174542.fb2
Hathumar erwachte von dem nächtlichen Geschrei. Sein erster Gedanke war, daß es schon wieder ein Verbrechen gegeben habe. Er versuchte den Satzfetzen, die von draußen hereindrangen, einen Sinn zu entnehmen. Offenbar hatte man jemanden gefangen.
Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch schwang sich der Mönch von der Holzbank und richtete seine Kutte. Der König hatte ihm die Aufklärung des Mordes an Bischof Odoaker übertragen. Und er, Hathumar, hatte schmählich versagt. Wenn eine erneute Gewalttat geschehen war, würde sich der König an den jungen Bibliothekar aus Corbie erinnern.
Vor dem Kloster traf Hathumar auf Abt Adalhard, der ebenfalls aus dem Schlaf gerissen worden war. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zur Pfalz.
Das Innere des Königspalastes war von Fackeln hell erleuchtet. Überall standen Wachen, und kleine Gruppen von Bediensteten tuschelten hinter vorgehaltenen Händen. An ihren betretenen Gesichtern war zu erkennen, daß ein großes Unglück geschehen war.
Adalhard hieß Hathumar, auf dem Gang zu warten, während er den mit ihm befreundeten cancellarius aufsuchen wollte.
Kurz darauf kam der Abt mit versteinertem Gesicht zurück.
„Eine der Friedelfrauen des Königs ist ermordet worden", flüsterte er.
„Und?" fragte Hathumar, da er merkte, daß Adalhard noch nicht alles gesagt hatte.
„Man hat Odo in ihrem Gemach entdeckt. Er versuchte zu fliehen, aber die Männer der scara haben ihn eingefangen."
Hathumar dachte an das Liebesgeflüster, das er vor einigen Nächten belauscht hatte.
„Odo? Ihr kennt ihn, Vater. Er ist ein liebenswerter Bursche, vielleicht ein wenig dumm und unbedarft. Glaubt Ihr wirklich, daß er eine Frau des Königs töten würde?"
„Was ich glaube oder nicht, spielt keine Rolle", sagte der Abt barsch. „Die Tatsachen sprechen gegen ihn. Der König wird Odo foltern und töten lassen, daran besteht nicht der geringste Zweifel. Und wenn wir uns ihm in den Weg stellen, wird sich sein Zorn auch auf uns richten."
„Aber wir können doch nicht zulassen."
„Doch, das können wir. Graf Ascarius ist ein missus dominicus und Freund des Königs. Überlassen wir es ihm, für seinen Sohn zu sprechen."
„Ich möchte mit Odo reden", beharrte Hathumar.
„Tu, was du nicht lassen kannst! Ich habe mit der Angelegenheit nichts zu schaffen. Du hast mir schon den Mord an Bischof Odoaker aufgehalst. Wenn ich mich doch bloß nicht bereit erklärt hätte, mit dir zum König zu gehen."
Hathumar verstand, daß sich hinter der rüden Art des Abtes die blanke Angst verbarg, Karls Gunst zu verlieren.
„Ich werde mich nicht auf Euch berufen", sagte er demütig. „Sollte ich einen Fehler begangen haben, trage ich allein die Verantwortung."
Adalhard nickte. „Ich habe von dir nichts anderes erwartet."
Odo war ein Häufchen Elend. Angekettet und aus Platzwunden blutend, lag er auf dem Steinboden.
Hathumar wischte ihm mit dem Ärmel seiner Kutte das Blut aus dem Gesicht. „Odo", flüsterte er tröstend. „Du Ärmster." „Ich habe sie nicht ermordet", jammerte Odo. „Warum sollte ich sie töten? Ich wollte mit ihr. Du hast uns doch gesehen. Wir liebten uns. Niemals würde ich."
„Ich weiß, daß du sie nicht ermordet hast", sagte der Mönch begütigend. „Erzähl mir, was geschehen ist!"
Odo erzählte, daß er am Nachmittag mit Gerswind verabredet hatte, in der Nacht zu ihr zu kommen. Doch dann hatte ihn statt der Geliebten ihre Zofe erwartet. Die Zofe sagte, der König habe ihre Herrin zu sich rufen lassen, Gerswind bitte ihn, in ihrem Gemach zu warten, sie würde kommen, sobald sich eine Gelegenheit böte.
„Plötzlich hörte ich einen Schrei, der mir durch Mark und Bein fuhr. Ich wußte sofort, daß etwas Schreckliches geschehen war. Als ich die Tür öffnete, sah ich Gerswind in ihrem Blut liegen. Ich konnte ihr nicht helfen, Hathumar, sie war bereits tot. Und dann wurde mir klar, daß man mich verdächtigen würde. Wie sollte ich meine Anwesenheit erklären? So oder so würde mich der König verurteilen. Ich habe versucht zu fliehen, ja, aber was hätte ich sonst tun sollen?"
„Du warst in einer ausweglosen Situation", stimmte Hathumar zu. „Es gab keine richtige Entscheidung."
„Und jetzt werden sie mich töten", schluchzte Odo.
