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»Sind Sie ganz sicher?« Pearson musterte ihn scharf.

Bannister errötete. Dann sagte er: »Auf jeden Fall hundertfünfzig.«

»Dann bestellen Sie noch dreihundertundfünfzig. Rufen Sie die Lieferfirma an, und sagen Sie denen, daß wir sie heute noch haben müssen. Auf jeden Fall! Sagen Sie auch gleich, daß der Papierkram nachkommt.« Pearson fuhr fort: »Wenn Sie das getan haben, fangen Sie damit an, die Gläser in Gruppen von je zehn vorzubereiten. Überprüfen Sie die Zuckerbestände. Vergessen Sie nicht, wir brauchen Glukose, Laktose, Dulcitol, Sucrose, Mannitol, Maltose, Xylose, Arabinose, Rhamnose und ein Glas für Indol-Bildung.«

Pearson hatte die verschiedenen Zuckersorten ohne zu zögern heruntergerasselt. Mit dem Anflug eines Lächelns sagte er zu Bannister: »Sie finden die Liste und die Tabelle für die Reaktionen von Salmonella typhi auf Seite Sechsundsechzig des Laboratoriumshandbuches. Und nun an die Arbeit.«

Hastig schlurfte Bannister zum Telefon.

Pearson wendete sich an David Coleman und fragte: »Habe ich irgend etwas vergessen?«

Coleman schüttelte den Kopf. Die Art, wie der alte Mann sich der Situation gewachsen zeigte, und seine Schnelligkeit und seine Gründlichkeit hatten Coleman überrascht und beeindruckt. »Nein«, antwortete er, »nicht daß ich wüßte.«

Einen Augenblick sah Pearson den jüngeren Mann an, ehe er sagte: »Dann lassen Sie uns Kaffee trinken gehen. Es ist für ein paar Tage vielleicht die letzte Möglichkeit.«

Nachdem Mike Seddons Vivian verlassen hatte, überfiel es sie, wie groß die Lücke war, die er hinterließ, und wie lang sich die nächsten Tage ohne ihn dahinziehen würden. Sie glaubte jedoch, es sei richtig gewesen, von Mike zu verlangen, sich für ein paar Tage von ihr fernzuhalten. Das gab ihnen beiden die Möglichkeit, sich zu beruhigen und klar über die Zukunft nachzudenken. Nicht, daß Vivian selbst Zeit zum Nachdenken brauchte. Sie war sich ihrer Gefühle völlig sicher, aber so war es Mike gegenüber fairer, oder etwa nicht? Zum erstenmal kam ihr der Gedanke, daß sie durch ihr Verhalten von Mike vielleicht verlangte, er solle seine Liebe für sie beweisen, während er ihre ohne zu fragen als selbstverständlich hinnahm.

Aber das war nicht ihre Absicht gewesen. Vivian fragte sich unbehaglich, ob Mike es so aufgefaßt habe, ob sie ihm mißtrauisch und nicht bereit erschienen sei, seine Zuneigung auf sein Wort hin zu glauben. Anscheinend hatte er es nicht getan -das stimmte. Aber wenn er darüber nachdachte, wie sie selbst jetzt, konnte er auf diesen Gedanken kommen. Sie überlegte, ob sie ihn anrufen oder ihm einen Brief schreiben solle, um ihm zu erklären, was sie wirklich beabsichtigte - festzustellen, ob sie sich ihrer selbst sicher sei. War sie sich wirklich absolut sicher? Auch jetzt? Manchmal war es schwer, klar zu denken. Man begann etwas, was man für richtig hielt, dann begann man sich zu fragen, ob ein anderer es nicht falsch verstehe, nach einem Hintersinn suche, an den man selbst nicht gedacht hatte. Wie konnte man tatsächlich sicher sein, was das beste war, bei allem. überall. immer.?

