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Beißender Gestank stieg Hathumar in die Nase. In den letzten Tagen war es sehr heiß gewesen, und der Verwesungsprozeß hatte längst eingesetzt. Das Tuch, das sich der Mönch vor Nase und Mund gebunden hatte, konnte den süßlichen, Brechreiz erzeugenden Geruch nicht abhalten.
Auch den anderen Männern, die ihm halfen, die Leiche des Grafen Bernhard aus dem Sarg zu heben, erging es nicht besser. Hathumar hörte würgende Geräusche und biß sich auf die Lippe, um sich nicht auf der Stelle zu übergeben.
Endlich schafften sie es, den Leichnam auf dem Erdhügel, der durch die Ausschachtungsarbeiten entstanden war, abzulegen. Hathumar wankte ein paar Schritte zurück und schnappte nach frischer Luft. Langsam beruhigte sich sein Magen.
Der Friedhof befand sich außerhalb der Stadtmauern. Es gab nicht viele Gräber, hauptsächlich waren hier getaufte Sachsen beerdigt, dazu einige Franken, die während früherer Kriegszüge gestorben waren. Das Grab von Graf Bernhard war das größte und sein Holzkreuz das schmuckvollste auf dem gesamten Beinacker.
Zahlreiche Schaulustige hatten sich in gebührender Entfernung versammelt. In Windeseile war die Nachricht von der Graböffnung durch die Stadt und das Heerlager gelaufen. Auch wenn niemand wußte, warum die Leiche von Graf Bernhard aus der Erde gehoben werden sollte, dieses sonderbare Schauspiel wollte man sich nicht entgehen lassen.
Hathumar war sich bewußt, daß ihn alle angafften. Er hörte das Raunen der Menge, das wie ein angriffslustiger Bienenschwarm klang. Wie konnte der junge Mönch es wagen, flüsterte es im Rund, die Ruhe des edlen Bernhard zu stören?
Der Pesthauch des Todes erreichte die ersten Gaffer. Entsetzt wichen sie weiter zurück.
Hilfesuchend blickte Hathumar zu Graf Ascarius. Odos Vater verharrte regungslos wie eine Salzsäule. Neben ihm stand Bischof Theodulf. Hathumar spürte den kritischen Blick des Würdenträgers, sah die höhnisch gekräuselten Lippen. Er wußte, daß er sich weit, sehr weit vorgewagt hatte. Sollte er sich irren, würde er die Gunst von Abt Adalhard verlieren. Dann konnte er sich glücklich schätzen, wenn ihn dieser überhaupt noch im Kloster Corbie duldete - aber nicht als Bibliothekar, sondern höchstens als Schweinehirt.
Gemessenen Schrittes näherte sich ein grauhaariger Mann. Es war einer der Leibärzte des Königs. Hathumar hatte ihn gebeten, als Sachkundiger die Leiche zu untersuchen.
„Geht es Euch nicht gut, Bruder?" fragte der Arzt spöttisch. „Ein wenig Riechsalz gefällig?"
„Danke, ich bin wohlauf", erwiderte der Mönch. Seine Stimme klang hohl und fremd.
„Nun, dann wollen wir zur Tat schreiten. Schöner wird die Leiche ohnehin nicht mehr."
Wieder nahm der Gestank zu. Diesmal kam er Hathumar noch überwältigender vor als beim ersten Mal. Myriaden von Fliegen schwirrten inzwischen um die Leiche. Mit der linken Hand preßte Hathumar das Tuch vor die Nase. Er fühlte, wie ihm der Schweiß über die Stirn und den Rücken lief.
Scheinbar unbeeindruckt ging der Arzt in die Hocke, nachdem er ein Messer aus dem Gürtel gezogen hatte. Mit sicheren Handbewegungen schnitt er das lehmverklumpte Leichentuch auf. Hathumar wendete den Kopf ab. Der Körper, der unter dem aufgeplatzten Tuch zum Vorschein kam, war eine bläuliche und bräunliche Masse.
„Na, was haben wir denn hier?" sagte der Arzt gepreßt.
Hathumar zwang sich, hinzuschauen.
„Das hier", der Arzt zeigte auf große, schwarzumrandete Wunden, „sind eindeutig Verletzungen, die durch die Hörner des Auerochsen hervorgerufen wurden. Aber hier", er deutete auf die Herzgegend, „seht Ihr diesen Stich? Er ist viel zu schmal für einen Hornstoß. Er könnte von einem Messer oder einem kleinen Scramasax* stammen. Mir scheint, Ihr habt recht, Bruder. Graf Bernhard ist erstochen worden. Vermutlich hat sich der Auerochse erst auf ihn gestürzt, als er bereits tödlich verwundet am Boden lag."
Hathumar nickte. Dann konnte er nicht mehr anders, als seinen Mageninhalt auf den geweihten Boden zu entleeren.
