174189.fb2
Er sagte schnell: »Prüfen Sie den venösen Druck.«
Er stand auf 35 - viel zu niedrig.
»Die Atmung ist schlecht«, sagte der Praktikant, »seine Farbe ist auch nicht gut.«
O'Donnell befahl: »Prüfen Sie den Puls.« Zu der Schwester sagte er: »Sauerstoff.«
Sie griff nach einer Gummimaske und hielt sie über das Gesicht des Säuglings. Einen Augenblick später erklang das Zischen des ausströmenden Sauerstoffs.
»Der Puls ist sehr schwach«, sagte der Praktikant.
Die Schwester: »Die Temperatur ist auf 33,9 gefallen.«
Der Praktikant horchte den Säugling mit dem Stethoskop ab. Er sah auf: »Die Atmung wird schwächer.« Dann einen Augenblick später: »Sie hat ausgesetzt.«
O'Donnell nahm das Stethoskop, hörte selbst. Er konnte einen Herzschlag vernehmen, aber er war sehr schwach. Scharf befahl er: »Coramin, ein Kubikzentimeter.«
Während der Praktikant sich von dem Tisch abwandte, zog O'Donnell das bedeckende Laken zurück und begann mit künstlicher Atmung. Einen Augenblick später war der Praktikant zurück. Er hatte keine Zeit verloren. In seiner Hand hielt er eine Spritze bereit.
»Direkt ins Herz«, befahl O'Donnell, »das ist die einzige Chance.«
In der Pathologie begann Dr. David Coleman, ruhelos zu werden. Er war dort geblieben, hatte seit dem Anruf, der das Ergebnis des Bluttests mitteilte, mit Pearson gewartet. Gemeinsam hatten sie einige pathologische Befunde aufgearbeitet, die sich angesammelt hatten, aber die Arbeit war nur langsam vorwärtsgegangen. Beide Männer wußten, daß ihre Gedanken woanders waren. Nun war fast eine Stunde vergangen, und sie hatten noch nichts gehört.
Vor fünfzehn Minuten war Coleman aufgestanden und hatte überlegend gesagt: »Vielleicht sollte ich nachsehen, ob im Labor etwas vorliegt.«
Der alte Mann hatte mit Hundeaugen zu ihm aufgesehen und fast flehend gebeten: »Wollen Sie nicht lieber bleiben?«
Überrascht hatte Coleman geantwortet: »Gewiß, wenn Sie wünschen?« Und dann hatten sie sich wieder an die Aufgabe gemacht, die Zeit auszufüllen.
Auch David Coleman fiel das Warten schwer. Ihm war bewußt, daß seine Nerven fast so angespannt wie die Pearsons waren, wenn der alte Mann in diesem Augenblick seine Ängstlichkeit auch deutlicher zeigte. Jetzt erst erkannte Coleman, in welchem Maß er selbst an diesem Fall inneren Anteil nahm. Die Tatsache, daß er in der Frage des Bluttests recht behalten und Pearson sich geirrt hatte, gab ihm keine Befriedigung. Alles, was er jetzt um Alexander und seiner Frau willen inbrünstig wünschte, war, daß ihr Kind am Leben blieb. Die Kraft seiner eigenen Gefühle überraschte ihn. Es war ungewöhnlich, daß ihn irgend etwas so tief ergriff. Allerdings hatte er John Alexander von Anfang an gut leiden können, und als er später seine Frau kennenlernte und erfuhr, daß sie alle drei aus der gleichen kleinen Stadt stammten, schien eine Art von Zugehörigkeit entstanden zu sein, die unausgesprochen blieb, aber echt war.
Die Zeit verstrich langsam. Jede Minute des Wartens schien länger zu dauern als die vorherige. Er versuchte, an ein Problem zu denken, um seine Gedanken abzulenken. Das half immer, wenn er Zeit totschlagen mußte. Er entschloß sich, sich auf einige der Aspekte des Falles Alexander zu konzentrieren. Die Tatsache, daß das Ergebnis des Coombs-Tests mit dem Blut des Säuglings positiv ausfiel, bedeutet: auch die Mutter hat Rh-sensibilisiertes Blut. Er überlegte, wie das eingetreten sein konnte.
Die Mutter, Elizabeth Alexander, konnte natürlich während ihrer ersten Schwangerschaft sensibilisiert worden sein. David Coleman überlegte. Das brauchte das erste Kind nicht beeinflußt zu haben. Das war das Kind, das an - was hatte sie doch noch gesagt? ah ja, Bronchitis gestorben war. Es kam viel häufiger vor, daß sich die Rh-Sensibilisierung erst während einer zweiten Schwangerschaft auswirkte.
