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Eine weiße Wintersonne strahlte über den sieben Hügeln Roms. Für die Römer war es die kalte Jahreszeit, die Franken dagegen genossen das angenehm milde Klima.
Die drei Männer, die vor den König traten, kamen aus einer noch wärmeren Gegend. Zacharias, der vor vierzehn Monaten aus Paderborn aufgebrochen war, und die beiden griechischen Mönche, die ihn begleiteten, hatten wertvolle Geschenke aus Jerusalem in ihrem Gepäck. Zum Zeichen dafür, daß der Patriarch von Jerusalem, der Hüter der heiligsten Stätten der Christenheit, den Frankenkönig als obersten Schutzherrn anerkannte, überbrachten sie Karl den Schlüssel zum heiligen Grab sowie den Schlüssel und die Fahne der Stadt Jerusalem.
Fast noch symbolischer als die Geschenke war der Zeitpunkt ihres Eintreffens in Rom. Man schrieb den 24. Dezember des Jahres 800. Am nächsten Tag sollte Karl im Petersdom zum Kaiser gekrönt werden.
Seit dem Treffen in Paderborn war viel Zeit vergangen. Karl hatte es nicht eilig gehabt, nach Rom zu kommen. Die Untersuchungskommission unter der Leitung von Hildebald von Köln und Arn von Salzburg konnte Papst Leo nicht entlasten, an der Nordseeküste drohten die Wikinger mit Überfällen, im Juni starb Karls dritte Frau Luitgard, und schließlich gab es Weissagungen, wonach das Jahr 800 das Ende der Welt bringen werde.
Erst Anfang August versammelte der König seine Krieger in Mainz, um mit ihnen die Alpen zu überqueren. Und bevor er in Rom einzog, blieb er noch eine Weile in Ravenna, der alten Königsstadt an der Adria.
Von hier aus hatte Theoderich, der Ostgote, Italien regiert. Hier stand sein Mausoleum und das Baptisterium der Arianer. Karl bewunderte einige der ältesten und schönsten Kirchen der Welt, die mit herrlichen Mosaiken ausgestatteten Basiliken San Vitale und Sant' Apollinare Nuovo, sowie das Mausoleum der Galla Placidia.
Insgeheim fürchtete sich der König vor dem, was ihn in Rom erwartete. Der römische Adel verlangte noch immer, daß er den Papst absetzte. Sein engster Berater Alkuin war ein entschiedener Gegner der Absetzung. Karl befand sich in einer Zwickmühle. So oder so mußte die Kaiserkrönung mit einem Makel behaftet sein. Würde er den Papst absetzen und sich von seinem neu gewählten Nachfolger krönen lassen, würde das mißtrauische Byzanz und die übrige Welt annehmen, er habe den Caesarentitel erpreßt.
Auf der anderen Seite konnte er nicht einfach über die Verfehlungen Leos III. hinweggehen. Die Kaiserkrone aus einer unwürdigen Hand zu empfangen, wäre der denkbar schlechteste Beginn der neuen Kaiserdynastie.
Endlich, am 23. November 800, näherte sich Karl Rom. Zwölf Meilen vor der Stadt empfing in Leo mit großem Gefolge und höchsten Ehren.
Tags darauf fand im Vorhof des Petersdomes ein zweiter Empfang statt. Scharen von Fremden und Bürgern waren gekommen, um dem Ankommenden Lob zu singen. Die höchsten Würdenträger der katholischen Kirche begleiteten den König die Marmortreppe hinauf, wo ihn der Papst stehend erwartete.
Aus der pompösen Feier war nicht abzulesen, daß sich diesmal ein Richter und ein Angeklagter begegneten. Eine Woche später, am 1. Dezember, berief Karl eine Versammlung von Klerikern und Adeligen nach Sankt Peter ein und verkündete, daß alle dem Papst zur Last gelegten Verbrechen untersucht werden müßten. Welche Bedeutung Karl dem Gerichtsverfahren beimaß, ließ sich daran erkennen, daß er selbst den Vorsitz übernahm.
Die Versammlung tagte drei Wochen. Es war ein regelrechter Prozeß, bei dem jeder einzelne Anklagepunkt beraten wurden. Erzbischof Arn von Salzburg übernahm die Anklage, Erzbischof Rikulf von Mainz und Bischof Theodulf von Orleans verteidigten den Papst.
Natürlich wußte Karl von vorneherein, daß es nicht gelingen würde, den Papst von allen Vorwürfen freizusprechen. Doch er wollte eine Absetzung auf jeden Fall vermeiden, deshalb hatte er mit seinen Beratern einen Ausweg ersonnen.
Als es am Ende nicht zu einem eindeutigen Urteil kam, schlug der König vor, Leo solle einen Reinigungseid sprechen. Der Papst müsse schwören, daß die gegen ihn erhobenen Vorwürfe nicht zuträfen.