„Damit ist der Beweis erbracht, daß nicht zwei, sondern drei Morde verübt worden sind", sagte Hathumar, und ein Anflug von Triumph lag in seiner Stimme. Er schaute Karl an. Jetzt kam es darauf an, den König zu überzeugen. „Wenn wir davon ausgehen, daß ein- und dieselbe Person alle drei Morde begangen hat, bedeutet dies: Sowohl der Diener des Felix von Urgelis wie auch Odo sind unschuldig. Felix und Aio haben an der Jagd nicht teilgenommen, und Odo erreichte mit mir zusammen Paderborn, als Ihr gerade von der Jagd zurückkehrtet."
„Entschuldige, aber da kann ich dir nicht folgen", widersprach Giselher. „Warum muß für alle drei Morde nur ein einziger Täter verantwortlich sein? Was haben Graf Bernhard, Bischof Odoaker und Gerswind gemeinsam? Kann es nicht genausogut zwei oder sogar drei Mörder geben?"
„Richtig, Marschall!" lobte Bischof Theodulf. „Das hochfliegende Gedankengebäude des Bibliothekars von Corbie entbehrt der inneren Logik. Es mag zwar außergewöhnlich sein, daß innerhalb so kurzer Zeit drei Menschen gemordet werden, aber allein deswegen auf eine gemeinsame Ursache zu schließen, erscheint mir allzu kurzsichtig. Soweit ich weiß, kannten sich Graf Bernhard, Bischof Odoaker und Gerswind nicht einmal."
Einsam und verwirrt saß der König auf seinem Klappthron. Mit Feinden, die ihn auf offenem Feld angriffen, konnte er umgehen, doch dieser heimliche Tod, der durch seinen Palast schlich, machte ihm Angst.
Hathumar straffte seinen Rücken. „Erstens: Nicht Bischof Odoaker, sondern Erzbischof Hildebald sollte ermordet werden, das dürfen wir nicht vergessen. Zweitens: Die Morde tragen eine gemeinsame Handschrift. Der Mörder tritt nicht offen in Erscheinung, vielmehr plant er seine Taten sehr sorgfältig und von langer Hand. Er achtet stets darauf, daß andere verdächtigt werden. Im ersten Fall kam ihm ein Auerochse zu Hilfe. Beim beabsichtigten Mord an Erzbischof Hildebald machte er sich den Umstand zunutze, daß Aio jeden Morgen den Dom aufzusuchen pflegte. Und beim letzten Mord, dem an Gerswind, muß er gewußt haben, daß sich diese mit Odo treffen wollte.
Und damit komme ich zum dritten Punkt meiner Überlegungen: Der Mörder lebt am Hof. Er hat an der Jagd teilgenommen, und er konnte sich ungehindert in der Pfalz bewegen. Ich gehe sogar soweit zu behaupten, Hoheit, daß er sich in Eurer nächsten Umgebung befindet. Den Männern Eurer Wache ist sein Anblick so vertraut, daß er ihnen an dem Abend, als Gers wind ermordet wurde, nicht auffiel."
„Ist das alles?" fragte Bischof Theodulf.
„Nein." Hathumar holte Luft. „Es gibt noch einen vierten Punkt. Natürlich habe ich die Einwände, die der Marschall und Bischof Theodulf erheben, erwartet. Ich habe mich selbst gefragt, was das Verbindende der Morde sein könnte. Und jetzt glaube ich, es entdeckt zu haben."
„Laß hören!" drängte Karl.
„Ihr seid es, Hoheit."
„Was sagst du da?" fuhr der König auf.
„Alle drei Mordopfer, und ich bitte dabei zu bedenken, daß es eigentlich Erzbischof Hildebald treffen sollte, kannten sich zwar nicht untereinander, aber sie standen oder stehen Euch nahe. Graf Bernhard war Euer Freund, Erzbischof Hildebald ist Euer Erzkappelan, und Gerswind schließlich."
Hathumar verstummte. Auch Giselher und Bischof Theodulf schwiegen verblüfft.
Theodulf räusperte sich. „Nicht schlecht, junger Mönch. Ich glaube, ich habe dich unterschätzt. Deine These ist verwegen und gleichzeitig von bestechender Schärfe."
„Danke, Exzellenz."
„Die viel entscheidendere Frage lautet jedoch: Wer ist der Täter? Hast du uns auch da einen Vorschlag zu unterbreiten?"
„Nein, darauf weiß ich keine Antwort", sagte Hathumar.
„Schade. Dann müssen wir fortan damit rechnen, das nächste Opfer zu werden."
„Mit Ausnahme des Mörders selbst." Der Mönch schaute den Bischof ausdruckslos an. „Immerhin haben wir einen Anhaltspunkt: Der Täter konnte sich einen Skorpion beschaffen. Also hat er Verbindungen zum Süden oder stammt selbst von dort."