Eine andere Möglichkeit war natürlich, daß Elizabeth einmal bei einer Gelegenheit eine Transfusion mit Rh-positivem Blut empfangen hatte. Er hielt inne. In seinem Kopf regte sich nagend, aber noch unklar, ein Gedanke, das unbehagliche Gefühl, daß er dicht vor etwas stand, was er noch nicht ganz erkannt hatte. Er runzelte die Stirn und konzentrierte sich. Dann wurde das Bild plötzlich klar. Das, wonach er getastet hatte, lag vor ihm, deutlich und scharf erkennbar. Sein Verstand registrierte: Transfusion. Der Unfall in New Richmond, die Eisenbahnkreuzung, an der Elizabeths Vater getötet, sie selbst schwer verletzt worden, aber am Leben geblieben war.
Wieder konzentrierte Coleman sich. Er versuchte sich zu erinnern, was John Alexander an jenem Tag über Elizabeth gesagt hatte. Er hörte die Worte wieder: »Elizabeth starb beinahe. Aber sie gaben ihr Bluttransfusionen, und sie kam durch. Ich glaube, das war das erstemal, daß ich je in einem Krankenhaus war. Ich habe dort fast eine Woche gelebt.«
Er würde es natürlich nie beweisen können, nicht nach all den Jahren, aber er war bereit, alles, was er besaß, darauf zu setzen, daß folgendes geschehen war: Das Vorhandensein des Rh-Faktors wurde der Medizin erst in den vierziger Jahren bekannt. Danach dauerte es weitere zehn Jahre, bis Rh-Tests von allen Krankenhäusern und Ärzten allgemein übernommen wurden. In der Zwischenzeit wurden an vielen Orten Bluttransfusionen durchgeführt, ohne daß der Rh-Faktor überprüft wurde. In New Richmond wahrscheinlich auch. Der Zeitpunkt stimmte. Elizabeths Unfall mußte 1949 gewesen sein. Er erinnerte sich, daß sein Vater ihm später davon erzählt hatte.
Sein Vater! Ein neuer Gedanke überkam ihm: Es war sein eigener Vater - Dr. Byron Goleman -, der die Alexanders behandelt und der die Transfusionen angeordnet haben mußte, die Elizabeth Alexander erhalten hatte. Wenn sie mehrere Transfusionen erhalten hatte, stammte das Blut von mehr als einem Spender. Die Möglichkeit, daß wenigstens ein Teil des Blutes Rh-positiv war, konnte fast nicht ausgeschlossen werden. Das war also die Gelegenheit gewesen, bei der Elizabeths Blut sensibilisiert worden war. Dessen war er jetzt sicher. Damals konnte natürlich keine sichtbare Wirkung aufgetreten sein. Das heißt keine andere, außer, daß ihr eigenes Blut Antikörper entwickelte - Antikörper, die verborgen und unvermutet gelauert hatten, bis sie sich neun Jahre später gereizt, virulent und stark entwickelten, um ihr Kind zu vernichten.
Natürlich traf damit Colemans Vater kein Vorwurf, selbst wenn seine Hypothese richtig war. Er hatte ihre Behandlung im guten Glauben nach den letzten Kenntnissen der Medizin angeordnet. Richtig war, daß zu dieser Zeit der Rh-Faktor schon bekannt war und an manchen Orten der Rh-Faktor bereits ermittelt und berücksichtigt wurde. Aber von einem vielbeschäftigten Landarzt konnte kaum erwartet werden, sich über alles Neue sofort auf dem laufenden zu halten. Oder etwa doch? Manchen Ärzten dieser Zeit - darunter auch praktischen Ärzten - war der neue Horizont bekannt, den die moderne Einteilung der Blutgruppen geöffnet hatte. Sie handelten sofort, berücksichtigten die letzten Erkenntnisse. Aber möglicherweise, überlegte Coleman, waren das jüngere Männer. Sein Vater war zu dieser Zeit schon alt. Er arbeitete zu angestrengt, um genügend Zeit zum Lesen zu finden. Aber war das eine ausreichende Entschuldigung? War es eine Entschuldigung, die er selbst - David Goleman - bei einem anderen gelten lassen würde? Oder gab es vielleicht zwei verschiedene Normen -galten nachsichtigere, weniger strenge Gesetze, wenn es darum ging, über einen Verwandten und gar den eigenen verstorbenen Vater zu urteilen? Der Gedanke beunruhigte ihn. Mit Unbehagen empfand er, daß durch seine persönliche Zuneigung einige seiner Ansichten beeinträchtigt wurden, die er am höchsten hielt. David Coleman wünschte sich, daß er nicht darüber nachgedacht hätte. Es löste nagenden Zweifel aus, daß er sich doch nicht absolut sicher war. über gar nichts mehr sicher war.
