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Zuerst sahen sie ein Meer von Zelten. Viele Tausende von Kriegern lagerten in der Ebene, zwischen den Zelten waren Pferde angepflockt, und es herrschte ein emsiges Treiben.
„Sieh nur! Welch ein gewaltiges Heer!" rief Odo erfreut.
Hathumar ließ den Blick über die Zelte zu dem Hügel streifen, der sich hinter dem Heerlager erhob. Dort war eine Stadt erbaut, die einzige Stadt, die es im ganzen Sachsenland gab. Er erkannte steinerne Bauwerke und eine große Kirche: die Königspfalz* und der Dom von Paderborn.
Graf Ascarius und Odo verabschiedeten sich von Abt Adalhard und Hathumar, der Graf wollte sich mit seinen Männern dem Heer anschließen.
Als Vetter des Königs stand Adalhard ein besseres Quartier zu.
„In der Stadt gibt es ein kleines Kloster", sagte er zu Hathumar. „Ich denke, wir werden dort einen Platz zum Schlafen finden."
Als sie sich näherten, entdeckte Hathumar, daß die Stadt von einem Burgwall umgeben war, ein mit Hölzern verstärkter Erdwall, vor dem ein kleiner Graben angelegt war. Auf einem befestigten Weg ritten sie in die Stadt hinein. Dicht gedrängt standen Holzhäuser, in denen Handwerker ihren Berufen nachgingen. Durch die geöffneten Türen konnte man Bäcker und Töpfer sehen, Grob-, Gold- und Silberschmiede, sogar Glasbläser, die aus Italien importiertes Glas einschmolzen und daraus neue Kelche machten. Mitglieder des Hofes, Diener, Missionare, feine Damen und einfach gekleidete Handwerkerfrauen eilten über die festgestampften Lehmwege. Und zwischen den Erwachsenen tollten kreischende Kinder.
Hathumar war verwirrt von den vielen Eindrücken.
Adalhard zeigte auf die Kirche. „Es ist bereits die dritte, die der König hat errichten lassen. Ihre beiden Vorgänger sind von den Sachsen zerstört und niedergebrannt worden. Aber ein Mann wie Karl läßt sich nicht beirren. Diese ist noch schöner und größer als die anderen."
Zweifellos, ein gewaltiger Dom. Die dreischiffige Basilika maß vielleicht fünf Latten* in der Breite und zehn Latten in der Länge. Sie hatte eine halbrunde Hauptapsis mit zwei Nebenapsiden, und ihre Fenster bestanden aus echtem Glas. Hathumar nahm sich vor, den Dom so bald wie möglich aufzusuchen.
Vor der Königspfalz hielt der Abt sein Pferd an. Er werde dem König seine Aufwartung machen, sagte er, Hathumar solle solange draußen auf ihn warten. Mit behenden Schritten, die man dem schwergewichtigen Mann gar nicht zugetraut hätte, verschwand Adalhard im Inneren der Anlage.
Hathumar blickte sich um. Das größte Gebäude der Pfalz war eine Aula, die in ihren Ausmaßen fast dem Dom gleichkam. Nördlich der Aula lag ein Komplex von Wohn- und Wirtschaftsgebäuden, im Süden erstreckte sich ein freier, festgestampfter Platz. Und unterhalb der Pfalz sprudelten Hunderte von Quellen aus der Erde, die Quellen der Pader, die dem Ort seinen Namen gegeben hatten.
Adlhard kam mit enttäuschtem Gesicht zurück. „Der König ist mit seinen Edlen auf der Jagd", teilte er Hathumar mit. „Er wird erst gegen Abend zurückerwartet."
Schließlich fanden sie das Kloster. Es war kein großes Kloster wie Corbie oder Fulda, im Paderborner Kloster lebten nur einige Geistliche mit ihren Bediensteten. Adalhard verhandelte mit dem Ältesten, und tatsächlich erfüllte dieser sofort die Wünsche des einflußreichen Abtes. Hathumar bekam eine kleine Gästezelle zugewiesen, in der eine Holzbank und ein Waschgestell standen. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß sein Pferd ordentlich versorgt wurde, machte er sich auf den Weg zum Dom.
