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Das Pferd genoß die Bewegung. Es hatte die letzten Wochen fast ausschließlich im Stall gestanden, jetzt trabte es locker und leicht durch die sächsischen Wälder.
Hathumar beugte sich vor und suchte nach Spuren. Auf dem ausgetrockneten Waldboden waren Hufabdrücke nur schwer zu erkennen. Ein kräftiger Regenguß in der vergangenen Nacht hätte ihm die Aufgabe leichter gemacht.
Doch nach und nach fühlte er sich sicherer. Als Junge hatte er seinen Vater bei der Jagd begleitet. Beinahe verschüttete Erinnerungen an das, was ihm sein Vater beigebracht hatte, kehrten zurück. Er achtete auf frisch zersplitterte Ästchen und umgeknickte Zweigspitzen in Schulterhöhe von Pferden.
Am frühen Morgen war Hathumar zur Pfalz gegangen, um Giselher zur Rede zu stellen. Aber der hatte sein Gemach bereits verlassen.
Der Marschall wolle ausreiten, sagte ein Diener.
„Allein?" fragte der Mönch.
Der Diener bejahte.
Hathumar überlegte, ob er zu den königlichen Ställen gehen sollte. Vielleicht würde er den Freund dort noch erwischen. Dann entschied er sich anders. Mehr seinem Gefühl als der Vernunft folgend, holte er sein eigenes Pferd aus dem Stall des Klosters und machte sich an die Verfolgung, nachdem er sich bei den Stallknechten erkundigt hatte, in welche Richtung der Marschall davongeritten war.
Was hatte Giselher vor? Je länger der Ritt dauerte und je tiefer er in die sächsischen Wälder führte, desto merkwürdiger kam Hathumar die Sache vor. Für einen kleinen Ausritt am Morgen, zur Belebung des Geistes und der Glieder, hatten sie sich viel zu weit von Paderborn entfernt. Und gegen einen Trupp Räuber hatte ein einzelner Mann, mochte er auch jung und bewaffnet sein, keine Chance.
Einen Augenblick später fiel Hathumar ein, daß dieselbe Überlegung auch auf ihn zutraf, zumal er die Kutte eines katholischen Mönches trug. Hier in der Gegend gab es genügend unzufriedene Sachsen, die nicht gut auf die katholische Kirche zu sprechen waren.
Hathumar schüttelte den Gedanken ab. Er war zu neugierig, um die Verfolgung abzubrechen. Erst mußte er herausfinden, was Giselher im Schilde führte.
Zwei Stunden später öffnete sich der Wald zu einer Brachlandschaft. Und weit hinten, am Abhang eines kleines Hügels, stand eine Reihe von Zelten. Hathumar sah Krieger, die an Lagerfeuern kauerten, während neben dem Zeltlager eine Herde Pferde graste. Er konnte die Feldzeichen der Männer nicht erkennen, aber in einem Punkt war er ganz sicher: Es handelte sich nicht um Franken.
Und plötzlich fiel ihm ein, warum ihm die Landschaft so bekannt vorkam: Das Dorf, in dem er aufgewachsen war, lag ganz in der Nähe. Sein Herz schlug schneller. Nach mehr als zehn Wintern war er in seine Heimat zurückgekehrt.
Hathumar lenkte sein Pferd in den Wald zurück. Giselhers Spuren führten geradewegs zum Lager der fremden Krieger.
Fast jeder Baum kam ihm jetzt vertraut vor. Als Kind war er hier durch den Wald gestreift, mit Thorbald und den anderen Jungen seines Dorfes. Neben der Freude über das Wiedererkennen wuchs ein Gefühl der Beklommenheit. Was würde er vorfinden? Lebten seine Eltern noch? Oder war das Dorf in den Kriegswirren untergegangen?
Voller Unruhe trieb Hathumar sein Pferd an. Und dann sah er das Dorf vor sich liegen. Es war viel kleiner, als er es in Erinnerung hatte. Nicht mehr als zwanzig Holzhäuser an den Ufern eines schmalen Flusses. Das Dorf lag in einem Tal, umgeben von einer Hügelkette. Er suchte die Häuser ab, einige waren neu gebaut worden. Ja, dort, am hinteren Ende, stand sein Elternhaus.
Hathumar schlug dem Pferd die Hacken in die Seiten und preschte den Hügel hinunter. Einige Frauen, die auf den Feldern arbeiteten, schauten auf. Ihre Blicke verfolgten den Mönch, der mit wehender Kutte durch das Dorf ritt. Schreiende Kinder rannten hinter ihm her, bis er vor dem Grubenhaus vom Pferd sprang und das Tier festband.
