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I. KapitelEin Kloster in Neustrien

Mitten in der Nacht hatten sich die Mönche in der Basilika versammelt. Beginnend mit den Vigilien, fortgesetzt mit Schriftlesung und Gebet, endend mit den gesungenen Laudes, hatten sie sich auf den Tag vorbereitet. Jetzt, nach stundenlangem Gebet und Gesang, verließen die Klosterbrüder die Kirche. Die Sonne erschien am Horizont des Frühsommertages, und es war Zeit, sich der Arbeit und den Studien zu widmen.

Das Kloster Corbie lag in Neustrien, dem westlichsten der fränkischen Königreiche, nur wenige Tagesritte vom Meer entfernt. Mehr als dreihundert Menschen lebten hinter den Klostermauern, regiert vom Abt Adalhard und seinen officiales.*

Der junge Mönch blieb vor dem Klostergarten stehen. Der Duft von Rosen lag in der Luft, Apfelbäume spendeten Schatten, und in mehreren Beeten wuchsen die Heilkräuter, die der Krankenbruder benötigte: Stabwurz war gut gegen Gicht, Fenchel half gegen Verstopfung, Husten und Augenleiden, Kerbel konnte Blutungen stillen, Absinth schlug das Fieber nieder.

Der junge Mönch hatte dem Krankenbruder ein paar Jahre bei der Arbeit geholfen, er kannte die Geheimnisse der Kräuter, doch in diesem Moment dachte er nicht an die praktische Wirkung der Pflanzen, sondern genoß die Schönheit der Natur. Er lebte gern im Kloster, im Gegensatz zu vielen anderen, die nicht freiwillig hergekommen waren. Freie brachten ihren dritten oder vierten Sohn, weil das Erbe nicht für alle reichte, Adelige schoben ihre unehelichen Kinder ab, manch anderer klopfte an die Klostertüren, weil er Haus und Gut verloren hatte und nicht mehr wußte, wie er sich und seine Familie ernähren sollte.

Und einige kamen auch aus politischen Gründen. Desiderius, der letzte Langobardenkönig, von Karl aus dem italienischen Pavia vertrieben, hatte seine letzten Lebensjahre in Corbie verbracht. Der junge Mönch konnte sich an den verbitterten Langobarden erinnern, der Luxus und Pracht mit einer kleinen Zelle und schwarzer Mönchskutte vertauschen mußte.

Etlichen Brüdern und Novizen fiel es nicht leicht, nach den Regeln des heiligen Benedikt von Nursia zu leben. Gehorsamkeit gehörte zu den obersten Pflichten, und wer nicht rechtzeitig zu den Gebeten erschien oder sich den Befehlen der Älteren widersetzte, der wurde hart bestraft. Schläge mit Ruten gehörten zum Klosteralltag.

Auch der junge Mönch hatte sich am Anfang widersetzt, auch er war nicht aus eigenem Entschluß dem Orden beigetreten. Seine Heimat befand sich im fernen Osten, Krieger hatten ihn verschleppt und der Obhut des Novizenmeisters von Corbie übergeben. Wie schrecklich waren die ersten Tage gewesen, die Abende in der engen, finsteren Zelle, das nächtliche Wecken, das stundenlange Ausharren in der eiskalten Kirche, umgeben von Menschen, die in einer fremden Sprache sangen und redeten. Wie sehr hatten ihm die vertrauten Gesichter gefehlt, die Gerüche des Waldes, das ungezügelte Umherstreifen. Doch nach den Monaten des Aufruhrs, in denen er Fluchtpläne schmiedete und von heftigem Heimweh gepackt wurde, hatte er eine neue Liebe entdeckt.

Schnell lernte er lesen und schreiben, bald sprach und schrieb er fließend Latein, und zum Erstaunen seines Lehrers eignete er sich auch gute Kenntnisse des Griechischen ohne Schwierigkeiten an. Die anderen Schüler beneideten und bewunderten ihn, dem jungen Mönch kam es jedoch nicht auf Anerkennung an, seine Leidenschaft galt den Büchern und alten Handschriften, die in der Klosterbibliothek lagerten. Sobald er dazu in der Lage war, vertiefte er sich in Schriften über Theologie und Philosophie, drang in Welten ein, die er auf dem eigentlich für ihn vorgesehenen Lebensweg nie kennengelernt hätte.

