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Mißmutig trottete Hathumar hinter Adalhard her. Er wußte nicht, warum der Abt verlangte, daß er ihn zur Versammlung in der Pfalzaula begleitete. Viel lieber würde er noch einmal den Dom aufsuchen oder die Bibliothek des Klosters inspizieren. Die Bibliothek war zwar winzig, doch Hathumar hatte bereits ein Buch entdeckt, das er noch nicht kannte.
Erwartete Adalhard etwa, daß er den theologischen Streit um die Frage, ob Jesus von Gott nur adoptiert worden war, in das Epos aufnahm? Überhaupt: das Epos! Es bereitete ihm Kopfschmerzen, wenn er nur daran dachte. Wie sollte er die Begegnung zwischen Papst und König schildern? Würden zwei Gleiche aufeinandertreffen oder würde ein Sünder vor seinen Richter treten? Wie konnte er auch nur eine einzige Zeile zu Papier bringen, wenn er nicht wußte, wie die Sache ausging?
Als sie die Aula betraten, stockte Hathumar der Atem. Soviel Pracht und Luxus hatte er nicht erwartet. Wie im Dom waren die Wände farbig bemalt, es gab Mosaiken, Zierziegel, Sandsteinsäulen und eine Inschrift, die Karl als Sieger über den Drachen, das Heidentum, feierte. Und das war noch längst nicht alles. Wohl eigens für Karls Aufenthalt hatte man gestickte Wandteppiche aufgehängt, kostbare, byzantinische Stoffe, die Wagenlenker und andere antike Motive zeigten.
Das Allererstaunlichste aber war ein Gerät, das Hathumar nur aus Büchern kannte: eine Kiepshydra, ein orientalischer Zeitanzeiger. Die aus Messing gefertigte Wasseruhr maß den Verlauf von zwölf Stunden, bei deren Vollendung zwölf Kügelchen herabfielen und eine darunter befestigte Zymbel erklingen ließen.
Adalhard stieß den Mönch in die Seite. „Mach den Mund zu! Und gaff nicht so herum!"
Hathumar schrak zusammen. Erst jetzt richtete sich seine Aufmerksamkeit auf die Personen, die sich im Saal aufhielten.
Karl hatte seinen blauen Königsmantel angelegt und saß an der Westseite der Aula auf einem Klappthron. Der aus Holz gefertigte Stuhl, der den König auf seinen Reisen begleitete, war reich mit Gold und Edelsteinen verziert.
An den Tischen, die in Längsrichtung der Aula aufgestellt waren, zählte Hathumar sechzehn Bischöfe und Erzbischöfe. Hinter ihnen standen ernst dreinblickende Geistliche, die Hathumar für cancellarii* hielt. Einige musterten ihn mißtrauisch, vermutlich sahen sie ihn als ihresgleichen an und fragten sich, wie ein so junger Mensch eine derart wichtige Stellung einnehmen konnte.
Hathumar fühlte sich gleich wieder unbehaglich. Die Versammlung hatte noch nicht begonnen, und die Bischöfe plauderten lebhaft miteinander.
Unterdessen stellte ihm der Abt im Flüsterton die Beteiligten vor. Der Bischof von Urgelis war ein kleiner, dicklicher Mann mit Glatze, der sich ängstlich umschaute. Am Kopfende des Tisches saßen Karls engste Vertraute, Erzbischof Hildebald von Köln, Erzbischof Arn von Salzburg und Bischof Theodulf von Orleans. Adalhard raunte weitere Namen: Erzbischof Rikulf von Mainz, Bischof Aaron von Auxerre, Cunipert, Bernhard, Hatto von Freising und Jesse von Amiens.
Die Zymbel der Kiepshydra erklang, und zwölf Messingreiter sprangen durch zwölf kleine Tore heraus.
Als sich die Tore hinter den Reitern wieder geschlossen hatten, räusperte sich Karl, die Gespräche am Tisch verstummten.