Der Dom war ein Ort der Ruhe inmitten des geschäftigen Trubels. Nur wenige Menschen, die schweigend im Gebet verharrten, befanden sich im Inneren.
Hathumar ging durch das Mittelschiff, das durch Säulen von den beiden Seitenschiffen abgetrennt war. Vor dem Altar ließ er sich nieder und sprach ein langes Gebet. Dann schaute er sich um.
Das Innere der Kirche war herrlich gestaltet. Mäander und Sterne verzierten die verputzten Wände, und überall gab es farbige Darstellungen von Bibelszenen. Der Dom war ein Kunstwerk, mit dem sich nur wenige im fränkischen Reich vergleichen konnten. Zweifellos gab es in Rom und Byzanz prächtigere Bauten, aber nördlich der Alpen standen nicht viele solcher Kirchen.
Hathumar blieb lange im Dom, in letzter Zeit hatte er seine benediktinischen Pflichten vernachlässigt. Außerdem genoß er die Ruhe und die Abgeschiedenheit.
Laute Stimmen und Pferdegetrappel rissen ihn in die Gegenwart zurück. Der König war heimgekehrt.
Voller Neugierde verließ der Mönch die Kirche, den Anblick des sagenumwobenen Frankenherrschers wollte er sich nicht entgehen lassen. Auf dem Platz vor der Pfalz hatte sich bereits eine Menschenmenge versammelt.
Auch wenn der König wie ein einfacher Krieger gekleidet war, mit ledernen Wickelgamaschen, festen Stiefeln, leinenen Hosen und leinenem Wams, so war er doch unverkennbar. Den Beinamen „der Große" trug er nicht zu unrecht. Er maß fast sechs Fuß* und überragte seine Männer um Haupteslänge.
Trotz des großen und kräftigen Körpers, fehlte seiner Gestalt das rechte Ebenmaß. Karls Bauch quoll hervor, und der runde Kopf saß auf einem feisten und zu kurz geratenen Nacken. Der König war ein alter Mann, fast sechzig Winter hatte er erlebt, so daß sein langes Haupthaar inzwischen ebenso ergraut war wie der Schnurrbart, der unter einer riesigen Nase hing.
Als Karl seinen Dienern Befehle zurief, war Hathumar erstaunt über die helle, hohe Stimme, die überhaupt nicht zu dem mächtigen Äußeren des Körpers paßte.
Der Mönch bemerkte, daß die Stimmung der Jagdgesellschaft gedrückt war. Und dann sah er auch den Grund. Auf einem der Pferde wurde die Leiche eines Mannes mitgeführt. Die zerrissene Kleidung war von getrocknetem Blut fast gänzlich rot gefärbt, anscheinend hatte er vor seinem Tod aus zahlreichen Wunden geblutet.
Mehrere Männer hoben den Toten vorsichtig vom Pferd und trugen ihn ins Innere der Pfalz. Aus der Ehrerbietung, die ihm von den Umstehenden entgegengebracht wurde, schloß Hathumar, daß es sich bei dem Toten um einen Mann von hohem Stand handeln mußte.
„Graf Bernhard", sagte eine Stimme neben ihm. „Er ist von einem Auerochsen zerfetzt worden."
Hathumar betrachtete den Sprecher, einen blonden, blauäugigen, kräftigen Mann, kaum älter als er selbst.
Der Blonde lächelte. „Erkennst du mich nicht? Ich habe schon gehört, daß du kommst. Adalhard würde seinen Lieblingsschüler mitbringen, einen schlauen, belesenen Sachsen, hieß es."
Ein Bild blitzte in Hathumars Gehirn auf, das Bild eines wilden, rauflustigen Jungen. „Thorbald!"