Es klopfte leicht an die Tür, und Mrs. Loburton trat ein. Als Vivian sie sah, vergaß sie plötzlich, daß sie schon neunzehn war, erwachsen, in der Lage, für sich selbst zu entscheiden. Sie streckte ihre Arme aus. »Oh, Mutter«, seufzte sie, »ich weiß nicht, was ich tun soll.«

Die Untersuchung des Küchenpersonals war in vollem Gang. In einem kleinen Sprechzimmer - dem ersten einer Reihe gleichartiger Räume in der Abteilung für ambulante Patienten -beendete Dr. Harvey Chandler die Untersuchung eines der Köche. »Gut«, sagte er, »Sie können sich anziehen.«

Zunächst war sich der Chef der inneren Abteilung nicht sicher gewesen, ob es mit seiner Würde vereinbar sei, selbst einige der Untersuchungen vorzunehmen. Aber schließlich hatte er sich dazu entschlossen. Sein Auftreten glich etwa dem eines Truppenkommandeurs, der sich moralisch verpflichtet fühlt, sich bei einer Landungsoperation an die Spitze seiner Soldaten zu stellen.

Dr. Chandler war geneigt, Dr. O'Donnell und Dr. Pearson ihre bisher führende Rolle zu verübeln. Gewiß, Dr. O'Donnell war Präsident des medizinischen Ausschusses und berechtigt, sich um das Gesamtwohl des Krankenhauses zu kümmern. Trotzdem, argumentierte Chandler, O'Donnell war nicht mehr als ein Chirurg und Typhus selbstverständlich eine Angelegenheit der inneren Medizin. In gewisser Weise fühlte sich der Chef der inneren Abteilung um eine Starrolle in der gegenwärtigen Krise beraubt. Insgeheim sah Dr. Chandler in sich selbst manchmal den Mann des Schicksals, aber die Gelegenheiten, das zu beweisen, ergaben sich nur zu selten. Jetzt, als eine derartige Gelegenheit vorlag, war ihm, wenn auch nicht gerade eine geringfügige, so doch zumindest eine zweitrangige Rolle zugewiesen worden. Er mußte allerdings zugeben, daß die von O'Donnell und Pearson getroffenen Anweisungen sich zu bewähren schienen, und zum mindesten verfolgten sie alle gemeinsam das Ziel, diesen beklagenswerten Typhusausbruch zu bekämpfen. Mit leicht gerunzelter Stirn gab er dem Koch, der sich jetzt angezogen hatte, seine Anweisungen: »Vergessen Sie nicht, besonders sorgfältig auf Hygiene zu achten, und halten Sie unbedingte Sauberkeit bei Ihrer Arbeit in der Küche ein.«

»Ja, Doktor.«

Als der Mann hinausging, trat Kent O'Donnell ein. »Nun«, fragte er, »wie läuft alles?«

Chandler war zunächst geneigt, hochmütig zu antworten. Dann dachte er, daß dazu vielleicht doch kein Anlaß vorliege, und von dem kleinen Fehler abgesehen, daß O'Donnell nach Chandlers Meinung sich manchmal etwas zu demokratisch gab, war er als Leiter des Ausschusses ein guter Mann und zweifellos erheblich viel besser als sein Vorgänger. Deshalb antwortete er recht liebenswürdig: »Ich habe schon seit einiger Zeit vergessen, zu zählen. Ich nehme an, wir werden fertig. Aber bisher hat sich noch nichts ergeben.«

»Gibt es neue Typhuskranke?« fragte ODonnell. »Und wie steht es mit den vier Verdächtigen?«

»Es sind jetzt vier eindeutige Fälle«, antwortete Chandler, »und von den Verdächtigen können Sie zwei streichen.«

»Sind schwere Fälle darunter?«

»Ich glaube nicht. Dem Himmel sei Dank für die Antibiotika. Vor fünfzehn Jahren noch wäre die Situation sehr viel ernster gewesen.«

»Ja, zweifellos.« O'Donnell war klug genug, darauf zu verzichten, nach den Maßnahmen für die Isolierung der Erkrankten zu fragen. Bei all seiner Anmaßung konnte man sich bei Chandler immer darauf verlassen, daß er medizinisch die richtige Entscheidung traf.

»Zwei der Patienten sind Schwestern«, sagte Chandler. »Eine aus der Psychiatrie, die andere aus der Urologie. Die beiden anderen Fälle sind Männer, ein Arbeiter aus dem Generatorraum und ein Angestellter aus der Verwaltung.«

»Sie kommen also alle aus weit auseinander gelegenen Teilen des Krankenhauses«, sagte O'Donnell nachdenklich.