„Wie ihr alle wißt", sagte der König mit seiner hohen Stimme, die Hathumar immer noch verblüffte, „wird in wenigen Tagen Papst Leo hier erscheinen. Mein Sohn Pippin, der König von Italien, ist bereits aufgebrochen, um dem Heiligen Vater entgegenzueilen. In der Kirche des fränkischen Reiches hat der Apostolische Stuhl stets seinen stärksten Verbündeten gehabt. Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, die Reinheit der katholischen Lehre zu wahren, als Vorbild für den ganzen Erdenkreis. Unglücklicherweise gibt es jedoch jenseits der Pyrenäen, in der Spanischen Mark, einen häretischen und ketzerischen Irrglauben, der sich wie die Pest ausbreitet und nun auch schon in Aquitanien Fuß gefaßt hat. Und es gibt einen Bischof, der diesen Irrglauben verkündet, anstatt ihn zu bekämpfen. Ich rede von Bischof Felix von Urgelis, der unter uns weilt."
Alle Augen richteten sich auf den kleinen, dicken Mann, dem der Schweiß auf der Stirn stand.
„Nun, Bischof Felix", wandte sich Karl direkt an ihn. „Was sagt Ihr zu Eurer Rechtfertigung? Warum habt Ihr die Ratschläge, die wir Euch auf der Synode von Regensburg erteilt haben, nicht befolgt?"
„Auch ich hätte gern den Zwiespalt zwischen der fränkischen und der spanischen Kirche überwunden", sagte Felix unterwürfig. „Doch als Bischof kann ich meine Glaubensbrüder und -schwestern nicht im Stich lassen. Die spanischen Christen verehren Elipandus von Toledo, dessen heiligmäßige Frömmigkeit weit über Spanien hinaus bekannt ist. Elipandus sagt, daß Jesus Christus ein Menschensohn war, wie es ja auch im Neuen Testament heißt. Das Mysterium der Trinität, des Verhältnisses von Gottvater und Gottsohn werde erfaßbar, wenn wir annehmen, daß Jesus als gewöhnlicher Mensch geboren wurde, nicht als fleischgewordenes Gotteswort, und daß Gott ihn als Sohn adoptiert hat."
„Versteckt Euch nicht hinter Elipandus!" grollte Erzbischof Hildebald.
„Papst Hadrian hat eine Schrift aus Elipandus' Feder wohlwollend entgegengenommen, und eine spanische Synode hat seine Lehre anerkannt", verteidigte sich Felix.
„Hadrian ist tot, und Beschlüsse von spanischen Synoden interessieren uns nicht", beschied ihn Hildebald barsch.
„Leugnet Ihr etwa auch die Jungfrauengeburt Marias?" erkundigte sich Jesse von Amiens.
„Nun", sagte der Bischof von Urgelis zögernd, „wenn Jesus als gewöhnlicher Mensch geboren wurde, war auch Maria eine gewöhnliche Frau. Steht nicht in der Bibel, daß Jesus' Kindheit in herkömmlichen Bahnen verlief? Wäre er von Geburt an Gottes Sohn gewesen - hätte er dann nicht schon als Kind einen überragenden Verstand gehabt, Wunder gewirkt, seine Gotteskraft ausgeschöpft?"
Ein Raunen ging durch die Reihen der Bischöfe. Schließlich sagte Erzbischof Rikulf von Mainz: „Im Evangelium des heiligen Lukas heißt es, daß Jesus im Alter von zwölf Jahren im Tempel von Jerusalem unter den Schriftgelehrten saß und daß alle, die ihn hörten, erstaunt über sein Verständnis und seine Antworten waren."
„In den anderen drei Evangelien steht nichts darüber", widersprach Felix. „Jesus war bereits dreißig Jahre alt, als er zu wirken begann."
