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Der Papst stand vor seinem Zelt und dachte nach. Die Dinge liefen nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte. Nicht im Traum hätte er vermutet, daß seine Gegner ebenfalls nach Paderborn kommen würden. Im nachhinein bedauerte Leo, daß er so langsam nach Norden gezogen war und in jedem kleineren und größeren Ort die Huldigung der Gläubigen entgegengenommen hatte. Wertvolle Zeit war dadurch verloren gegangen.
Von dem, was der hochmütige Paschalis und der heimtückische Verräter Campulus mit dem König besprochen hatten, war kein Wort nach außen gedrungen. Aber der Papst konnte sich lebhaft vorstellen, was sie dem Frankenherrscher einzuflüstern versuchten. Absetzen solle Karl ihn, auf Lebenszeit in ein Kloster einschließen. All die widerlichen Vorwürfe, die in Rom über ihn verbreitet wurden, hatten Paschalis und Campulus aufgetischt, und vielleicht noch einige mehr.
Seitdem schwieg der Germane auf dem Königsthron. Der Papst schaute zu dem Hügel, auf dem sich der kümmerliche Palast erhob. Was machte er hier, in diesem Land der Barbaren, in dem sich einige Holzhütten, eine kleine Kirche und ein Steinhaus civitas* nannten, in dem er umgeben war von wilden Kriegern, die sich Butter ins Haar schmierten und entsetzlich stanken?
Das sollte das Land sein, in dem Milch und Honig flossen?
Leo rümpfte die Nase. Kühe sah er zwar, und auch Bienen. Aber nichts, was der herrlichen Größe des alten Rom gleichkam. Anstatt wie ein Wanderer auf bloßer Erde zu nächtigen, unwürdig einem Nachfolger Petri, wäre er jetzt lieber in Rom, mochte es im Juli dort auch glühendheiß und stickig sein. Doch zuvor mußte er sich seiner Gegner und Neider entledigen.
Wie würde sich der riesenhafte, fettleibige Franke entscheiden? Der Papst kannte die Wankelmütigkeit Karls, seine Neigung, schwierige Beschlüsse vor sich herzuschieben, bis er schließlich mit einem Gefühlsausbruch den Knoten zerschlug. So hatte Karl sich verhalten, als ihm die eigene Mutter die Langobarden-Prinzessin als Frau aufdrängte. So war er auch mit dem Wunsch Kaiserin Irenes verfahren, den byzantinischen Thronfolger mit einer seiner Töchter zu vermählen. Erst als nach jahrelanger Verlobung die Hochzeit unmittelbar bevorstand, hatte Karl erklärt, daß er seine Tochter nicht hergeben wolle.
Und was würden Karls Berater empfehlen? Der König war kein Mann von Bildung, nicht einmal schreiben hatte er richtig gelernt. Gerade in kirchlichen Fragen würde er auf den Rat seiner Bischöfe hören.
Leo bedauerte, daß Abt Alkuin nicht in Paderborn war. Der Brite stand auf seiner Seite, wie er aus mehreren Schreiben wußte. Dagegen gehörte der Westgote Theodulf mit Sicherheit nicht zu seinen Fürsprechern. Mit unverhohlener Ironie hatte der Bischof von Orleans die Argumente des Kardinals zurückgewiesen. Und die Erzbischöfe Hildebald und Arn hatten sich hinter undurchdringlichen Mienen verschanzt.
Nein, der Papst konnte nicht darauf vertrauen, daß sich die Lage von allein zu seinen Gunsten entwickeln würde. Er mußte etwas finden, mit dem er den König überzeugen konnte, etwas, das seine Gegner überraschen würde. So wie ein kluger Schachzug, mit dem der Gegenspieler nicht rechnete.
Leo überlegte, was er dem Frankenkönig anbieten sollte. Welchen Wunsch gab es, den sich dieser mächtigste Mann Europas noch nicht erfüllt hatte?
Und plötzlich fand er die Lösung. Der Gedanke war so klar und einleuchtend, daß sich der Papst wunderte, warum er nicht schon längst darauf gekommen war.