Seine Begabung für Sprachen und seine schnelle Auffassungsgabe sprach sich im Kloster herum, der Abt selbst empfing ihn zu Gesprächen und gab ihm Hinweise für weitere Studien. Ohne daß er es darauf angelegt hätte, wurde er zu einem Liebling von Adalhard. Und Abt Adalhard gehörte zu den Vornehmen und Mächtigen des Reiches.

Häufig hielt sich der Abt am Hof des Frankenherrschers auf, er war ein Vetter Karls und beriet den König in Fragen der Bildung. Vehement forderte er die Einrichtung von mehr Schulen, nur durch Förderung von Bildung und Wissenschaft, Kunst und Forschung, so seine Rede, könnte das als barbarisch geltende Frankenreich aus dem Schatten Roms und Byzanz' heraustreten.

Für den jungen Mönch war das Wohlwollen des Abtes von unschätzbarem Wert. Die älteren Brüder wagten nicht, ihn ihrer Willkür und ihren Demütigungen auszusetzen. Und er durfte an dem Ort arbeiten, den er am meisten schätzte: in der Bibliothek. Hier kopierte er sorgsam alte Schriften und übersetzte griechische Werke ins Lateinische. Und wenn er Zeit fand, was allerdings nicht allzu oft vorkam, verfaßte er Gedichte.

Nur ganz selten, in Augenblicken wie diesen, dachte er an die ferne Heimat und die wilden Jahre seiner Kindheit.

„Hathumar!"

Der junge Mönch zuckte zusammen. Er sah die rundliche Gestalt des Abtes auf sich zueilen. Trotz der morgendlichen Frische hatte Adalhard bereits gerötete Wangen, und auf seiner Stirn glänzte Schweiß. Hathumar senkte den Kopf und machte sich innerlich auf eine Zurechtweisung gefaßt. Müßiggang widersprach den Regeln Benedikts. Was stand er auch hier herum, in den Anblick des Gartens versunken und seinen Gedanken nachhängend?

„Hathumar, wir treten eine Reise an." Der Abt schnaufte. „Gleich morgen früh."

Hathumar verstand nicht.

„König Karl hat mich gerufen. Viele Bischöfe, Grafen und andere Edle werden ebenfalls erwartet. Und du wirst mich begleiten. Du wirst den König sehen, Hathumar, ja, vielleicht wirst du sogar an seiner Tafel sitzen."

„Warum gerade ich?" fragte Hathumar verwirrt.

„Die Versammlung findet in Paderborn statt, im Land der Sachsen. Ich brauche dich als Übersetzer. Du sprichst die lingua Romana* der Gallier, das Theodisc* der Ostfranken, und du verstehst Sächsisch, die Sprache deiner Vorfahren."

Paderborn. Ringsum lebten die Engern, einer der vier sächsischen Stämme. Der Ort, an dem Hathumar geboren wurde, war nicht weit entfernt.

Der Gedanke, den geregelten Tagesablauf und die Abgeschlossenheit des Klosters zu verlassen, machte ihm Angst. Oder war es die Ungewißheit, wie er es aufnehmen würde, das Land seiner Sippe wiederzusehen?

„Ich bin gerade bei einer Übersetzung", stammelte er. „Ich denke, es wäre besser..."

Adalhard wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Willst du mir widersprechen?"

„Nein, Vater." Hathumar verbeugte sich. „Mein Platz ist da, wo Ihr es wünscht."

„Schön, dann mach dich bereit. Graf Ascarius und seine Männer werden uns Geleit geben." Adalhard schnappte nach Luft. „Ach ja, da ist noch etwas. Ich möchte, daß du über die Zusammenkunft in Paderborn ein Gedicht schreibst, ein Epos, das ich dem König schenken kann."