„Ein Mönch", brüllten die Kinder. Die mutigeren riefen ihm zu: „Wer bist du? Was machst du hier?"
Vom Geschrei aufgestört, öffnete eine junge Frau die Tür. In ihrem Arm hielt sie einen Säugling. Hathumar und die Frau schauten sich an.
„Gerhild." Seine Augen wurden feucht.
„Hathumar?" In ihrem Blick lag ungläubiges Erstaunen.
Er nickte. Dann umarmte und küßte er seine Schwester.
„Unsere Eltern sind vor drei Wintern gestorben", berichtete Gerhild. „Zuerst Mutter, und einige Monate danach Vater. Ich glaube, er wollte nicht mehr leben, als sie tot war."
Hathumar wischte sich eine Träne aus dem Auge. Sie saßen auf dem Strohlager mitten in der Grube. Zwei kleine Kinder, ein Mädchen und ein Junge, tollten um sie herum.
„Auch Fredegard lebt nicht mehr", erzählte Gerhild weiter. „Sie ist im Wochenbett gestorben, nach der Geburt ihres siebten Kindes. Ihr Mann ist mit den Kindern fortgezogen. Ja, Hathumar, wir sind die einzigen, die von unserer Familie übrig geblieben sind."
Er betrachtete die kräftige Gestalt seiner jüngeren Schwester. Sie war noch keine zwanzig Jahre alt, und doch hatte sie schon fünf Kinder zur Welt gebracht. Zwei von ihnen, hatte sie ihm erzählt, waren kurz nach der Geburt gestorben.
Nun war Hathumar an der Reihe. Er schilderte seine Erlebnisse als Geisel, die lange Reise in den äußersten Westen des Frankenreiches, das Klosterleben in Corbie, wie seine Liebe zu den Büchern entstanden war und daß ihn der Abt zum Bibliothekar berufen hatte.
„Du kannst lesen und schreiben?" staunte Gerhild.
„In mehreren Sprachen", sagte er stolz, bereute seinen Hochmut und fügte bescheidener hinzu: „Ich hatte das Glück, von einem guten Lehrer unterrichtet zu werden. Jeder kann lesen und schreiben lernen, weißt du?"
Gerhild schüttelte fassungslos den Kopf. „Und warum bist du hergekommen? Du willst doch nicht hier leben, oder?" Sie schaute ängstlich auf seine Kutte. „Es gibt hier etliche, die christliche Priester nicht mögen."
„Ich bin kein Priester. Ich bin ein Mönch. Ich werde wieder in mein Kloster zurückkehren." Dann erzählte er von der Reise nach Paderborn und dem Auftrag, den ihm Abt Adalhard erteilt hatte. Schließlich erwähnte er Giselher. „Du kennst Giselher. Er ist mit mir als Geisel fortgegangen. Früher hieß er Thorbald."
Gerhild zuckte zusammen. „Thorbald, ja. Ich habe von ihm gehört."
„Das kann nicht sein. Thorbald oder Giselher ist der Marschall des Königs, ein einflußreicher Mann am Hof."
„Versteh mich nicht falsch, Hathumar", sagte sie zögernd.
„Ich bin getauft wie alle anderen. Trotzdem habe ich den christlichen Glauben nie richtig verstanden. Es gibt nur einen Gott, aber der ist gleichzeitig drei. Gott ist kein menschenähnliches Wesen, aber er hat einen menschlichen Sohn. Das ist für eine einfache Frau zu hoch."
Hathumar lächelte. „Es ist nicht einfach zu begreifen, ich weiß. Erinnerst du dich an die Urkraft, von der man uns erzählt hat, als wir Kinder waren? Jene Kraft, die vor allem anderen da war, vor den Göttern und vor den Riesen? Gott ist so ähnlich wie diese Kraft. Er hat die Welt erschaffen, er sieht uns und lenkt unsere Taten. Anders als die sächsischen Götter, die Fehler und Schwächen haben, steht er für das Gute. Und weil er uns liebt, hat er uns seinen Sohn gesandt, der den Menschen die richtige Lehre verkündete."
Gerhild nickte, schien aber nicht recht bei der Sache zu sein. „Es ist nicht so sehr der Glaube, ob viele Götter oder einer. Es ist der Zehnt, der die Leute aufbringt. Daß wir den zehnten Teil unserer Ernte bei der Kirche abliefern müssen. Mein Mann und ich halten uns da raus. Wir wollen keinen Krieg."