Es war eine Art Gottesurteil, ein uralter germanischer Brauch. Mit dem Reinigungseid überließ man es Gott, den Papst im Fall einer Lüge zu strafen.
Leo nahm den Vorschlag an. Die Prozedur war demütigend, aber sie gab ihm die Möglichkeit, im Amt zu bleiben und seine Gegner vernichtend zu schlagen.
Und so bestieg Leo III. am 23. Dezember die Kanzel des Petersdomes, um die vorbereitete Erklärung vorzulesen: „Weithin, teuerste Brüder, wurde gehört und verbreitet, daß schlechte Menschen gegen mich aufgestanden sind, mich schwerer Verbrechen beschuldigen und mich verstümmeln wollten. Zur Untersuchung dieser Angelegenheit ist der gnädigste und erhabenste König Karl mit seinen Bischöfen und Vornehmen in diese Stadt gekommen. Deswegen reinige ich, Leo, Papst der heiligen römischen Kirche, von niemandem verurteilt noch gezwungen, mich aus freiem Willen in eurer Gegenwart vor Gott, der mein Gewissen kennt, von dem Vorwurf, jene verbrecherischen und verruchten Dinge, die man mir vorwirft, getan oder befohlen zu haben. Gott, vor dessen Gericht wir kommen werden, vor dessen Angesicht wir stehen, ist mein Zeuge. Und ich tue dies freiwillig, um jeden Verdacht auszuräumen, nicht weil es in den kirchlichen Satzungen vorgeschrieben wäre oder ich meinen Nachfolgern, Brüdern und Mitbischöfen dies als Gewohnheit oder Pflicht auferlegen wollte."
Damit war das letzte Hindernis auf dem Weg zur Kaiserkrönung ausgeräumt.
Nachdem Karl Zacharias und den beiden griechischen Mönchen gedankt hatte, zog er sich in seine Gemächer zurück. Seine Gedanken kreisten um den folgenden Tag, der die Erfüllung seines Lebenstraumes bringen würde. Auch in der Vergangenheit hatte es schon Germanen auf dem römischen Thron gegeben, doch er würde der erste römische Kaiser sein, der nicht in Rom oder Konstantinopel residierte. Seine Hauptstadt war das mitten in Austrien gelegene Aachen, und er wollte nicht das alte Römische Reich fortsetzen, sondern ein neues Reich begründen. Als neuer Konstantin würde er ein christliches Reich regieren, den Kaisern in Byzanz ebenbürtig, die ihn als Bruder anreden mußten.
Mit Leo III. war die Krönungszeremonie abgesprochen. Sie sollte nach dem byzantinischen Ritual erfolgen. In Byzanz bestand die Kaiserkrönung aus drei Teilen: der Akklamation durch die Volksmenge, der eigentlichen Krönung, schließlich der kniefälligen Verehrung des neuen Kaisers durch den Patriarchen.
Für Karl war die Einhaltung der Formalitäten wichtig. Er wußte, daß man in Konstantinopel die Nase rümpfen und seine Kaiserkrönung als Usurpation empfinden würde. Kaiserin Irene und ihre Höflinge sollten erfahren, daß er nicht der Barbar war, für den sie ihn hielten.
Am ersten Weihnachtstag des Jahres 800 betrat der König mit seinem Gefolge den Petersdom. An seiner Seite war Karl, sein ältester Sohn. Vater und Sohn gingen bis zum Altar, legten ihre Kronreife auf den Opfertisch und knieten nieder.
Leo III. zelebrierte die Weihnachtsmesse. Niemand ahnte, daß er den erzwungenen Reinigungseid noch nicht verwunden hatte. Drei Wochen lang war er der Gejagte gewesen. Drei Wochen lang hatte er sich einem in seinen Augen unwürdigen Verfahren unterziehen müssen. Jetzt und hier, im Petersdom, war die Gelegenheit gekommen, die eigene Macht zu demonstrieren. Und so beschloß der Papst, das byzantinische Ritual abzuändern und bei der Krönung selbst die Hauptrolle zu übernehmen.
Kaum war das Schlußevangelium verklungen, Karl und sein Sohn lagen noch auf den Knien, da trat der Papst an den Altar, ergriff das Diadem und setzte es dem König aufs Haupt. Dann forderte er die Anwesenden auf, dem erhabenen Karl, dem von Gott gekrönten großen und friedenbringenden Kaiser dreimal zu akklamieren. Als das geschehen war, kniete Leo vor dem neuen Kaiser nieder.
Karl war überrumpelt worden. Ihm blieb nichts anderes übrig, als die Huldigung entgegenzunehmen. Er war jetzt Imperator Romanorum, aber nicht aus eigener Kraft, sondern durch päpstlichen Willen.
Als der Kaiser die Kirche verließ, schäumte er vor Wut.