174542.fb2 Mord im Dom - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 7

Mord im Dom - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 7

VI. KapitelPlötzlicher Tod

Am östlichsten Rand des Horizonts hatte sich die Schwärze der Nacht in ein helles Grau verwandelt. Bis zum Sonnenaufgang würde noch mindestens eine halbe Sommerstunde* vergehen. Paderborn lag im Dunkeln, und durch die Straßen der kleinen Stadt wehte ein kühler Hauch, der die Hitze des kommenden Tages erahnen ließ.

Die Nächte im Hewimanoth* waren kurz, doch manche Bewohner erhoben sich schon zu dieser frühen Stunde von ihren Strohlagern. In den Holzhäusern, die rund um den Dom standen, wurden die ersten Herdfeuer entzündet.

Der Mann, der sich dem Dom näherte, war hellwach. Vorsichtig und lautlos schlich er zur Kirchentür. Dort schaute er sich noch einmal um, bevor er ins Innere huschte.

Sein Ziel war der steinerne Altar, der sich im Chor der zentralen Apsis befand. In fast völliger Finsternis erledigte er sein Werk, dann eilte er mit raschen Schritten zum Ausgang zurück.

Und fast wäre er hier mit einer anderen Person zusammengestoßen. Im letzten Moment erkannte er die Gefahr und drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand.

Die zweite Person schien sich in der Kirche gut auszukennen, traumwandlerisch sicher eilte sie zwischen den aufgestellten Bänken hindurch. Erst als die Kirchentür plötzlich zugeschlagen wurde, schrak sie zusammen.

König Karl trug einen langen fränkischen Hausrock. Er hinkte leicht beim Gehen, und Hathumar bemerkte, daß der König die Zähne zusammenbiß.

Karl litt unter der Gicht, die langen Jahre im Sattel, das Übernachten auf feuchter und kalter Erde hatten ihm zugesetzt. Die Krieger, die ihn auf seinen ersten Zügen begleitet hatten, waren inzwischen fast alle tot, der Frankenherrscher hatte sie überlebt. Aber jetzt machte auch ihm das Alter zu schaffen, deshalb hielt er sich am liebsten in Aachen auf, wo ihm die warmen Bäder Linderung verschafften.

Neben Karl waren auch die Bischöfe und Erzbischöfe vom Vortag zur Frühmesse im Dom erschienen. Nur Erzbischof Hildebald von Köln und Felix von Urgelis fehlten.

Hathumar hatte bereits in der Klosterzelle einige Stunden mit Gebet und Andacht zugebracht. Er kniete in der hintersten Reihe, möglichst weit von den kirchlichen Würdenträgern entfernt, unter denen auch Abt Adalhard Platz genommen hatte. Niemand beachtete ihn, bis auf Giselher, der ihm freundlich zunickte.

Der Bischof, der die Messe zelebrierte, sprach ein leidliches Latein, was man nicht von allen Bischöfen im Reich behaupten konnte. Hathumar versuchte vergeblich, sich an seinen Namen zu erinnern, während des Disputs um den Adoptianismus hatte er sich nicht ein einziges Mal zu Wort gemeldet.

Nach einiger Zeit trat der Bischof an den Altar, um das Evangelium zu lesen. Er schlug die Bibel auf - und dann geschah etwas sehr merkwürdiges.

Hathumar sah, wie der Mann zurückzuckte und bleich wurde. Unmittelbar darauf schüttelte er heftig seinen rechten Arm.

Alle anderen hatten es auch gesehen. Man spürte förmlich das Erstaunen, mit dem die Kirchgänger den Priester beobachteten.

Der Bischof faßte sich wieder, trat erneut an den Altar und begann zu lesen. Doch nach einigen Sätzen schien es ihm schwerzufallen, die Worte zu artikulieren. Er begann zu stottern und stützte sich mit beiden Armen ab. Sein Gesicht war von einer wächsernen Blässe überzogen. Einige Augenblicke später brach er zusammen.

