174189.fb2 Letzte Diagnose - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 52

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»Aber es nützt dir nicht im geringsten, Vivian. Das ist nur eine alberne, dumme Idee, die du irgendwo in einem viertklassigen, sentimentalen Roman aufgelesen hast.«

»Mike, Liebling, ich liebe dich so sehr, wenn du wütend bist. Es paßt so gut zu deinem schönen, roten Haar.« Sie lächelte ihm zärtlich zu, als ihre Gedanken sich zum erstenmal von der unmittelbaren Gegenwart abwandten. »Versprich mir etwas!«

»Was?« Er war immer noch ärgerlich, seine Antwort kurz.

»Versprich mir, daß du manchmal wütend bist, wenn wir verheiratet sind - wirklich wütend -, damit wir uns streiten können und nachher die Freude haben, uns wieder zu versöhnen.«

Unwillig antwortete er: »Das ist ein genauso alberner Einfall wie der andere. Und überhaupt, was hat es für einen Sinn, von Heiraten zu reden, wenn du willst, daß ich mich von dir fernhalte?«

»Nur für eine Woche, Mike, Liebling. Gerade eine Woche, das ist alles.«

»Nein.«

»Hör mich an, Liebling.« Sie drängte. »Bitte, komm her und setz dich und hör mich an. Bitte.«

Er zögerte, kam dann widerwillig zu dem Stuhl neben dem Bett zurück. Vivian ließ ihren Kopf in die Kissen zurücksinken, das Gesicht ihm zugewandt. Sie lächelte und streckte ihre Hand aus. Er nahm sie zärtlich, sein Ärger verflog. Nur ein unbestimmter, beunruhigender Zweifel blieb.

Es war der vierte Tag, nachdem Vivian nach der Operation in ihr Zimmer zurückgebracht worden war. Der Stumpf an ihrem Oberschenkel verheilte gut. Sie hatte immer noch lokale Schmerzen und die unvermeidliche Druckempfindlichkeit. Aber das große, überwältigende Leiden der ersten zwei Tage der Genesung hatte aufgehört, und gestern hatte Dr. Grainger mit Vivians Wissen und Zustimmung die zuerst verordneten Injektionen abgesetzt, durch die die Schmerzen während der schlimmsten, jetzt überwundenen Zeit gemildert worden waren. Nur eines fand Vivian entsetzlich - etwas Überraschendes, womit sie nicht gerechnet hatte. Der Fuß an ihrem amputierten Bein - ein Fuß, den sie nicht mehr besaß juckte häufig mit bösartiger, immer wieder auftretender Heftigkeit. Es war eine Qual, ihn nicht kratzen zu können. Als das Jucken zum erstenmal auftrat, hatte sie mit ihrem rechten Fuß nach der Sohle des anderen getastet. Dann hatte sie eine Zeitlang erleichtert geglaubt, die Amputation sei doch nicht vorgenommen worden. Erst als Dr. Grainger ihr versicherte, daß die Erscheinung völlig normal sei und bei den meisten Patienten auftrete, die ein Glied verloren hatten, wurde ihr klar, daß ihre Hoffnung eine Illusion gewesen war. Dessenungeachtet war es ein unerfreuliches Gefühl, und Vivian hoffte, daß es bald verschwinden würde.

Auch psychologisch schien ihre Genesung gute Fortschritte zu machen. Von dem Augenblick an, als Vivian am Tag vor der Operation mit der schlichten Tapferkeit, die Mike Seddons so tief beeindruckte, sich mit dem Unausweichlichen abfand, hatte ihre Gemütsverfassung sich nicht verändert und sie aufrecht gehalten. Noch gab es Augenblicke der Finsternis und Verzweiflung. Sie kamen über sie, wenn sie allein war, und zweimal, als sie in der Nacht erwachte, das Krankenhaus um sie herum still und unheimlich, hatte sie still um das geweint, was sie verloren hatte. Aber meistens verbannte sie deprimierte Stimmungen, und die ihr innewohnende Kraft half ihr, sie zu überwinden.