Hathumar begriff, warum ihn der Abt ausgewählt hatte, ließ sich aber nichts anmerken. Im Hofkreis Karls gab es einige Dichter, die den König mit ihren Versen unterhielten. Offenbar beabsichtigte Adalhard, die Hofdichter auszustechen. Und da er selbst nur ein mäßiger Poet war, wollte er wohl die Zeilen des Bibliothekars als seine eigenen ausgeben.

Aus der nebenan gelegenen Küche drangen laute Schmerzensschreie. Hathumar erkannte die Stimme Lamberts, eines neunjährigen Novizen, der erst seit wenigen Wochen im Kloster war. Der Bibliothekar mochte den Jungen, der unter der plötzlichen Einsamkeit litt und häufig einen abwesenden Eindruck machte, was ihm sein Lehrmönch als Widerspenstigkeit auslegte.

Der Abt runzelte die Stirn, machte aber keine Anstalten, die Züchtigung zu unterbinden.

„Sehr gern will ich das Epos für Euch schreiben", sagte Hathumar rasch. „Doch gewährt mir eine Bitte!"

Adalhard wedelte unwirsch mit der Hand. „Sprich!"

„Der Knabe, der gerade geschlagen wird, Lambert, hat einen gütigeren Lehrmönch verdient als Edelbert. Lambert ist ein kluger Kopf, man muß ihm nur etwas mehr Zeit geben, sich an die Regeln zu gewöhnen."

Adalhard überlegte. Einerseits überschritt Hathumar eindeutig seine Kompetenz, indem er ihm solche Vorschläge machte. Andererseits wußte der Abt, daß der Bibliothekar nicht dumm war und früher oder später seine Absichten durchschauen würde.

„Na gut. Ich werde mit dem Novizenmeister darüber reden." Adalhard nickte kurz und wandte sich ab. Die Unterredung war beendet.

Hathumar stürzte in die Küche. Lambert lag mit hochgeschobener Kutte auf dem Tisch, das nackte Gesäß war bereits mit roten Striemen bedeckt. Der Junge schluchzte herzerweichend. Unbeeindruckt stand Edelbert daneben und schwang die Rute über dem Kopf.

„Halt!"

Edelbert, das Gesicht rot vor Anstrengung, hielt überrascht inne und starrte Hathumar ungläubig an: „Was ist?"

„Kennst du nicht die Regel, nach der oblati* nicht in Gegenwart des Abtes geschlagen werden dürfen, es sei denn, der Abt ordnet dies ausdrücklich an?"

Edelbert schaute sich verblüfft um. „Ich sehe den Abt nicht."

Hathumar zog Lambert vom Tisch und streifte die Kutte nach unten. „Aber er steht draußen vor dem Fenster und hört dich. Gegenwart ist keine Frage des Sehens, Edelbert."

Er strich dem Jungen über den Kopf und die tränenfeuchte Wange. Dann beugte er sich hinunter und flüsterte ihm ins Ohr: „Tröste dich, Lambert! Du bekommst bald einen anderen Lehrmönch."

„Was redest du da?" fragte Edelbert mißtrauisch.

„Nichts. Ich denke, wir sollten jetzt an die Arbeit gehen."

An diesem Tag schweiften Hathumars Gedanken immer wieder ab. Nur schwer konnte er sich auf den Text konzentrieren, den er übersetzte. Langsamer als sonst kam er voran, indem er Satz für Satz zunächst auf einer Schreibtafel notierte und die korrigierte Fassung dann in feinster Schreibschrift zu Papier brachte.

Hathumar dachte an die weite Reise, die er vor sich hatte: quer durch Neustrien und Austrien, bis weit jenseits des Rheins, in Gegenden, die auch hartgesottene fränkische Krieger das Fürchten lehrten.

Vor vielen Jahren hatte der Mönch die Strecke in umgekehrter Richtung zurückgelegt. Damals war er noch ein Kind gewesen, eine Geisel, die das fränkische Heer begleiten mußte. Die fremden Männer hatten ihm gegenüber kein Mitleid gezeigt, schließlich war er ein Kind jenes Volkes, das den Franken mehr als jedes andere Widerstand leistete. Der endlose Ritt war für ihn eine Qual gewesen.