Den Zuschauern des makabren Schauspiels fuhr der Schreck in die Glieder.

„So helft ihm doch!" sagte Karl schließlich.

Einige Diener kümmerten sich um den am Altar liegenden Bischof. Zureden und leichte Schläge auf die Wangen blieben jedoch wirkungslos, der Mann erwachte nicht aus der Ohnmacht.

Karl ordnete an, daß man Odoaker, so hieß der Bischof, in sein Gemach bringen solle.

Als Odoaker vorbeigetragen wurde, stand Giselher neben Hathumar.

„Er wird etwas Falsches gegessen oder schlechtes Wasser getrunken haben", sagte der Marschall.

Hathumar antwortete nicht. Er versuchte einen Blick auf die rechte Hand des Bischofs zu erhaschen. Und tatsächlich - am rechten Zeigefinger entdeckte er einen Blutstropfen.

Als sich der Dom geleert hatte, ging Hathumar zum Altarraum. Zuerst untersuchte er die Bibel. Was er hier sah, war sehr ungewöhnlich. Genau an der Stelle, die Odoaker vorgelesen hatte, war das Buch ausgehöhlt. Der Bischof mußte den Text so gut gekannt haben, daß er ihn aus dem Gedächtnis vortragen konnte.

Hathumar schaute sich um. Der Boden rund um den Altar war glatt und sauber. Für ein Tier gab es kaum eine Möglichkeit, sich zu verstecken. Und dann sah er ihn. Mit einem kräftigen Fußtritt tötete der Mönch den Skorpion.

Hathumar eilte zurück ins Kloster und besorgte sich ein Stück Leinen. Anschließend suchte er Adalhard. Im Kloster war der Abt nicht zu finden, deshalb vermutete ihn Hathumar in der Königspfalz.

Die Scara *-Männer am Eingang weigerten sich, den Mönch hereinzulassen, und es kostete ihn einige Überredungskunst, bis sich einer der Krieger bereiterklärte, den Abt zu holen.

Adalhard hatte kleine Augen und eine Weinfahne.

„Was willst du?" knurrte er übellaunig. „Ich hoffe, es ist wichtig."

„Das ist es, Vater. Begleitet mich bitte zum Dom!"

„Warum?"

„Das zeige ich Euch, wenn wir da sind."

Adalhard murmelte eine unchristliche Verwünschung, sah aber ein, daß er gegen die Hartnäckigkeit seines Bibliothekars nichts ausrichten konnte.

Hathumar zeigte dem Abt die ausgehöhlte Bibel, dann hob er den toten Skorpion vorsichtig auf das Leinen.

„Bischof Odoaker ist gestochen worden. Habt Ihr bemerkt, wie er zurückzuckte, als er die Heilige Schrift öffnete, und den rechten Arm schüttelte, als wolle er sich von etwas befreien? Und es war kein Zufall. Jemand muß das Tier in der Bibel versteckt haben. Jemand, der wußte, welches Kapitel der Bischof vorlesen würde."

Adalhard starrte erstaunt auf den gebogenen Schwanz mit dem scharfen Stachel. „Was ist das für ein Ungeziefer?"

„Ein Skorpion, Vater. Sie leben in den südlichen Ländern."

„Woher weißt du das?"

„Ich habe in Büchern darüber gelesen. Und Zeichnungen gesehen."

Fassungslos schüttelte der Abt seinen schweren Kopf. „Wir müssen mit dem König reden."

Karl trug noch immer den langen Hausrock. Er ruhte auf weichen Damastkissen in seinem Privatgemach und war erbost.

„Bischof Odoaker ist gestorben. Schon der zweite Freund, den ich durch ein Unglück verliere. Erst Graf Bernhard, jetzt das. Ich sage dir, Adalhard, unser Aufenthalt in Paderborn steht unter keinem guten Stern. Warum willst du mich sprechen? Und wen hast du mitgebracht?"

„Das ist Hathumar, mein Bibliothekar im Kloster Corbie", stellte der Abt vor.