Lucy Grainger hatte das beobachtet und war dankbar dafür. Es erleichterte ihr die Aufgabe, den Heilungsprozeß zu überwachen. Nichtsdestoweniger wußte Lucy, daß Vivian die wirkliche Probe für ihre Gefühle und ihre Haltung erst noch bestehen mußte. Sie würde kommen, wenn der erste Schock überwunden war, wenn sie Zeit gehabt hatte, die wirkliche Bedeutung des Eingriffs nach und nach zu erfassen, und wenn seine Auswirkungen auf ihre Zukunft näher und deutlicher vor ihr standen. Vielleicht kam dieser Augenblick erst in sechs Monaten oder sogar erst in einem Jahr. Aber früher oder später mußte er kommen, und Lucy wußte, daß Vivian dann eine tiefe, finstere Verzweiflung durchstehen mußte, um für später eine feste Haltung zu gewinnen, welcher Art sie auch sein würde.

Aber das lag in der Zukunft. Im Augenblick erschien ihr die Prognose für die nächste Zeit recht günstig.

Lucy wußte natürlich - und sie war sich bewußt, daß es auch Vivian bekannt war -, bei einem Osteosarkom, das Dr. Pearson diagnostiziert hatte, bestand die Möglichkeit, daß sich schon vor der Amputation Metastasen gebildet und mit heimtückischer Bösartigkeit in Vivians Körper verbreitet hatten. In diesem Fall konnte das Three Counties Hospital und die Medizin überhaupt für Vivian kaum mehr tun, als vorübergehend ihre Leiden zu lindern. Aber ob das zutraf oder nicht, mußte sich später herausstellen. Für den Patienten schien es im Augenblick das beste und klügste, anzunehmen, daß Vivian als gesund entlassen werden konnte, und ihr zu helfen, sich aktiv auf ihr zukünftiges Leben einzustellen.

Auch heute war die fortschreitende Genesung an Vivians äußerer Erscheinung sofort zu erkennen. Zum erstenmal nach der Operation hatte sie Makeup aufgelegt und damit Farbe in ihr Gesicht gebracht. Am Morgen war ihre Mutter bei ihr gewesen und hatte ihr beim Frisieren geholfen. Sie trug jetzt das gleiche Nachthemd, das Mike bei einem früheren Besuch in Versuchung geführt hatte, und ein großer Teil ihrer jugendlichen Lieblichkeit war zurückgekehrt.

Als Mike jetzt ihre Hand nahm, sagte sie: »Verstehst du denn nicht, Liebling? Ich will sicher sein. Um meiner selbst willen ebensosehr wie um deinetwillen.«

»Wessen willst du sicher sein?« Auf Mikes Gesicht standen zwei hochrote Flecken.

Leise und fest antwortete sie: »Ich will sicher sein, daß du mich wirklich liebst.«

»Natürlich liebe ich dich.« Heftig fuhr er fort: »Erkläre ich dir das nicht seit einer halben Stunde? Habe ich dir nicht gesagt, ich will, daß wir heiraten? Wie wir es beschlossen haben« - er zögerte -, »ehe das geschah? Selbst deine Mutter und dein Vater sind dafür. Sie haben mich akzeptiert. Warum kannst du es nicht?«

»Aber Mike, ich akzeptiere dich doch. Dankbar und froh. Aber was auch zwischen uns geschieht, ich glaube nicht, daß jemals etwas zwischen uns wieder ganz so sein kann, wie es war. Wenigstens« - einen Augenblick schwankte ihre Stimme -»nicht für mich.«

»Warum denn. «

Sie bat: »Bitte, Mike, höre mich zu Ende an. Du hast es versprochen.«

Ungeduldig antwortete er: »Also weiter.«

»Du kannst sagen, was du willst, Mike, ich bin nicht die gleiche, die du kennengelernt hast, als wir uns das erstemal sahen. Ich kann es nie wieder sein.« Leise und eindringlich fuhr sie fort: »Deswegen muß ich sicher sein. Sicher, daß du mich liebst, so, wie ich bin, nicht so, wie ich war. Verstehst du denn nicht, Liebling? Wenn wir den Rest unseres Lebens gemeinsam verbringen wollen, könnte ich den Gedanken nicht ertragen -auch später nicht, niemals -, daß du mich aus. Mitleid geheiratet hast. Unterbrich mich nicht, hör mir nur zu. Ich weiß, daß du das nicht für wahr hältst, und vielleicht ist es das auch nicht. Ich hoffe es jedenfalls von ganzem Herzen. Aber, Mike, du bist freundlich und gut und großmütig, und du könntest es tun, gerade aus diesem Grunde, ohne es dir selbst zuzugeben.«

Er entgegnete ärgerlich: »Willst du damit sagen, daß ich meine Gefühle nicht kenne?«

