jetzt fangen wir an, das Blut abzunehmen«, erklärte er. Behutsam begann er, den Kolben der Spritze herauszuziehen. Dies war der kritische Augenblick bei einer Austauschtransfusion. Wenn das Blut nicht glatt floß, mußte das Katheter zurückgezogen und von neuem in die Vene eingeführt werden. O'Donnell bemerkte, daß Dornberger sich hinter ihm vorbeugte. Dann begann glatt und gleichmäßig das Blut zu fließen, füllte den Hohlraum des Katheters und trat in die Spritze ein.

O'Donnell erklärte: »Sie werden bemerken, daß ich das Blut sehr langsam und vorsichtig entnehme. In diesem Falle werden wir auch immer nur eine sehr kleine Menge entnehmen, weil es ein besonders kleiner Säugling ist. Normalerweise kann man einem voll ausgetragenen Kind zwanzig Kubikzentimeter auf einmal abnehmen, aber in diesem Fall beschränke ich mich auf zehn, um zu große Schwankungen des venösen Drucks zu vermeiden.«

Der Praktikant notierte auf seinem Blatt >10 ccm aus<.

O'Donnell stellte den Hahn an der Spritze um und drückte dann den Kolben hinein, wodurch das dem Kind entzogene Blut in eines der Metallbecken abfloß.

Wieder stellte er den Hahn um, zog Spenderblut in die Spritze ein und injizierte es dann langsam und vorsichtig in das Kind.

Auf seinem Blatt notierte der Praktikant: >10 ccm ein.<

Mit peinlicher Sorgfalt fuhr O'Donnell fort. Jede Entnahme und Zufuhr wurde langsam und sorgfältig vollzogen, nahm ganze fünf Minuten in Anspruch. Er war versucht, sich zu beeilen, besonders in einem kritischen Fall wie dem vorliegenden. Aber O'Donnell wußte genau, daß er sich vor Eile hüten mußte. Der kleine Körper auf dem Tisch besaß nur noch geringe Widerstandskraft. Der geringste Schock mußte sofort tödlich wirken.

Dann, fünfundzwanzig Minuten, nachdem sie begonnen hatten, rührte sich das Baby und schrie. Es war ein dünner, unendlich schwacher Schrei, ein ohnmächtiger, kraftloser Protest, der schon im gleichen Moment endete, als er begann. Aber es war ein Lebenszeichen, und über den Masken stand in den Augen der im Raum Anwesenden ein Lächeln. Irgendwie schien die Hoffnung um eine Spur gewachsen.

O'Donnell wußte zu gut Bescheid, um voreilige Schlüsse zu ziehen. Trotzdem sagte er über die Schulter zu Dornberger: »Klingt, als ob er sich über uns ärgert. Das kann ein gutes Zeichen sein.«

Auch Dornberger hatte reagiert. Er beugte sich vor, um auf das Notizblatt des Praktikanten zu sehen, und regte dann vorsichtig an, bewußt, daß er selbst nicht die Leitung in Händen hatte: »Ein bißchen Kalziumgluconat, was meinen Sie?«

»Ja.« O'Donnell löste die Spritze von dem Hahn und brachte eine Zehn-Kubikzentimeter-Spritze an, die die Schwester ihm gereicht hatte. Er injizierte einen Kubikzentimeter, reichte die Spritze wieder zurück. Die Schwester tauschte sie gegen die ursprüngliche Spritze aus, die sie inzwischen in dem zweiten Metallbecken gespült hatte.

O'Donnell war sich bewußt, daß die Spannung in dem Raum nachließ. Er begann sich zu fragen, ob das Kind es nach allem doch überstehen würde. Er hatte Merkwürdiges erlebt, schon vor langem erfahren, daß nichts unmöglich war, daß man in der Medizin das Unfaßliche ebenso oft auf seiner Seite wie gegen sich hatte.

»Gut, machen wir weiter.«

Er entnahm zehn Kubikzentimeter, ersetzte sie, entnahm weitere zehn und ersetzte sie. Wieder zehn heraus und hinein, und wieder.