Hathumar betrachtete den Skorpion, der vor ihm auf dem Tisch lag. Das Exemplar maß eine Handbreite in der Länge und hatte eine gelbliche Farbe. Trotz des Ekels, den er empfand, konnte der Mönch dem Insekt eine gewisse Schönheit nicht absprechen. Der Vorderkörper mit den Greifzangen sah aus wie eine Krabbe, die Beine ähnelten denen einer großen Spinne, und der gegliederte Schwanz mit dem Giftstachel hatte etwas Schlangenartiges. Wie eine Kreuzung der niedrigsten Tiere, die Gott erschaffen hatte.
Zu gern hätte Hathumar das Geheimnis des Tieres ergründet. Wo hatte es gelebt? Wer hatte es nach Paderborn gebracht? Wenn er wenigstens die genaue Art bestimmen könnte. Sehnsüchtig dachte der Mönch an die riesige Bibliothek in Corbie. Hier gab es nur wenige Bücher. Und doch - ein Versuch war es wert.
Hathumar ging in den kleinen Leseraum, in dem die Bücher standen. Mit raschen Handgriffen blätterte er die ledergebundenen, vielfach mit Intarsien geschmückten Werke auf und überflog die Inhalte. Beinahe hätte er die Hoffnung schon aufgegeben, da entdeckte er das Gesuchte: ein Buch über die Fauna. Nach der Schrift zu urteilen, war es einige hundert Jahre alt. Eine Kostbarkeit, die eine Laune der Geschichte nach Paderborn verschlagen hatte.
Mit klopfendem Herzen legte Hathumar das Buch auf den Tisch und begann zu lesen. Er erfaßte die Systematik des unbekannten Autors und verschlang alles, was dieser über Insekten geschrieben hatte. Und tatsächlich - da war die Beschreibung des Skorpions, der in seiner Zelle lag. Länge, Farbe, alles paßte. Es handelte sich um einen Buthus occitanus, dessen Stich sehr schmerzhaft, manchmal sogar tödlich sein konnte. Die Länder, in denen der Skorpion nach Ansicht des Autors vorkam, waren von der Weltkarte verschwunden. Aber Hathumar kannte ihre heutigen Namen: Spanien und das südliche Frankenreich.
Der Mönch stellte das Buch zurück. Die freudige Erregung über den Fund wich der Enttäuschung. Insgeheim hatte er gehofft, daß der Skorpion nicht aus Spanien kam, daß er einen Beweis für die Unschuld Felix' von Urgelis präsentieren konnte. Doch so, wie es aussah, blieben der ehemalige Bischof und sein schwachsinniger Diener die Hauptverdächtigen.
Wieder in seiner Zelle, schob Hathumar den Skorpion zur Seite. In den letzten Stunden hatte er sich mit dem Epos beschäftigt, das Abt Adalhard von ihm erwartete. Er überflog die Zeilen, die er bereits zu Papier gebracht hatte.
Es ist da ein berühmter Ort, wo Pader und Lippe fließen; er liegt auf der Höhe in einer kahlen Ebene,
ringsum dehnt sich weit das Gelände.
Von der Höhe des Hügels kann man das Heer,
den langen Zug der Krieger überschauen,
das Lager der Herzöge und der Grafen,
die schimmernde Rüstung der Krieger.
Dorthin kommt Karl, der Held,
von vielen Tausenden gefolgt,
hier beschließt er, Quartier zu machen.
War das nicht zu sachlich, zu wenig ergreifend, zu gefühllos für ein Gedicht, das den König feiern sollte? Vergleiche Karl mit Augustus, hatte Adalhard gefordert. Aber Augustus war ein Kaiser und Karl nur ein König. Vielleicht der mächtigste, den es seit langer Zeit auf der Welt gegeben hatte, doch ein König blieb ein König. Wie konnte er Karl da Augustus nennen?
Hathumar seufzte. Er schaffte es nicht, sich auf das Gedicht zu konzentrieren. Wieder fiel sein Blick auf den Skorpion. Und dann faßte er einen Entschluß.
Die Leibgardisten hatten sich zunächst gesträubt, ihm den Weg zu dem Verlies freizugeben, in dem Aio eingesperrt war. Hathumar mußte auf seine Vollmachten pochen, die ihm König Karl erteilt hatte.
Jetzt stand er dem buckligen Diener des Felix' von Urgelis gegenüber, dessen Hände und Füße mit Ketten gefesselt waren. Der Mann hockte auf dem steinernen Boden, seine blutunterlaufenen Augen blickten traurig zu dem jungen Mönch auf.
Hathumar schlug das Leinentuch auf und hielt Aio den Skorpion vors Gesicht.
