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Auf dem weiten, baumlosen Feld an den Ufern der Pader hatte sich die gesamte Streitmacht versammelt. Alle Völker des fränkischen Reiches waren vertreten: Burgunder und Aquitanier*, die die römische Tracht trugen, wilde Friesen, die sich ranzige Butter ins Haar schmierten, stolze Sachsen, die ihre Streitäxte schwangen, Bayern, Alemannen und Langobarden. Alle waren bewaffnet, mit Schwertern, Lanzen oder Äxten. Angeführt wurden sie von Grafen und Herzögen, die dafür sorgten, daß sich die Krieger in einem offenen Kreis aufstellten.
Einen inneren Kreis bildeten die Bischöfe, Äbte und anderen kirchlichen Würdenträger. Und genau in der Mitte stand Karl im festlichen Königsornat.
Papst Leo III. war früher als erwartet in Sachsen erschienen. Als die reitenden Boten eintrafen, blieben nur noch wenige Stunden Zeit, um den Empfang vorzubereiten. In aller Eile hatte der Frankenkönig seine Heerführer kommen lassen und sich mit ihnen besprochen. Karl wünschte eine würdevolle Begrüßung und zugleich eine Demonstration seiner militärischen Stärke. Der Bischof von Rom sollte spüren, daß er keinem Untertan gegenübertrat, sondern dem Mann, der Europa beherrschte.
Jetzt wurde die Delegation aus Rom sichtbar. Papst Leo ritt mit König Pippin an der Spitze. Kriegshörner erklangen, und die Krieger brachen in Hoch-Rufe aus.
Etwas verunsichert lenkte Leo sein Pferd in die Mitte des Kreises. Auf ein Zeichen Karls warf sich das Heer dreimal zu Boden. Und auch der greise König kniete sich vor dem Papst nieder. Dann umarmte er Leo und tauschte mit ihm den Friedenskuß. Nach der Begrüßung schritten sie Hand in Hand auf Paderborn zu.
Hathumar war zu weit entfernt, um zu verstehen, was die beiden mächtigen Männer miteinander redeten. Aber er hatte das Gesicht des Papstes gesehen und keinerlei Spuren von Blendung oder Verstümmelung entdeckt. Entweder war tatsächlich eine Wunderheilung geschehen, oder die Geschichtenerzähler hatten mal wieder kräftig übertrieben.
Als Hathumar und Giselher von der baldigen Ankunft des Papstes hörten, hatten sie ihren geplanten Besuch bei Felix von Urgelis verschoben. Als Mitglied des Hofes mußte Giselher natürlich in der Nähe des Königs sein, und auch Hathumar wollte und konnte sich das Schauspiel nicht entgehen lassen, schon wegen der Reime, die Abt Adalhard von ihm erwartete.
Während die Krieger zu ihren Zelten zurückkehrten, betraten die Würdenträger und Edlen den Dom, in dem ein Chor von Geistlichen Loblieder sang. Zuerst, so war vereinbart worden, würde der Papst den Altar der neuen Kirche einweihen.
Für die Zeremonie hatte Leo Reliquien des Erzmärtyrers Stephanus aus Rom mitgebracht, die er in der ausgesparten Öffnung der Krypta versenkte. Karl öffnete das Medaillon, das er stets um den Hals trug, und fügte einige Haare Mariens hinzu. Als letztes kam, vom Bischof von Würzburg getragen und in einen kostbaren byzantinischen Stoff gehüllt, eine Schädelhälfte des heiligen Kilian in den Altar. Dann wurde die Öffnung verschlossen, und der Papst sprach den Segen. Die Reliquien, so verkündete er, würden die Kirche zukünftig vor Brandschatzung und Zerstörung schützen.
Als erstes gab es ein Püree aus gedörrtem Fleisch, das pulmentum. Danach kamen Fleischgerichte, mit Soße oder gegrillt - Rindfleisch, Hammelfleisch, Schweinefleisch, Wild, gewürzt mit Knoblauch, Zwiebeln, Pfeffer, Kümmel, Nelken, Zimt, Narde, Piment und Muskat. Serviert wurden sie mit Kohl, weißen Rüben, Kohlrüben und Brot. In den gläsernen Kelchen und Sturzbechern schäumte Falerner Wein.