„Ich will dir keinen falschen Trost spenden", sagte Hathumar. „Aber ich verspreche dir, daß ich alles daransetzen werde, den wahren Mörder zu finden."
„Ah, du bist schon bei der Vernehmung des Gefangenen", dröhnte Giselhers klare Stimme.
Hathumar drehte sich um. „Er ist nicht der Mörder."
Giselher grinste. „Nur leider stand er neben der Leiche."
„Warte!" Der Mönch richtete sich auf. „Wie ist Gerswind eigentlich getötet worden?"
„Sie wurde erstochen." „Lag das Messer neben der Leiche?"
„Nein."
Hathumar zeigte auf Odo. „Und er hatte es auch nicht, oder?"
„Versprech dir nicht zuviel davon", durchkreuzte Giselher Hathumars Gedanken. „Er kann es während der Flucht weggeworfen haben."
„Dann muß man es suchen, sobald es hell wird."
„Schon. Aber selbst wenn wir es nicht finden, beweist das gar nichts. Irgendjemand kann es mitgenommen haben. Dagegen könnte etwas anderes deinem Freund den Hals retten: Aio ist geflohen."
„Was?" fragte Hathumar überrascht.
„Ja. Seine Flucht wurde entdeckt, kurz nachdem Gerswind ermordet worden war. Möglich, daß sie dem buckligen Aio über den Weg gelaufen ist."
„Aber wie konnte er fliehen? Er war doch gefesselt und eingeschlossen."
„Er muß einen Verbündeten in der Pfalz haben."
Ein bewaffneter Mann tauchte im Eingang zum Verlies auf. „Marschall? Der König wünscht Euch zu sprechen." Er wandte sich an Hathumar. „Und wenn Ihr der Bibliothekar von Corbie seid, dann schließt Euch bitte dem Marschall an!"
„Oh je", seufzte Giselher. „Jetzt fängt der Ärger erst richtig an."
„Bin ich hier in einem Tollhaus?" tobte der König. „Zwei Menschen, die mir nahestanden, sind ermordet worden. Ich weiß nicht, wer es getan hat und warum er es getan hat. Dafür entflieht ein schwachsinniger Gefangener aus einem gut bewachten Verlies, und der Sohn des Grafen Ascarius schleicht durch meine Gemächer. Ich frage dich, Marschall, der du dich zusammen mit diesem angeblich so scharfsinnigen Bibliothekar aus Corbie um die Aufdeckung der Verbrechen kümmerst: Hast du eine Erklärung für all das, was hier vorgeht?"
„Nun, Hoheit", begann Giselher, „fraglos hat sich Aio, der Diener des Felix von Urgelis, nicht allein befreit. Jemand muß ihm geholfen haben. Ein Wächter ist niedergeschlagen worden, und die Ketten wurden mit einem Schlüssel geöffnet. Ich halte es für denkbar, daß Felix von Urgelis Verbündete in der Pfalz hat, oder daß er einen oder mehrere Eurer Männer bestochen hat."
„Du glaubst also, daß Felix von Urgelis hinter all dem steckt?"
„Das ist die plausibelste Lösung, Hoheit."
Hathumar war zwar anderer Ansicht, aber er wagte nicht zu widersprechen, weil er fürchtete, daß sich der König dann noch mehr aufregen würde. In seinem Hinterkopf war eine Idee aufgetaucht, die, sollte sie sich bewahrheiten, den Mordfällen eine ganz andere Wendung geben würde. Doch noch war der Gedanke zu unreif, um ihn zu äußern.
„Plausibel", höhnte Karl. „Ich möchte klare Antworten. Wer hat nun Gerswind getötet, der Sohn des Grafen Ascarius oder der Diener von Felix von Urgelis?"
„Wenn ich zwischen den beiden wählen müßte", sagte Giselher, „würde ich mich für den Diener Aio entscheiden. Derjenige, der ihn befreit hat, könnte ihm ein Messer gegeben haben. Auf seinem Fluchtweg traf Aio zufällig auf die edle Gerswind und hielt sie in der Dunkelheit für einen Mann der scara."
„Und du?" riß Karl den Mönch aus seinen Gedanken. „Was hast du Kluges beizutragen?"
„Odo hat sich schuldig gemacht", antwortete Hathumar bestimmt. „Er hat Euch schändlich hintergangen, und dafür verdient er eine Strafe. Er wollte sich mit Eurer." Er errötete. „Eurer."
„Was stammelst du da?" fuhr ihn der König an.
„. mit Gerswind treffen", sagte Hathumar schnell. „Die beiden hatten sich verabredet." Wohlweislich verschwieg er, daß es nicht das erste Mal gewesen wäre. „Eine Zofe hat Odo in Gerswinds Gemach geleitet. Was die beiden vorhatten, könnt Ihr Euch denken. Deshalb gibt es für einen Mord nicht das geringste Motiv."
„Motiv? Was meinst du?"
„Wenn sich ein Mann mit einer Frau." Hathumar errötete erneut, „.vereinigen will, bringt er sie nicht vorher um. Das ist absolut unlogisch."