„Ihr verdreht die heilige Schrift, wie es Euch paßt", brummte Arn von Salzburg mit seiner kehligen, bayerischen Stimme. „Es war Jesu' Bestimmung, erst im Alter von dreißig Jahren seine Göttlichkeit zu offenbaren."
Bibelzitate flogen über den Tisch. Man stellte Vergleiche zwischen dem Adoptianismus und dem Arianismus* an, dessen berühmtester Vertreter der Ostgotenkönig Theoderich der Große* in Ravenna gewesen war und dem die Langobarden lange Zeit angehangen hatten. Selbst der Bilderstreit in Konstantinopel*, der Hunderte von Menschenleben gekostet und zu einem Zerwürfnis zwischen König Karl und Kaiserin Irene geführt hatte, wurde erwähnt.
Felix von Urgelis wehrte sich verzweifelt, doch gegen die Übermacht der fränkischen Bischöfe stand er auf verlorenem Feld. Von allen Seiten prasselten Argumente auf ihn nieder, und allmählich erlahmte sein Verteidigungswille.
Erzbischof Hildebald schüttelte den Kopf. „Mich wundert, daß Ihr für Euch in Anspruch nehmt, ein katholischer Christ zu sein."
„Aber gewiß", versicherte Felix. „Die Adoption Christi durch Gott nimmt dem angenommenen Sohn doch nichts von seinem einzigartigen Rang. Im Gegenteil, es macht ihn zu dem wertvollsten und herausragendsten Menschen, den es je gab."
„Elipandus, Euer verehrter Freund, ist ein Westgote und Hispano wie ich", meldete sich Theodulf, der Bischof von Orleans, erstmals zu Wort. „Er lebt, wie Ihr sagt, in Toledo, also unter der Herrschaft des Emirs al Haquem von Cordoba."
Der Bischof von Urgelis nickte.
„Und auch Ihr, sowie die Christen im Tal des Ebro, habt bis vor kurzem die Sarazenen als Herren anerkannt. Kann es nicht sein, Bischof Felix, daß Eure Lehre vom adoptierten Gottessohn dem muslimischen Glauben entgegenkommt?"
Blindlings tappte Felix in die Falle. „Das ist richtig. Die Omaijaden* haben uns Christen in Spanien unseren Glauben gelassen, möglicherweise fiel ihnen das deshalb leichter, weil wir Jesus nicht als Gott, sondern als adoptierten Gottessohn ansehen."
Theodulf schoß seinen nächsten Pfeil ab: „Muslime kennen nur einen Gott, Allah. Für sie ist Jesus ein Prophet wie andere auch, wie Mohammed, den sie als größten Propheten verehren."
Der Bischof von Urgelis blinzelte. „Mag sein."
„Es mag nicht nur sein, es ist so", spottete Theodulf. „Ich habe den Koran gelesen, die heilige Schrift der Muslime. Der Prophet aus Mekka erklärt: Allah il Allah. Gott ist Gott. Es sei ferne, daß Gott einen Sohn habe.'"
Der Bischof von Orleans wartete die Wirkung seiner Worte ab. „Ist Euch das Wohlwollen dieser Ungläubigen tatsächlich wichtiger als die Gemeinschaft der Christen? Vergeßt nicht, Bischof Felix, Ihr lebt nicht mehr unter der Herrschaft der Omaijaden, sondern in der Spanischen Mark, die zum fränkischen Reich gehört. Karl ist Euer König, nicht der Emir von Cordoba. Ihm gegenüber habt Ihr Euch zu verantworten."
Felix von Urgelis senkte den Kopf. Er wußte, daß er sich in eine ausweglose Situation gebracht hatte.
Das nachfolgende Schweigen nahm Karl zum Anlaß, das Wort zu ergreifen: „Gottes Sohn ist kraft göttlicher Natur als Gottes, kraft menschlicher als des Menschen Sohn geboren. Nicht durch Adoption, sondern aufgrund seiner Doppelnatur hat er als Gott und als Mensch den Namen Menschensohn. Er ist also ebenso wahrer Gott, wie er als wahrer Mensch Gottes eingeborener Sohn ist."