Der Diener schrak zurück. „Scorpio", sagte er mit einer unnatürlich heiseren Stimme.
„Hast du diesen Skorpion schon einmal gesehen?"
Aio schüttelte heftig den Kopf.
„Hast du ihn von Urgelis hierher, nach Paderborn, gebracht?"
Erneutes Kopfschütteln. „Non visus sum."
„Sag die Wahrheit, Aio! Dein Herr steht unter dem Verdacht, einen Bischof ermordet zu haben. Wenn du den Skorpion in der Bibel versteckt hast, mußt du die Tat gestehen!"
„Innocens", krächzte Aio. „Innocens sum."
Dann versenkte er den Kopf in den verschränkten Armen und brummte eine monotone Melodie, wobei er mit dem Oberkörper schaukelte, wie ein verängstigtes Kleinkind, das sich unsichtbar machen will.
Hathumar ließ den Skorpion im Tuch verschwinden. Es hatte keinen Zweck, weiter in den Mann zu dringen. Offenbar wollte Aio seinen Besucher vergessen.
Mit beruhigender Stimme sprach der Mönch ein Gebet. Aio brummte und schaukelte, als würde er nichts hören.
Der Papst wählte seine Worte mit Bedacht. Der Mann auf dem Klappthron, dem er gegenüberstand, entschied über sein Schicksal. Karl konnte ihn wie einen gewöhnlichen Verbrecher behandeln oder seine Autorität als Bischof von Rom anerkennen. Leo mußte den Frankenherrscher überzeugen, ihn und seine Berater.
„Da es in den Ländern des Oströmischen Reiches keinen rechtmäßigen Kaiser mehr gibt, weil, wie Ihr wißt, die Kaiserinmutter ihren Sohn hat blenden lassen, wodurch der Thronerbe zu Tode gekommen ist, und da Kaiserin Irene sich, in ihrer Ruchlosigkeit, zur Alleinherrscherin ausgerufen hat, obwohl nach altem Gesetz einer Frau der Titel des Basileus nicht zusteht, halten Wir, und mit uns die gesamte Christenheit, es für angemessen und richtig, das nomen imperatoris Euch, dem Frankenkönig, zu übertragen."
Der Papst machte eine Pause, um seine Rede wirken zu lassen.
„Denn Ihr besitzt Rom, wo stets die Caesaren zu residieren pflegten, außerdem beherrscht Ihr Italien, Gallien und Germanien. Gott der Allmächtige hat diese Länder Eurer Autorität unterstellt, und so entspricht es dem Wunsch der ganzen Christenheit, wenn Ihr, König Karl, auch den Titel des Kaisers tragt."
Karls Gesicht war wächsern. Kaiser! Wie lange schon hatte er sich diesen Titel gewünscht! Seine Söhne hatte er bereits zu Mitkönigen gemacht. Den Rang eines Kaisers einzunehmen, gleichgestellt dem Herrscher von Byzanz, wäre die Krönung seines Lebenswerkes.
„Wir schlagen vor", fuhr Leo getragen und feierlich fort, „daß die Krönung noch in diesem Jahr in Rom erfolgt. Alle Welt soll sehen, daß Ihr der neue Imperator und Augustus seid."
Das nachfolgende Schweigen war mit den Händen zu greifen. Niemand wagte, ein Wort zu sagen oder sich auch nur zu räuspern.
Der Papst neigte den Kopf und lächelte. Er mochte ein Mann mit Fehlern sein, aber er hatte ein gewinnendes und einnehmendes Wesen. „Ich hatte gehofft, daß Ihr meinen Wunsch freudiger aufnehmen würdet."
Karl schluckte. Seine Stimme klang noch ein bißchen heller als üblich. „Wir werden über Euren Vorschlag nachdenken, Heiliger Vater."
Leo verbeugte sich. „Ihr wißt, wo Ihr Uns findet."
Wie ein gefangenes Raubtier lief der König auf und ab. In seinem Privatgemach, nur von den engsten Beratern umgeben, hatte er die mühsam aufrechterhaltene Beherrschung abgelegt. Karls Monolog, dem die Bischöfe Hildebald, Arn und Theodulf geduldig lauschten, kreiste immer wieder um die selben zwei Fragen: Durfte er die Gelegenheit verstreichen lassen, sich die langersehnte Kaiserkrone aufzusetzen? Oder war Leo III. nicht der geeignete Papst, eine solche Krönung vorzunehmen?