Pearson sah ihn an. Er fragte: »Wie lange dauert es schon?« Coleman blickte auf die Uhr, ehe er antwortete: »Etwas über eine Stunde.«
»Dann werde ich anrufen.« Ungeduldig griff er nach dem Telefon. Dann zögerte er und zog seine Hand wieder zurück. »Nein«, sagte er, »es ist wohl besser, ich lasse es.«
Auch John Alexander im serologischen Labor konnte die Uhr nicht aus den Augen lassen. Vor einer Stunde war er von einem Besuch bei Elizabeth zurückgekommen und hatte seither mehrere halbherzige Versuche unternommen, zu arbeiten. Aber er hatte selbst bemerkt, daß seine Gedanken immer wieder weit von seiner Arbeit abirrten, und hatte es lieber aufgegeben als zu riskieren, einen Fehler zu begehen. Jetzt griff er wieder nach einem Reagenzglas, um es noch einmal zu versuchen, aber Bannister trat zu ihm und nahm es ihm aus der Hand.
Der alte Laborant las die Anforderung und sagte freundlich: »Lassen Sie mich das nur machen, John.«
Alexander protestierte, aber Bannister bestand darauf. »Überlassen Sie es ruhig mir. Warum gehen Sie nicht zu Ihrer Frau?«
»Danke, aber ich bleibe lieber hier. Dr. Coleman sagte, sobald er etwas erfahre, wolle er herkommen und mich benachrichtigen.« Alexanders Blick wanderte wieder zur Uhr an der Wand. Mit gepreßter Stimme fügte er hinzu: »Es kann doch nicht mehr lange dauern?«
Bannister wandte sich ab. »Nein«, erwiderte er langsam, »ich glaube nicht.«
Elizabeth Alexander war allein in ihrem Krankenzimmer. Regungslos, den Kopf tief in den Kissen, die Augen geöffnet, lag sie da, als Schwester Wilding hereinkam. Elizabeth fragte: »Weiß man schon etwas?«
Die ältliche, grauhaarige Schwester schüttelte den Kopf. »Ich sage Ihnen Bescheid, sobald ich etwas erfahre.« Sie stellte das Glas Orangensaft, das sie hereingebracht hatte, neben Elizabeth und fügte hinzu: »Ich kann ein paar Minuten bei Ihnen bleiben, wenn Sie mögen.«
»Ja, bitte.« Elizabeth lächelte schwach, und die Schwester zog sich einen Stuhl an das Bett und setzte sich. Schwester Wilding war froh, daß sie eine Weile ihre Füße ausruhen konnte. Gerade in letzter Zeit schmerzten sie ihr häufig, und sie vermutete, daß ihre Füße sie wahrscheinlich zwingen würden, die Krankenpflege aufzugeben, ob sie wollte oder nicht. Nun, sie hatte das Gefühl, daß sie dazu ohnehin bald bereit war.
Schwester Wilding wünschte, daß sie etwas für die beiden jungen Leute tun könne. Sie hatte sie von Anfang an ins Herz geschlossen. Ihr kamen die beiden Alexanders fast noch wie Kinder vor. In gewisser Weise hatte sie bei der Pflege dieser jungen Frau, die jetzt allem Anschein nach ihr Baby verlor, fast das Gefühl, als pflege sie die Tochter, die sie sich vor vielen Jahren gewünscht, aber nie bekommen hatte. War das nicht geradezu albern? Nach all den Jahren als Krankenpflegerin wurde sie auf ihre alten Tage noch sentimental. Sie fragte Elizabeth: »Woran dachten Sie gerade, als ich zu Ihnen hereinkam?«
»Ich dachte an Kinder, an dicke, gesunde Kinder, die auf einem grünen Rasen in der Nachmittagssonne herumtollen.« Elizabeths Stimme klang träumerisch. »So war es in Indiana im Sommer, als ich noch Kind war. Schon damals dachte ich oft daran, daß ich eines Tages selbst Kinder haben würde und daß ich bei ihnen säße, wenn sie, genau wie ich damals, in der Sonne auf dem Gras herumtollen.«
»Es ist merkwürdig mit Kindern«, antwortete Schwester Wilding. »Manchmal kommt es so ganz anders, als man es sich denkt. Ich habe einen Sohn, wissen Sie. Er ist jetzt schon erwachsen.«
»Nein«, sagte Elizabeth, »das wußte ich nicht.«
»Verstehen Sie mich nicht falsch«, sagte die Schwester. »Er ist ein guter Junge, Offizier bei der Marine. Vor ein oder zwei Monaten hat er geheiratet. Er schrieb es mir in einem Brief.«
Elizabeth fragte sich verwundert, wie es wohl sein mochte, wenn man einen Sohn zur Welt brachte und dann später einen Brief von ihm bekam, in dem er schrieb, daß er geheiratet habe.