Hathumar schaute sie verständnislos an. „Krieg? Wovon redest du?"
Oben öffnete sich die Tür, und ein untersetzter Mann mit breiten Schultern stieg in die Grube hinab. Seine rechte Hand lag auf dem Griff des Messers, das in seinem Gürtel steckte. Feindselig starrte er Hathumar an.
„Wer ist das?" fragte der Mann Gerhild. „Was macht der in meinem Haus?"
Hathumar und Gerhild standen auf.
„Das ist mein Bruder Hathumar", stellte Gerhild vor. „Die Franken haben ihn vor vielen Wintern als Geisel genommen." Und zu Hathumar gewandt: „Wolfgang, mein Mann."
„Ich freue mich, dich zu sehen", sagte Hathumar freundlich.
Wolfgangs Miene blieb abweisend. „Bruder oder nicht, mit deiner Kutte bringst du uns nur Ärger. Ich möchte, daß du so schnell wie möglich verschwindest."
Hathumar schluckte. Er bemühte sich, seine Enttäuschung nicht zu zeigen. „Es tut mir leid. Ich wollte euch keinen Ärger bereiten."
Gerhild ging zu ihrem Mann. „Rede nicht so mit ihm! Er ist gekommen, um mich zu besuchen."
„Ach was." Wütend zeigte Wolfgang auf den Mönch. „Schau ihn dir an! Mit seiner verdammten Kutte ist er mitten durchs Dorf geritten. Alle haben ihn gesehen. Es dauert nicht lange, dann erfährt auch Thorbald davon."
Thorbald! Hathumar fragte sich, welcher Thorbald gemeint war. Es konnte sich doch unmöglich um Giselher handeln.
„Auf dem Weg hierher habe ich ein Heerlager gesehen", sagte er beiläufig. „Weißt du, wer sich dort versammelt?"
„Nein." Wolfgang schaute zu Boden. „Das geht uns nichts an."
„Ich habe dir doch gesagt, daß wir damit nichts zu tun haben", pflichtete Gerhild ihrem Mann bei.
Hathumar verstand kein Wort, außer, daß die beiden ihm nicht vertrauten. Es blieb ihm keine andere Wahl, er mußte selbst herausfinden, was in dem Heerlager vor sich ging. Aber in der Mönchskutte würde er sofort auffallen.
„Eine Bitte habe ich noch, bevor ich verschwinde."
Hathumar hatte sein Pferd angebunden und ging zu Fuß weiter. An die neue Kleidung mußte er sich erst noch gewöhnen. Er trug Hosen und ein leinenes Oberkleid, die Tracht der sächsischen Freien. Die Kleidungsstücke stammten von Wolf gang und klebten dem großgewachsenen Mönch am Leib. Doch im Schutz der Dunkelheit würde es niemand bemerken.
Das Heerlager war seit dem Mittag gewachsen. Eine große Zahl von Kriegern hatte sich zwischen den Lagerfeuern versammelt. Die Männer lauschten den Worten ihres Anführers, der auf einem offenen Karren stand und mit lauter Stimme redete.
Hathumar näherte sich der Menge und mischte sich unter die hinteren Reihen. Abgesehen davon, daß er keine Waffen trug, unterschied er sich nicht von den anderen Sachsen.
Schon an der Stimme hatte er Giselher erkannt. Der Marschall hatte seine Hofkleidung abgelegt und trug ebenfalls sächsische Tracht.
„Bei Wodan und Donar", rief Giselher, „wir werden die Schmach von Verden tilgen. Die Franken sollen lernen, daß sie unser Volk niemals besiegen können. Sie glauben, weil Herzog Widukind* und andere Edle dem König der Franken die Füße geküßt haben, seien sie die Herren unseres Landes. Sie werden ihren Irrtum bitter büßen. Wir werden sie vom sächsischen Boden vertreiben."
Beifälliges Gemurmel stieg aus der Menge empor.
„Sobald König Karl tot ist", fuhr Giselher fort, „beginnen wir unseren Angriff. Der Tod ihres Herrschers wird die Franken kopflos machen. Sie sind uns an Zahl überlegen, doch unser Mut und unsere Entschlossenheit wird uns zehnfache Stärke verleihen. Am Ende, darauf gebe ich euch mein Wort, werden wir das Schlachtfeld als Sieger verlassen."
„Hoch Thorbald!" schrie die Menge. „Hoch unserem Herzog!"