„Woher stammst du, Hathumar?" fragte Karl.

„Ich gehöre zum Stamm der Engern", antwortete der Mönch errötend.

„Ah. Ein Sachse. Du bist als Geisel nach Corbie gegangen?"

„So ist es, mein König."

„Na schön." Karl drehte den Kopf zu Adalhard. „Bist du gekommen, um mir deinen Bibliothekar vorzustellen? Ich habe jetzt wirklich andere Dinge im Kopf."

„Nein, Hoheit", sagte der Abt förmlich. „Wir haben eine wichtige Entdeckung gemacht."

„Was für eine Entdeckung? Rede nicht in Rätseln, Vetter!"

„Bischof Odoaker ist ermordet worden", platzte Hathumar heraus.

„Du redest nur, wenn du gefragt wirst!" herrschte Adalhard ihn an.

„Was ist das für ein Unsinn?" fuhr der König dazwischen. „Wir waren alle dabei, als Odoaker zusammenbrach. Er ist von keinem Schwert und keinem Pfeil getroffen worden."

„Zeig dem König das Buch und das Tier!" forderte Adalhard.

Hathumar zog das Leinensäckchen hervor und präsentierte die ausgehöhlte Bibel. „Seht, Hoheit! Der Anschlag war geplant. Die Heilige Schrift ist genau an der Stelle präpariert worden, die Bischof Odoaker aufschlagen mußte. Das eingesperrte Tier war aufs äußerste gereizt, es hat sofort zugestochen." „Ein Skorpion", sagte Karl und verzog angewidert das Gesicht. „Ich habe einige dieser Insekten gesehen, auf meinen Reisen nach Rom. Sie kommen in Italien vor, möglicherweise auch in Aquitanien. Aber so weit im Norden..." Er zupfte nachdenklich an seinem Schnurrbart. „Mir scheint, ihr habt recht. Bischof Odoaker ist ermordet worden. Aber warum?" Plötzlich ballte er die Faust. „Eigentlich sollte Erzbischof Hildebald die Messe lesen, doch er fühlte sich heute morgen nicht wohl. Bischof Odoaker hat ihn nur vertreten. Das bedeutet, daß der Mordplan Hildebald galt."

„Ein überaus logischer Gedanke", pflichtete Adalhard bei.

Der König richtete sich auf, seine Augen sprühten vor Wut. „Und ich sage dir noch etwas, Vetter: Skorpione gibt es auch in Spanien."

Er klatschte in die Hände, und zwei Männer der Scara erschienen in der Tür.

„Holt mir Felix von Urgelis! Und zwar sofort!"

Der abgesetzte Bischof von Urgelis beteuerte seine Unschuld. Er sei ein alter Mann, dessen Lebensspanne zu Ende gehe. Der Gedanke an Rache liege ihm fern. Natürlich wäre er erfreut, wenn der König ihm erlauben würde, ins Tal von Urgelis zurückzukehren. Doch er gehe ohne Bitterkeit dahin, wohin Karl ihn schicke. Und von einem Skorpion wisse er nichts.

Der König starrte Felix grimmig an. Dann befahl er ihm, vorläufig in Paderborn zu bleiben, bis das Rätsel des Mordes gelöst sei.

Nachdem sich Felix zurückgezogen hatte, wandte sich Karl an Adalhard: „Was hältst du davon?"

„Auf den ersten Blick wirkt er glaubwürdig", wich der Abt einer Festlegung aus. „Andererseits schaut man nicht in die Seele eines Menschen."

„Ja, ja", maulte Karl. „Das ist offensichtlich."

„Wenn ich einen Vorschlag machen darf", sagte Adalhard gravitätisch.

„Nur heraus damit, Vetter!"

„Mein Bibliothekar, Hathumar, ist trotz seiner jungen Jahre ein Mann von scharfem Verstand." Der Abt erzählte von dem Thing, und wie Hathumar den wahren Täter überführt hatte.