»Richtig. Sie haben nur einen gemeinsamen Berührungspunkt, nämlich die Krankenhausküche. Ich denke, wir sind fraglos auf der richtigen Spur.«

»Dann will ich Sie nicht länger aufhalten«, sagte O'Donnell. »Sie haben noch zwei Leute draußen warten, aber andere haben noch mehr, und wir verteilen die übrigen neu.«

»Gut«, antwortete Chandler. »Ich mache weiter, bis wir fertig sind. Es darf uns nichts aufhalten, gleichgültig, wie lange es dauert.« Er richtete sich auf seinem Stuhl etwas auf. Er hatte das Gefühl, daß seine Worte den richtigen markigen und mannhaften Ton hatten.

»Ausgezeichnet«, antwortete O'Donnell. »Ich überlasse alles Ihnen.«

Etwas pikiert über die beiläufige Reaktion bat der Chef der inneren Abteilung steif: »Bitten Sie die Schwester, den nächsten hereinzuschicken. «

»Aber gern.«

O'Donnell ging hinaus, und einen Augenblick später trat eine Küchenhelferin ein. Sie hielt eine Karte in der Hand. Chandler sagte: »Geben Sie das mir. Setzen Sie sich, bitte.« Er legte die Karte vor sich und nahm ein neues Krankenblatt.

»Ja, Sir«, sagte das Mädchen.

»Als erstes möchte ich Ihre bisherigen Krankheiten wissen, Ihre eigenen, aber auch die Ihrer Familie - soweit wir es zurückverfolgen können. Beginnen wir bei Ihren Eltern.«

Während das Mädchen auf seine eindringlichen Fragen antwortete, füllte Chandler das Formular mit schnell geschriebenen Notizen aus. Als er fertig war, lag, wie immer bei ihm, eine vorbildliche Krankengeschichte vor, die geeignet war, als Muster in jedes medizinische Lehrbuch aufgenommen zu werden. Einer der Gründe, weshalb Dr. Chandler es zum Chef der inneren Abteilung im Three Counties Hospital gebracht hatte, lag darin, daß er ein außerordentlich genauer und gewissenhafter Kliniker war.

Während Kent O'Donnell die beschlagnahmte Abteilung für ambulante Patienten verließ, erlaubte er sich zum erstenmal, aus einigem Abstand heraus über die Ereignisse dieses Tages nachzudenken. Es war jetzt Nachmittag, und seit dem Morgen war zu vieles geschehen, als daß er schon alle Auswirkungen der Ereignisse übersehen konnte.

Schnell und unerwartet hatte er zuerst von der falschen Diagnose über den Zustand des Kindes erfahren, und bald danach war dessen Tod eingetreten. Darauf erfolgten Charlie Dornbergers Rücktritt und Pearsons Entlassung und die Entdeckung, daß in dem Krankenhaus seit über sechs Monaten die elementarsten hygienischen Kontrollmaßnahmen vernachlässigt worden waren. Und nun die Typhusfälle mit der Drohung einer ernsten Epidemie, die wie ein rächendes Schwert über dem Three Counties Hospital hing.

So vieles war auf einmal zusammengekommen. Warum nur? Wie konnte das geschehen? War es ein plötzlich zutage getretenes Symptom für ein Leiden, das bisher unentdeckt das Krankenhaus gepackt hielt? Stand vielleicht noch mehr bevor? War es ein Vorzeichen für den bald bevorstehenden allgemeinen Verfall? Hatten sie sich alle der Überheblichkeit schuldig gemacht - die O'Donnell vielleicht sogar selbst verursacht hatte?

Er dachte: wir waren alle sicher, so sicher, daß das gegenwärtige Regime besser als das vorherige ist. Dafür hatten wir gearbeitet. Wir glaubten, wir seien schöpferisch und kämen weiter, wir errichteten einen Tempel des Heilens, einen Ort, wo Medizin verantwortungsbewußt gelehrt und praktiziert würde. Aber wir haben versagt, schimpflich und blind versagt, gerade durch unsere guten Absichten. Waren wir dumm und verblendet, hatten wir unsere Blicke nach den Wolken gerichtet, auf schillernde Ideale, während wir die klaren, irdischen Warnungen des Alltags nicht beachteten? Was haben wir hier geschaffen? O'Donnell prüfte sich. War es wirklich eine Stätte des Heilens? Oder haben wir in unserer Torheit ein blendendes Grabmal errichtet - einen hohlen, antiseptischen Schrein?