Dann dachte er an die berühmten Gestalten aus Karls Hofkreis, denen er begegnen würde. Da waren der Westgote Theodulf, Bischof von Orleans, der Erzbischof Arn von Salzburg, ehemals Abt von Elnon-St.-Amand in Flandern, ein geborener Oberbayer, bekannt als der schwarze Arn, ferner der Erzkappelan Hildebald, Erzbischof von Köln, allesamt Ratgeber Karls in kirchlichen wie in weltlichen Dingen. Vielleicht würde auch der Brite Alkuin kommen, Karls wichtigster Ratgeber, ein uralter Mann, der weit in der Welt herumgekommen war. Im Kloster erzählte man sich von den Scharaden, die Alkuin am königlichen Hof in Aachen aufführte, poetische Spiele, bei denen sich Karl und seine Günstlinge in Gestalten der griechischen Antike verwandelten.

Schließlich würde er dem König selbst gegenübertreten, dem Herrscher über das größte Reich, das seit der Glanzzeit des Römischen Imperiums entstanden war. Von Friesland im Norden bis zum Langobardenreich in Italien, von der Spanischen Mark bis zur Pannonischen Mark im Osten, vom großen Meer im Westen bis zur Elbe reichte Karls Einflußgebiet. Mochte es in den beiden anderen Erdteilen, in Asien und Afrika, ebenbürtige Könige geben, in Europa konnte niemand Karl das Wasser reichen. Das einst so mächtige Oströmische Reich war zu einem kümmerlichen Rest zusammengeschrumpft, der Kaiser von Byzanz mußte sich gegen den Ansturm der Sarazenen und Bulgaren wehren.

Im Laufe seiner langen Regentschaft hatte Karl alle Widersacher beseitigt, die jährlichen Kriegszüge erweiterten Stück für Stück, Landstrich um Landstrich das fränkische Herrschaftsgebiet. Auch die Gegner in der eigenen Familie hatte Karl ausgeschaltet, einer Familie, die von Geheimnissen umwittert war.

Selbst die Herkunft und frühe Kindheit des Frankenkönigs lagen im dunkeln. Sieben Jahre war Karl bereits alt, als sein Vater Pippin seine Mutter Bertrada heiratete. Und als Pippin starb, mußte sich Karl das Reich des Vaters mit seinem Bruder Karlmann teilen, dem Lieblingssohn Bertradas. Karlmann ließ Karl mehr als einmal im Stich, und Bertrada spann an einem Bündnis zwischen den beiden Frankenkönigen auf der einen sowie dem Langobardenkönig Desiderius und Herzog Tassilo von Bayern auf der anderen Seite. Sie überredete Karl, die Tochter Desiderius' zu heiraten, obwohl er eine andere liebte.

Erst als Karlmann, gerade zwanzig Jahre alt, starb, zerschlug Karl die familiären Bindungen. Er schickte die Langobardenprinzessin nach Pavia zurück und heiratete die Schwäbin Hildegard. Er riß das Teilreich seines Bruders an sich, während Karlmanns Witwe und Thronfolger zu Desiderius flohen. Er eroberte das Langobardenreich und verbannte Desiderius ins Kloster von Corbie. Schließlich setzte er auch Herzog Tassilo ab und ernannte seinen Schwager Gerold zum Präfekten von Bayern.

Karl trug fortan den Titel König der Franken, König der Langobarden und Patricius der Römer. Er war im Zenit seiner Macht angekommen, und doch nahm er in der Rangfolge der bekannten Welt nur den dritten Platz ein. An erster Stelle kam der Papst, die höchste Autorität der Christenheit, danach der Thronfolger Konstantins des Großen, der Kaiser von Byzanz. Als König mußte Karl jenen beiden Männern den Vortritt lassen.

Die Glocken läuteten zur Komplet. Hathumar verstaute seine Schreibutensilien, stellte das Buch zurück und eilte in die Kirche. Nach der Komplet würde die kurze Nachtruhe beginnen. Und mit dem neuen Tag würde nichts mehr so sein, wie er es jahrein, jahraus gewohnt war.