Vivian antwortete leise: »Wer von uns kennt sie wirklich?«

»Ich kenne meine.« Er nahm zärtlich ihre Hand, sein Gesicht war dicht vor dem ihren. »Ich weiß, daß ich dich liebe. Ganz oder geteilt, gestern, heute oder morgen. Und ich weiß, daß ich dich heiraten will, ganz bestimmt nicht aus Mitleid, ohne einen Tag länger warten zu wollen, als wir müssen.«

»Dann tue mir diesen einen Gefallen, weil du mich liebst. Verlasse mich jetzt, obwohl du hier im Krankenhaus bist, komme eine Woche lang nicht wieder - ganze sieben Tage.« Vivian sah ihn fest an. Ruhig fuhr sie fort: »In dieser Zeit überlege dir alles. Denke an mich und daran, wie unser Zusammenleben sein würde, wie es für dich sein würde, mit einem Krüppel zusammenzuleben. An die Dinge, die wir nicht gemeinsam haben können, und an die, die wir gemeinsam tragen müssen. An unsere Kinder, wie sie es beeinflussen wird, und damit auch dich. Denke an alles, Mike, an alles, was es gibt. Wenn du das getan hast, dann komme wieder und sage mir, zu welchem Ergebnis du gekommen bist. Und wenn du dann deiner immer noch sicher bist, verspreche ich dir, daß ich dich nie mehr fragen werde. Es sind nur sieben Tage, Liebling. Sieben Tage aus unserem Leben. Das ist nicht sehr viel.«

»Du bist verdammt bockbeinig«, antwortete er.

»Ich weiß.« Sie lächelte. »Du bist also einverstanden?«

»Mit vier Tagen. Keinen mehr.«

Vivian schüttelte den Kopf »Sechs. Keinen weniger.«

»Sagen wir fünf«, sagte er, »und wir sind einig.«

Sie zögerte, und Mike erklärte: »Das ist mein letztes Angebot.«

Vivian lachte. Es war das erstemal. »Also gut, fünf Tage von jetzt an.«

»Keineswegs von jetzt an«, antwortete Mike. »In zehn Minuten vielleicht. Erst brauche ich noch eine Rücklage. Für einen jungen Burschen mit meinem heißen Blut sind fünf Tage eine lange Zeit.«

Er zog den Stuhl näher an das Bett und streckte die Arme nach ihr aus. Es war ein langer Kuß, in dem sich Leidenschaft und Zärtlichkeit abwechselten.

Als er ein Ende gefunden hatte, zog Vivian eine Grimasse und schob ihn zurück. Sie seufzte und schob sich in eine andere Lage.

Mike fragte besorgt: »Fehlt dir etwas?«

Vivian schüttelte den Kopf. »Nein, es ist nichts.« Dann fragte sie: »Mike, wo haben sie mein Bein? Das verlorene, meine ich.«

Er war überrascht. Dann sagte er: »In der Pathologie. In einem Kühlschrank vermutlich.«

Vivian holte tief Atem, ließ die Luft dann langsam wieder aus.

»Mike, Liebling«, bat sie, »gehe bitte hinunter und kratze den Fuß.«

Das Sitzungszimmer des Krankenhauses war überfüllt. Die Nachricht von der dringenden Sondersitzung hatte sich schnell in dem Krankenhaus verbreitet, und die Ärzte, die an diesem Tage im Three Counties Hospital nicht anwesend waren, hatte man in ihren Sprechstunden in der Stadt oder zu Hause benachrichtigt. Gerüchte über Joe Pearsons Versagen und sein bevorstehendes Ausscheiden hatten sich ebenso schnell herumgesprochen und waren das Thema einer aufgeregten Diskussion, die abbrach, als Pearson mit dem Verwaltungsdirektor und David Coleman eintrat.