Der König faßte den Mönch ins Auge. Hathumar errötete.

„Gestattet mir, daß ich widerspreche, Hoheit!"

„Nein, das gestatte ich nicht. Du hast den Mord entdeckt, und du wirst den Mörder finden. Ich gebe dir alle Vollmachten. Jeder in der Pfalz soll dir zu Diensten sein. Der cancellarius wird von mir eine entsprechende Order erhalten. In allem, was du tust, soweit es den Mord betrifft, kannst du dich auf mich berufen. Und falls sich jemand widersetzt, wende dich an Adalhard. Er wird dafür sorgen, daß du bekommst, was du brauchst."

Hathumar verbeugte sich tief.

Adalhard legte seine breite Hand auf die schmächtige Schulter des Mönches. „Du wirst das schon schaffen, mein Sohn. Aber vergiß über der Suche nach dem Mörder das Epos nicht, das du schreiben sollst."

Der Abt leckte sich über die Lippen, nach dem vielen Gerede stand ihm der Sinn nach einem Becher Wein.

Hathumar blieb allein zurück. Er war verzweifelt. Die Aufgabe, die ihm gestellt wurde, schien schier unlösbar. Und zu allem Überfluß mußte er sich auch noch auf das Epos konzentrieren. Was, wenn er versagen würde? Würde ihn der König dann als Sündenbock verurteilen?

„Du siehst nicht glücklich aus, mein Freund", sagte Giselher, der aus einem Nebenraum aufgetaucht war.

Hathumar berichtete von der Unterredung mit dem König.

„Oha", grinste Giselher. „Jetzt verstehe ich, was dich bedrückt. Ich sage dir was: Ich werde dir helfen. Im Moment habe ich ohnehin nicht viel zu tun."

Hathumar lächelte. „Danke."

„Hast du schon eine Idee, womit wir anfangen können?"

Der Mönch holte Luft. „Als erstes müssen wir herausfinden, seit wann die Bibel auf der Kanzel lag. Damit wir den Zeitraum eingrenzen können, der dem Mörder zur Verfügung stand."

Gemeinsam suchten sie den Geistlichen auf, der die Gottesdienste im Dom leitete. Er sagte, daß er die Bibel bereits am Vorabend der Frühmesse auf die Kanzel gelegt habe. Auch habe er mit einem Leseband die Stelle im Evangelium markiert, die nach dem jährlichen Ritus zu lesen sei.

„Das hilft uns überhaupt nicht", sagte Hathumar bekümmert, als sie auf dem Platz vor dem Dom standen. „Immerhin wissen wir jetzt, woher der Mörder das Kapitel kannte, das Bischof Odoaker aufschlagen würde."

„Der Mörder hatte die ganze Nacht Zeit, den Skorpion zu verstecken", pflichtete Giselher bei.

„Vielleicht nicht." Hathumar überlegte. „Er durfte das Tier auch nicht zu früh einsperren. In der engen Höhle wäre der Skorpion womöglich erstickt. Nein, ich glaube, daß der Mörder erst in den frühen Morgenstunden die Kirche betreten hat." Er schaute sich um. „Wir sollten die Leute fragen, die rings um den Dom wohnen. Wenn wir Glück haben, hat einer von ihnen den Mörder gesehen."

„Wie du meinst", sagte Giselher. „Wir teilen die Häuser auf, damit wir schneller vorankommen. Du nimmst die da vorne, ich diejenigen auf der anderen Seite."

Zwei Stunden später trafen sie sich wieder.

„Nichts", sagte Hathumar niedergeschlagen. „Sie lagen alle noch auf ihren Lagern oder haben sich in ihren Häusern zu schaffen gemacht. Keiner hat den Kopf vor die Tür gesteckt."

Giselher grinste triumphierend. „Aber ich hatte Erfolg. Ein Bäcker ist vor sein Haus getreten, weil er sich entleeren wollte. Er hat einen Mann gesehen, der die Kirche betrat. Einen großgewachsenen Mann mit einem Buckel."