Der König dachte nach. „Und wenn er es nur getan hat, um mich zu treffen? Ich habe Feinde, Mönch, jeder König hat Feinde."
„Nein", widersprach Hathumar. „Ich kenne Odo, seitdem er ein Kind war. Er ist einer Eurer glühendsten Verehrer." Ein wenig Übertreibung schien dem Mönch zulässig.
„Aber er findet nichts dabei, eine Frau zu besteigen, die gerade von meinem Lager aufgestanden ist?"
Hathumar senkte den Kopf. Dazu fiel ihm wirklich keine Antwort ein.
„Na schön." Karl hielt die Audienz für beendet. „Ich werde Odo vorläufig nicht hinrichten lassen. Und euch gebe ich zwei Tage. Wenn ihr mir bis dahin den Mörder nicht gebracht habt, mache ich euch verantwortlich."
Die beiden jungen Sachsen verneigten sich.
„Was habe ich gesagt?" flüsterte Giselher, als sie weit genug entfernt waren. „Jetzt haben wir den Ärger am Hals. Wir können nur beten, daß Aio wieder eingefangen wird. Sonst läßt uns Karl die Peitsche schmecken."
Hathumar hörte nur mit halbem Ohr zu. Fieberhaft überlegte er, wie er seinen Plan in die Tat umsetzen konnte. Auf jeden Fall brauchte er einen Fürsprecher, einen mächtigeren als Giselher, soviel stand fest.
Auf die Hilfe Adalhards konnte Hathumar nicht zählen. Der Abt wehrte sich mit Händen und Füßen gegen die Bitte seines Bibliothekars. Mit einem solchen Vorschlag werde er dem König nicht unter die Augen treten. Und überhaupt, anstatt sich unnütze Gedanken zu machen, solle Hathumar lieber an das Epos denken. Der Aufenthalt in Paderborn neige sich seinem Ende zu, bis zur Abreise müsse das Gedicht vollendet sein.
Und dann erzählte Adalhard unter dem Siegel der Verschwiegenheit, daß der König beabsichtige, sich zum Kaiser krönen zu lassen. Das sei noch nicht offiziell, und deshalb dürfe das Wort Kaiser im Epos nicht auftauchen. Aber habe er, Adalhard, nicht geraten, Karl einen Augustus zu nennen, einen Imperator? Leuchtturm Europas sei ebenfalls ein treffender Ausdruck.
Wenn er nicht so beschäftigt wäre, sagte der Abt, würde er das Epos ja selber schreiben. Aber nach den vielen Ideen, die er geliefert habe, sei es für Hathumar schließlich ein Leichtes, das Gewünschte zu schreiben.
Hathumar lächelte gequält. Der König drängte ihn, sein Freund Odo erhoffte die Rettung vor Folter und Hinrichtung, und zu allem Überfluß sollte er gleichzeitig lateinische Verse zu Papier bringen. Das war mehr, als ein gewöhnlicher Mensch leisten konnte.
Um den Abt, dessen Atem schon am frühen Morgen nach Wein stank, so schnell wie möglich loszuwerden, versprach er alles, was dieser hören wollte.
Doch sobald Adalhard die kleine Zelle verlassen hatte, sprang der Mönch auf. Einen natürlichen Verbündeten gab es noch, den er um Hilfe bitten konnte.
Hathumar verließ die befestigte Stadt und ging hinaus auf die Ebene. Er suchte die Männer auf, mit denen er von Corbie nach Paderborn gekommen war, und fand Graf Ascarius in seinem Zelt. Seitdem er ihn das letzte Mal gesehen hatte, war Ascarius um Jahre gealtert.
Mit einer matten Handbewegung bot der Graf dem Mönch einen Sitzplatz an.
„Wie konnte mir Odo das antun?" sagte er mehr zu sich selbst. „Welcher Teufel hat ihn geritten? Ich wußte ja, daß er nicht zu den Schlauesten zählt, aber eine solche Dummheit hätte ich ihm nicht zugetraut."
Hathumar nickte. „Er war töricht und dumm, aber er ist kein Mörder."
„Du weißt es, und ich weiß es auch. Trotzdem wird ihn der König hinrichten lassen. Er ist mein ältester Sohn, Hathumar. Es zerreißt mir das Herz, wenn er stirbt."
„Es gibt eine Möglichkeit, sein Leben zu retten", sagte Hathumar. „Mir ist etwas eingefallen."
Ascarius hörte aufmerksam zu. Eine leise Hoffnung glomm in seinen Augen.
Nachdem der Mönch geendet hatte, schwiegen beide.
„Und was ist, wenn du dich irrst?" sagte der Graf. „Dann stehe ich als der Dumme da. Hohn und Spott wird man über mich ausleeren."
Hathumar mochte an einen Fehlschlag nicht denken. „Wir müssen es riskieren. Es ist unser einziger Trumpf."
Eine Stunde später standen Graf Ascarius und Hathumar vor dem König. Karl war nicht begeistert, doch da ihm Ascarius als Königsbote immer treu gedient hatte, konnte er ihm die Bitte nicht abschlagen. Schließlich war der König selbst Vater und wußte, was der Graf empfand.