„Zweifellos hat der Papst einen Hintergedanken", warf Theodulf ein, als der Redefluß des Königs erlahmte. „Wenn er Euch zum Kaiser krönt, macht er sich selbst unantastbar.
Ihr könnt keinen Papst absetzen, der Euch gesalbt hat."
„Wir wissen nicht, ob sich der Heilige Vater schuldig gemacht hat", widersprach Hildebald. „Wir kennen nur Vorwürfe und Behauptungen. In einem jedenfalls hat er recht: Es gibt keinen Kaiser im Osten mehr, der Thron in Konstantinopel ist vakant, seitdem Irene ihren Sohn getötet hat. Und niemand in Europa ist mächtiger und hätte die Kaiserkrone eher verdient als König Karl."
„Denkt daran, daß Euch schon der über jeden Zweifel erhabene Papst Hadrian Gottkaiser genannt hat", sagte Arn von Salzburg. „Und erinnert Ihr Euch an den Brief von Bischof Cathwulf aus Britannien? Der Bischof von Rom stünde hinter Euch an zweiter Stelle, meinte Cathwulf, Ihr aber wäret der Stellvertreter Gottes auf Erden. Und selbst Alkuin."
„Richtig", fuhr der König dazwischen, „Alkuin hat mir darüber geschrieben. Sein Brief muß in der Kanzlei liegen. Laßt ihn holen! Ich möchte Alkuins Worte noch einmal hören."
Arn verließ den Raum und beauftragte einen Diener, den Brief des Abtes zu besorgen.
Kurze Zeit später entfaltete der Erzbischof von Salzburg das Papier. „Alkuin schreibt: 'Drei Männer standen bisher in der Welt am höchsten: Zunächst die apostolische Hoheit, die den Stuhl des seligen Apostelfürsten Petrus als Stellvertreter innehat. Was dem geschehen ist, der auf diesem Stuhl saß, hat Eure verehrungswürdige Güte mir mitteilen lassen. An zweiter Stelle kommt die Kaiserwürde, die weltliche Macht im zweiten Rom. Überall ist die Nachricht verbreitet, wie ruchlos das Reichsoberhaupt abgesetzt worden ist, nicht durch Fremde, sondern durch die eigenen Leute und Mitbürger. An dritter Stelle steht die Königswürde, in die Euch Jesus Christus als Lenker des Christenvolkes eingesetzt hat. Ihr überragt die beiden anderen Würden an Macht, an Weisheit und an der Erhabenheit Eurer Herrschaft. So ruht auf Dir allein das Heil der Kirche Christi, Du strafst die Verbrechen, führst die Irrenden auf den rechten Weg zurück, Du bist der Tröster der Betrübten, Du erhöhst die Guten.'"
„Wenn ich Alkuin recht verstehe", interpretierte Arn, „würde er Euch raten, die Kaiserwürde anzunehmen. Bedenkt, daß der Titel erblich ist. Er würde an Euren ältesten Sohn und dessen Nachfahren weitergegeben. Ihr wäret der Begründer einer kaiserlichen Dynastie. Noch in tausend Jahren würde man von Eurem unsterblichen Ruhm sprechen."
„Trotzdem sollten wir nichts übereilen", wagte Theodulf einen erneuten Einwand. „Wir waren uns einig, daß die Vorwürfe, die gegen den Papst erhoben werden, untersucht werden müssen. So sehr Euch die Kaiserkrone zusteht, so fatal wäre es, wenn auf die Krönung der Verdacht fallen würde, der Inhaber des Stuhles Petri habe sich damit von seiner Schuld freigekauft."
Die drei Bischöfe schauten den König erwartungsvoll an.
Karl seufzte. „Theodulf hat recht", sagte er schließlich. „Eine Krönung noch in diesem Jahr kommt nicht in Frage. Wir werden zunächst abwarten, wie sich die Dinge in Rom entwickeln. Dann werden Wir entscheiden. Bis dahin bitte ich um absolutes Stillschweigen über die Angelegenheit. Ich möchte nicht, daß am Hof darüber geredet wird."
Auf den Stirnen der Bischöfe bildeten sich tiefe Falten. Eine Frage dieser Größenordnung geheimzuhalten glich dem Versuch, durch einen Fluß zu schwimmen, ohne naß zu werden.