Theodulf lächelte. „Willst du mich beschuldigen, Bibliothekar? Weil ich aus Spanien stamme und zu der Jagdgesellschaft gehörte, bei der Graf Bernhard starb?" „Das liegt nicht in meiner Absicht, Exzellenz", sagte Hathumar ruhig.
„Was geht hier vor?" fragte Karl.
„Der Mönch hält mich für den Mörder, aber er traut sich nicht, es zu sagen", erklärte der Bischof.
Der König starrte mit offenem Mund von einem zum anderen. „Ist das wahr?"
Hathumar senkte den Kopf. Nur mit Mühe konnte er seine Enttäuschung verbergen. Er hatte gehofft, daß seine Andeutung Bischof Theodulf aus dem Gleichgewicht bringen und zu einer unachtsamen Äußerung verleiten würde.
„Nehmt es ihm nicht übel!" sagte Theodulf großmütig. „An seiner Stelle würde ich vielleicht ähnliche Schlüsse ziehen."
Wie geschickt, dachte Hathumar. Indem er sich auf meine Seite stellt, macht er sich unangreifbar.
„Bischof Theodulf ist über jeden Zweifel erhaben", polterte Karl. „Und ihr zwei seid mir dafür verantwortlich, daß der Spuk endlich aufhört. Es darf keine weiteren Morde geben, verstanden? Bringt mir den Bastard, der dahintersteckt, und ich werde euch reich belohnen."
Hathumar und Giselher verbeugten sich.
Odo hatte aufmerksam zugehört.
„Dann wird mich der König nicht hinrichten lassen?" fragte er ängstlich.
Hathumar seufzte. „Vorläufig nicht. Aber alles hängt davon ab, daß ich den Mörder finde."
„Das wirst du doch, oder?" bettelte Odo. „Du bist so klug, Hathumar, viel klüger als ich."
„Das Problem liegt woanders", sagte Hathumar nüchtern. „Ich bin davon überzeugt, daß der Täter eine hochgestellte Persönlichkeit am Hofe ist. Ich dagegen bin nur ein kleiner Mönch, der aus Sachsen stammt. Mir fehlt die Macht, das zu tun, was ich für richtig halte." Daß er den Bischof von Orleans im Verdacht hatte, brauchte Odo nicht zu wissen.
Odos Unterlippe zitterte. Von dem kraftstrotzenden Burschen, der vor wenigen Nächten mit seinem Liebesabenteuer geprahlt hatte, war nicht mehr viel übrig geblieben.
„Laß mich nicht im Stich, Hathumar! Ich will nicht so sterben, nicht als ehrloser Verbrecher. Ich habe eine Dummheit begangen, das ist wahr. Ich hätte auf dich hören sollen. Weißt du, was die Wächter sagen? Man wird mich an den Schweifen von vier Pferden festbinden und die Pferde auseinanderjagen."
Hathumar legte seine Hand auf die Schulter des Freundes. „Ich lasse dich nicht im Stich, Odo."
„Warum kann nicht der Diener des Bischofs von Urgelis der Täter sein?" redete Odo weiter. „Er ist doch in der Nacht geflohen, als Gers wind ermordet wurde."
„Er ist genauso unschuldig wie du. Außerdem hat man ihn noch nicht gefunden."
Hathumar wirkte geistesabwesend.
„Was ist?" fragte Odo.
„Mir ist gerade etwas eingefallen, das ich überprüfen muß."
Der Mönch stand auf. „Ich besuche dich, sobald ich kann. Du darfst die Hoffnung nicht aufgeben!"
Odo nickte tapfer.
Felix von Urgelis lächelte, als er Hathumar sah. „Sei willkommen, junger Mönch! In diesen Tagen besuchen mich nicht viele Menschen. Um ehrlich zu sein: Niemand klopft an meine Tür. Ich lebe wie ein Eremit."
Hathumar blieb stehen. „Aio ist unschuldig."
„Ich weiß, daß er unschuldig ist", sagte Felix sanft. „Er ist so unschuldig wie ein Lamm. Niemals könnte er einem Menschen etwas zuleide tun."
Aus dem oberen Stockwerk drang ein Geräusch. Hathumar tat so, als habe er nichts gehört.
„Falls Ihr ihn seht, sagt ihm, daß er sich noch eine Weile verstecken soll. Ich hoffe, daß wir den Mörder bald überführen können."
„Ich werde es ihm sagen."
Hathumar wandte sich zum Gehen. „Und wenn ich Euch etwas raten darf, Felix: Dieses Haus ist kein sicheres Versteck. Die scara des Königs könnte hier auftauchen und nach Aio suchen."
Felix blickte zu Hathumar auf. „Er wird erfreut sein, von deinen Ratschlägen zu hören."
„Ich habe nichts gesagt", erwiderte Hathumar. „Ich war nicht einmal hier."
Felix grinste. „Ich habe dich bereits vergessen."
Dann suchte Hathumar den Bäcker, der Aio an jenem Morgen gesehen hatte, als Bischof Odoaker von einem Skorpion gestochen wurde.