In diese bohrenden und quälenden Gedanken versunken ging O'Donnell mechanisch durch das Krankenhaus, ohne auf seinen Weg zu achten. Jetzt kam er zu seinem Büro und trat ein.

Er blieb am Fenster stehen und sah auf den Vorplatz des Krankenhauses hinunter. Wie immer kamen und gingen dort Menschen. Er sah einen humpelnden Mann, eine Frau stützte ihn. Sie gingen vorbei und verschwanden. Ein Wagen fuhr vor, ein Mann sprang heraus und half einer Frau hinein. Eine Schwester erschien und reichte der Frau ein Baby. Die Türen wurden zugeschlagen, der Wagen fuhr an. Ein Junge an Krücken tauchte auf. Er bewegte sich schnell, schwang seinen Körper mit der Mühelosigkeit langer Übung. Ein alter Mann in einem langen Regenmantel hielt ihn an. Der Alte schien seinen Weg nicht zu wissen. Der Junge wies ihm die Richtung. Gemeinsam näherten sie sich dem Krankenhaus.

O'Donnell dachte: sie kommen als Bittende zu uns, voller Vertrauen. Sind wir dessen wert? Entschuldigen unsere Erfolge unsere Fehler? Können wir im Lauf der Zeit durch unsere Hingabe unsere Irrtümer wiedergutmachen? Werden sie uns je vergeben?

Nüchtern zog er die Folgerung. Nach dem heutigen Tag mußte vieles geändert werden, Lücken geschlossen - nicht nur die schon entdeckten, sondern andere, die sie durch eifriges Suchen noch aufdecken mußten. Sie mußten nach den schwachen Stellen tasten, bei sich selbst und in der Organisation des Krankenhauses. Sie mußten selbstkritischer sein, sich häufiger selbst überprüfen. Der heutige Tag, dachte er, soll ein helleuchtendes Mahnmal, ein Kreuz des Leidens, ein Zeichen für den neuen Anfang sein.

Es gab so vieles zu tun; viel Arbeit lag vor ihnen. Sie würden in der Pathologie anfangen, der schwachen Stelle, an der die Heimsuchung begonnen hatte. Aber sie mußten auch woanders neu ordnen. Da waren noch andere Abteilungen, von denen er vermutete, daß sie es dringend brauchten. Es lag jetzt endgültig fest, daß die Arbeit an dem Neubau im Frühjahr beginnen sollte, und beide Programme mußten miteinander verbunden werden. O'Donnell begann zu planen, sein Verstand arbeitete schnell.

Das Telefon klingelte.

Die Zentrale meldete: »Dr. O'Donnell, ein Ferngespräch für Sie.«

Es war Denise. Ihre Stimme hatte den gleichen gedeckten, weichen Klang, der ihn von Anfang an bezaubert hatte. Nach der Begrüßung sagte sie: »Kent, mein Lieber, ich möchte, daß du dieses Wochenende nach New York kommst. Ich habe für Freitag abend ein paar Leute eingeladen und möchte dich ihnen vorführen.«

Er zögerte nur einen Augenblick, ehe er antwortete: »Es tut mir furchtbar leid, Denise, aber das wird mir nicht möglich sein.«

»Du mußt aber kommen.« Ihre Stimme war eindringlich. »Ich habe die Einladungen verschickt und kann unmöglich wieder absagen.«

»Ich fürchte, du verstehst mich nicht.« Er spürte selbst, daß er mühsam die richtigen Worte suchen mußte. »Wir haben eine Epidemie hier. Ich kann nicht eher fort, als bis die Gefahr abgewendet ist, und muß dann wenigstens erst noch ein paar andere Dinge ordnen.«

»Aber du hattest versprochen, daß du kommst, Lieber, sobald ich dich rufe.« Ihr Ton verriet eine Andeutung von Ungeduld. Er überraschte sich bei dem Wunsch, bei Denise zu sein. Er war überzeugt, daß er es ihr dann verständlich machen könnte. Aber konnte er es wirklich?