Kent O'Donnell hatte schon den Platz am Kopf des langen Nußbaumtisches eingenommen. Gil Bartletts Bart wippte lebhaft auf und ab, während er sich mit Roger Hilton, dem jungen Chirurgen, der vor einigen Wochen in das Three Counties Hospital eingetreten war, unterhielt. John McEwan, der Hals-, Nasen- und Ohrenspezialist, war in eine erhitzte Debatte mit Dingdong Bell und dem dicken Lewis Toynbee, dem Internisten, verbissen. Bill Rufus, den seine grelle gelb und grüne Krawatte aus der Menge heraushob, setzte sich gerade in der zweiten Reihe auf einen Stuhl. Unmittelbar vor ihm stand noch Dr. Harvey Chandler, der Leiter der inneren Abteilung, und studierte ein Blatt mit Notizen. Es waren auch verschiedene Assistenzärzte anwesend. Unter ihnen bemerkte O'Donnell McNeil von der Pathologie. Neben dem Verwaltungsdirektor saß Mrs. Straughan, die Küchenleiterin, die an der Sitzung auf ausdrückliche Aufforderung teilnahm. In ihrer Nähe saß Ernie Reubens, der anscheinend belustigt den wabbelnden, umfangreichen Busen der Küchenleiterin beobachtete. Nicht anwesend war die vertraute Erscheinung Charlie Dornbergers, der seine Absicht, sofort in den Ruhestand zu treten, bereits bekanntgegeben hatte.

Als O'Donnell zur Tür blickte, sah er Lucy Grainger, die gerade hereinkam. Sie begegnete seinem Blick und lächelte leicht. Lucys Anblick erinnerte ihn an die Entscheidung über seine persönliche Zukunft, die ihm noch bevorstand, wenn das, was jetzt vorlag, geklärt und geregelt war. Dann fiel ihm plötzlich auf, daß er seit heute vormittag nicht einmal an Denise gedacht hatte. Die Arbeit im Krankenhaus hatte keinen Gedanken an sie aufkommen lassen, und er wußte, daß es ihm jedenfalls in den nächsten beiden Tagen ebenso gehen würde. O'Donnell fragte sich, wie Denise sich verhalten würde, wenn sie den zweiten Platz hinter der Medizin einnehmen müsse. Würde sie Verständnis zeigen? So verständig sein wie Lucy etwa? So flüchtig der Gedanke auch war, es wurde ihm dabei unbehaglich, als ob er durch diesen Vergleich einen Verrat begehe. Im Augenblick zog er es vor, an die unmittelbar vorliegenden Dinge zu denken. Es war Zeit, die Sitzung zu eröffnen.

O'Donnell klopfte, um Ruhe zu gebieten, wartete geduldig, bis alle Gespräche verstummt und diejenigen, die noch standen, ihre Sitze eingenommen hatten. Mit ruhiger Stimme begann er: »Meine Damen und Herren! Ich glaube, allen von uns ist bekannt, daß Epidemien in Krankenhäusern nichts Seltenes sind und tatsächlich weit häufiger auftreten, als der größte Teil der Öffentlichkeit vermutet. In gewisser Weise kann man wohl sagen, daß Epidemien zu den ständigen Gefährdungen unseres Daseins gehören. Wenn man berücksichtigt, wie viele Krankheiten wir in diesen Mauern behandeln, ist es eigentlich überraschend, daß sie nicht häufiger auftreten.« Alle Augen im Raum waren auf ihn gerichtet. Er schwieg einen Augenblick und fuhr dann fort: »Ich habe nicht die Absicht, das, was geschehen ist, zu bagatellisieren, aber ich möchte, daß wir uns den Sinn für Proportionen erhalten. Dr. Chandler, vielleicht sind Sie so freundlich, uns über die Lage zu informieren.«

Während O'Donnell sich setzte, erhob sich der Leiter der inneren Abteilung von seinem Platz.

»Lassen Sie mich mit einer Zusammenfassung beginnen.« Harvey Chandler hielt sein Notizblatt in der Hand, und sein Blick schweifte theatralisch durch den Raum. Das macht Harvey Spaß, dachte O'Donnell, aber er sieht sich ja immer gern im Mittelpunkt. Der Häuptling der inneren Medizin fuhr fort: »Das Bild zeigt bisher zwei eindeutige Typhusfälle und vier Fälle mit Typhusverdacht. Alle Erkrankten sind Angestellte des Krankenhauses, und wir können uns glücklich schätzen, daß keine Patienten davon betroffen sind - jedenfalls noch nicht. Auf Grund der Zahl der Fälle ist Ihnen zweifellos so offensichtlich wie mir, daß wir irgendwo in dem Krankenhaus einen Typhusträger haben müssen. Nun darf ich sagen, daß ich ebenso schockiert bin, wie es jeder sein muß, als ich erfuhr, daß Untersuchungen des Küchenpersonals nicht mehr durchgeführt wurden, seit.«

Bei der Erwähnung des Küchenpersonals war O'Donnell aufgefahren. Jetzt unterbrach er so ruhig und höflich wie er konnte: »Entschuldigen Sie, Doktor.«