Alle bis auf den Bischof von Urgelis nickten.
„Was", fuhr der König fort, „ist nun eure Meinung? Die meine geht dahin, daß, nachdem diese Ketzerei in unseren eigenen Grenzen immer weiter vorgedrungen ist, sie jetzt mit allen Mitteln auszurotten sei."
Hildebald, der nicht nur Erzbischof von Köln, sondern auch Erzkapellan des Hofes war, stand auf.
„Fürwahr, der Adoptianismus ist ein schleichendes Gift, das die geistlichen Grundlagen des fränkischen Reiches anzufressen droht. Sollen unsere Krieger etwa im Namen eines angenommenen Sohnes und Knechtes kämpfen? Wie können wir das Kreuz vor uns hertragen, wenn es nicht mehr ist als ein Galgen, der den Tod eines gewöhnlichen Menschen bezeugt?" Hildebald schaute in die Runde. „Wir, die Bischöfe des fränkischen Reiches, empfehlen, den Adoptianismus zu verurteilen und Bischof Felix von Urgelis aus seinem Amt zu entfernen."
Felix von Urgelis nahm das Urteil schweigend entgegen. Er hatte nichts anderes erwartet.
Der Rest war Formsache. Karl ordnete an, daß über den Beschluß ein Dekret anzufertigen sei. Der abgesetzte Bischof durfte nicht nach Urgelis zurückkehren, sondern wurde in das Kloster von Lyon verbannt.
Hathumar rauchte der Kopf von dem theologischen Disput. Seine Gefühle waren zwiespältig. Einerseits empfand er Mitleid mit dem kleinen, alten Mann, der sich so beherzt gewehrt hatte. Andererseits sah er ein, daß der Adoptianismus nicht mit dem katholischen Glauben vereinbar war.
Aber jetzt wollte er erst einmal weg, weg von den Bischöfen und Erzbischöfen, die ihn einschüchterten. Ehe er sich versah, hatte er die Stadt verlassen und stand auf freiem Feld.
Und dann kam ihm die Idee, Odo zu besuchen. Ein Gespräch mit dem fröhlichen Grafensohn, fernab jeder Gedankenschwere, würde ihn aufmuntern.
Nach einigem Herumsuchen und Fragen fand er schließlich die Krieger des Grafen Ascarius. Und auch Odo war da, munter wie eh und je.
„Hast du's gehört?" rief Odo schon von weitem. „Es geht gegen die Awaren."
„Nein, ich weiß von nichts", antwortete Hathumar.
„Wo lebst du bloß?" wunderte sich Odo. „In einem Elfenbeinturm?"
Der Mönch lächelte. „Schon möglich."
„Eigentlich sollte es gegen die Sachsen im Norden, in Wigmodien und Nordalbingien* gehen", plapperte Odo weiter. „Doch jetzt sind die Awaren* im Aufstand. In den liburnischen Bergen haben sie Präfekt Gerold von Bayern und Markgraf Erich von Friaul einen Hinterhalt gelegt. Beide Edlen sind tot. Das kann sich der König nicht bieten lassen. Es wird einen Kriegszug geben. Vielleicht finden wir sogar einen zweiten hrinc*."
„Ich dachte, der hrinc sei zerstört worden", sagte Hathumar. „Schon. Aber der Cha-Khan* ist geflüchtet. Erinnerst du dich an die sagenhaften Schätze, die König Pippin vor einigen Wintern erbeutet hat? Man sagt, er habe fünfzehn vierspännige Ochsenwagen mit Gold, Silber und Edelsteinen beladen lassen. Stell dir vor, ich finde noch einen Schatz!" „Das wäre wunderbar", sagte Hathumar ironisch. Odo bemerkte die Ironie nicht. Er redete und redete.