»Ich hatte nie das Gefühl, daß wir uns sehr gut kannten«, sagte Schwester Wilding. »Ich fürchte, in gewisser Weise war es mein Fehler - ich ließ mich scheiden und bot ihm nie ein wirkliches Heim.«
»Aber manchmal können Sie doch zu ihm fahren und ihn besuchen«, antwortete Elizabeth. »Und wahrscheinlich werden doch Enkel kommen.«
»Daran habe ich oft gedacht«, sagte Schwester Wilding. »Ich glaubte immer, es müßte eine große Freude für mich sein. Ich meine, Enkel zu haben, verstehen Sie. Irgendwo in der Nähe zu wohnen und abends hinüberzugehen und auf die Kinder aufzupassen und all das.«
»Aber können Sie das denn nicht?«
Schwester Wilding schüttelte den Kopf. »Ich habe das Gefühl, wenn ich dort hinkomme, wird es wie ein Besuch bei Fremden sein, und oft kann es auch nicht sein. Mein Sohn ist nämlich nach Hawaii versetzt worden. In der vergangenen Woche sind sie dorthin abgereist.« Mit einem Anflug trotziger Rechtfertigung fügte sie hinzu: »Er wollte mich vorher noch mit seiner Frau besuchen, aber im letzten Augenblick kam dann etwas dazwischen, und sie schafften es nicht mehr.«
Darauf herrschte Schweigen, bis Schwester Wilding sagte: »Nun, ich muß wieder an meine Arbeit.« Sie erhob sich und sagte an der Tür noch: »Trinken Sie Ihren Saft, Mrs. Alexander. Ich komme wieder und gebe Ihnen Bescheid, sobald wir etwas erfahren.«
Kent O'Donnell lief der Schweiß über das Gesicht, und die assistierende Schwester beugte sich vor, um ihm die Stirn abzuwischen. Fünf Minuten waren vergangen, seit er mit der künstlichen Atmung angefangen hatte, und der winzige Körper unter seinen Händen zeigte noch keine Reaktion. Seine Daumen lagen auf der kleinen Brust, die anderen Finger griffen zum Rücken herum. Das Kind war so klein, daß sich O'Donnells Hände überdeckten. Er mußte sehr behutsam sein, weil ein bißchen zuviel Druck die gebrechlichen Knochen wie dünne Zweige zerdrücken würde. Sanft drückte er noch einmal zu, ließ wieder locker. Der Sauerstoff zischte, versuchte den Atem zu wecken, die schwachen, winzigen Lungen ins Leben zurückzurufen und zu eigener Tätigkeit anzuspornen.
O'Donnell wünschte brennend, daß dieses Kind lebte. Ihm stand vor Augen, wenn es starb, bedeutete das, daß das Three Counties Hospital, sein Krankenhaus, in seiner wichtigsten Aufgabe versagt hatte: Selbstlos für die Kranken und die Schwachen zu sorgen. Für dieses Kind war nicht selbstlos gesorgt worden. Es hatte das Schlechteste bekommen, als es das Beste brauchte, und Pflichtvergessenheit hatte über Können gesiegt. Er entdeckte, daß er versuchte, seinen eigenen, brennenden Willen durch seine Fingerspitzen auf das kleine versagende Herz unter seinen Händen zu übertragen, sich ihm verständlich zu machen. »Du brauchtest uns, und wir haben versagt. Du erprobtest unsere Stärke, und du fandest uns schwach. Aber bitte, laß es uns noch einmal versuchen, gemeinsam. Manchmal machen wir es besser als jetzt. Verurteile uns nicht für immer, nur weil wir einmal versagten. Unwissenheit und Torheit herrschen in der Welt, und Vorurteil und Blindheit. Das haben wir dir schon gezeigt. Aber es gibt auch andere Dinge, gute, warme Dinge, für die es sich zu leben lohnt. Darum atme! Es ist so einfach und so wichtig!«
O'Donnells Hände bewegten sich, vor und zurück. drückten zusammen. lockerten sich. drückten zusammen. lockerten sich. drückten zusammen.
Weitere fünf Minuten waren vergangen, und der Praktikant setzte wieder das Stethoskop an, lauschte angestrengt. Jetzt richtete er sich auf. Sein Blick begegnete dem O'Donnells. Er schüttelte den Kopf. O'Donnell hielt inne. Er wußte, jede weitere Mühe war vergeblich.