„Der bin ich einmal gewesen."
Die beiden Männer, die gemeinsam als Geiseln ins Frankenreich gekommen waren, schlossen sich in die Arme und küßten sich auf die Wangen.
„Heute heiße ich Giselher. Schließlich bin ich Christ, nicht ganz so fromm wie du, aber nach einem germanischen Gott möchte ich nicht benannt sein. Weißt du noch, wie uns die Alte am Herdfeuer von Thor, Wodan und Walhalla erzählt hat?"
„Natürlich." Hathumar wischte sich eine Träne aus dem Auge. „Ein richtiger Frankenhasser warst du damals."
Giselher winkte ab. „Die Unvernunft eines Knaben."
Der Mönch hielt den Freund auf Armeslänge entfernt. „Gut siehst du aus."
Giselher trug eine elegante Tunika*, die von einer goldenen Fibel gehalten wurde.
„Oh ja, ich hatte Glück, ich bin zur Domschule in Aachen gekommen, Alkuin selbst hat mich unterrichtet. Der alte Brite mag blonde Jünglinge, er hat mich Karl empfohlen. Heute bin ich comes stabuli* oder Marschall, wie die Franken sagen."
„Du gehörst zum Hof des Königs?" staunte Hathumar.
„Und das ist noch nicht das Ende", sagte Giselher überheblich. „Wenn ich mich bewähre, kann ich ein dux* werden oder ein comes marchiones*."
„Wer hätte gedacht, daß aus dir einmal ein Frankenfürst wird?"
„Du solltest Aachen sehen", lenkte Giselher ab. „Karl hat es zu einer richtigen Hauptstadt ausgebaut, zu einem zweiten Rom. Die Pfalz hat acht Stockwerke, es gibt Thermalbäder, und für den Dom hat man die kostbarsten Baustoffe aus ganz Europa herbeigeschafft: Marmor aus Rom, Granit- und Porphyrsäulen aus Ravenna. Der Dom in Paderborn ist nichts dagegen."
Die beiden Sachsen standen inzwischen allein auf dem Platz. Hathumar dachte an den traurigen Anlaß ihres Zusammentreffens.
„Wie ist Graf Bernhard eigentlich zu Tode gekommen?"
„Wir wissen es nicht genau", antwortete Giselher ernst. „Er hat sich von den anderen entfernt. Wahrscheinlich ist er bei dem Versuch, den Auerochsen zu erlegen, vom Pferd gestürzt, und das Tier hat sich an ihm gerächt."
Sie schwiegen einen Moment.
„Bist du darüber unterrichtet, wer hier bald erscheinen wird?" fragte Giselher.
„Papst Leo. Adalhard hat mit der Neuigkeit bis gestern gewartet."
„Nicht nur der Papst." Giselher grinste sarkastisch. „Das hat dir der schlaue Fuchs Adalhard wohl nicht erzählt?"
„Nun sag schon!" drängte Hathumar.
„Auch seine Gegner. Ich verspreche dir, es wird hoch hergehen in Paderborn. Sie wollen, daß Karl den Papst absetzt."
„Der König wird doch nicht wagen, einen Papst aus dem Amt zu entfernen?"
„Ich habe keine Ahnung, so gut kenne ich Karl nicht. Auf jeden Fall hat er vor, zuerst die Kirche in seinem eigenen Reich zu ordnen. Gestern ist der Bischof von Urgelis eingetroffen."
„Felix von Urgelis?" Hathumar kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. „Der Hispano*, der die Irrlehre vom Adoptianismus verkündet?"
„Richtig. Seitdem die Spanische Mark zum Reich gehört, kann sich Felix von Urgelis nicht mehr unter dem Mantel der Emire von Cordoba verstecken. Für morgen früh ist eine Versammlung in der Aula der Pfalz anberaumt. Felix muß sich vor der Synode der Bischöfe rechtfertigen."