Die Tische bogen sich unter der Last der zahlreichen Speisen. Es war ein Festmahl, dem Anlaß und dem hohen Gast würdig. Bald spannten sich die Bäuche, und mancher Rülpser und donnernde Furz war in der Regisaula* zu hören.
Während Abt Adalhaard am Tisch saß und sich die Speisen und Getränke munden ließ, blieb Hathumar nur die Zuschauerrolle. Fasziniert und ein wenig neidisch verfolgte er, welch gewaltige Mengen die hohen Herren vertilgen konnten.
Die Unterhaltung blieb höflich und mied die große Politik. Sie wurde in der lingua Romana geführt, die Papst Leo und König Karl beherrschten und von den meisten Vornehmen des fränkischen Reiches verstanden wurde.
Leo erzählte von seiner Befreiung und dankte noch einmal Herzog Williges, der ihn bis nach Paderborn begleitet hatte. Karl schimpfte auf seine Ärzte, die ihm den Verzehr von Gebratenem verboten hätten, weil das seiner Gesundheit abträglich sei. An einem Tag wie heute, sagte er mit erhobenem Sturzbecher, dürfe auch ein König über die Stränge schlagen.
Nach dem Essen zogen sich der König und der Papst mit ihren engsten Beratern in ein kleineres Gemach zurück. Hathumar sah die Gelegenheit gekommen, sich von der Festgesellschaft zu entfernen. Er gab Giselher ein Zeichen, der auf der anderen Seite des Saales inmitten der Hofbeamten stand.
Vor dem Tor der Königspfalz trafen sie zusammen.
„Was für eine Fresserei", sagte Giselher. „Zum Glück hatte ich schon etwas in der Küche gegessen."
Hathumar knurrte der Magen. Er hatte an diesem Tag noch überhaupt keinen Bissen zu sich genommen. Aber von den Fastenzeiten im Kloster, bei denen es nur eine Mahlzeit am Tag gab, war er daran gewöhnt. „Ich werde heute abend im Kloster eine Kleinigkeit essen. Das genügt mir."
„Der bescheidene Mönch." In Giselhers Stimme lag Spott und Bewunderung.
Felix von Urgelis hatte in einem Holzhaus jenseits des Domes Unterkunft gefunden. Ohne Argwohn bat er die beiden Männer ins Innere, nachdem sie ihm den Grund ihres Besuches erklärt hatten.
In dem kärglich eingerichteten Raum standen nur zwei Holzbänke.
„Exzellenz", begann Hathumar, „wir müssen Euch einige Fragen stellen."
„Ich bin nicht mehr Bischof, also steht mir auch nicht der Titel Exzellenz zu", sagte der kleine Mann. „Nennt mich einfach Felix!"
„Nun gut. Felix, wo wart Ihr heute morgen in der Frühe?"
„Hier. In meinem Haus."
„Ihr wart allein?"
„Ja. Ich war allein."
„Kein Diener, der Euch bewirtet hat?"
„Morgens pflege ich nur ein Stück Brot zu mir zu nehmen. Da brauche ich keinen Diener."
„Warum seid Ihr nicht zur Frühmesse in den Dom gegangen?"
„Ich hatte kein Verlangen, den König und die Bischöfe zu sehen." Felix von Urgelis lächelte Hathumar an. „Du warst doch gestern in der Aula, Mönch. Du hast mitverfolgt, wie sie mir zugesetzt haben. Ich hege keinen Groll wegen dem, was geschehen ist. Aber ich wollte sie nicht durch meine Anwesenheit belästigen."
„Ja, ich war dabei", sagte Hathumar und ließ seine Stimme absichtlich grob klingen. „Ich habe gehört, wie Erzbischof Hildebald das entscheidende Urteil gesprochen hat. Erzbischof Hildebald, zu Eurer Erinnerung, Felix, ist derjenige, der heute morgen die Messe lesen sollte. Bischof Odoaker hat ihn vertreten, weil Hildebald sich nicht wohl fühlte. Der Mordanschlag galt Hildebald, nicht Odoaker."
„Oh, es tut mir leid, was Bischof Odoaker zugestoßen ist", antwortete Felix. „Aber wenn du mit deiner Frage andeuten willst, daß ich Hildebald umbringen wollte, dann irrst du dich. Der Erzbischof hat nur das getan, was der König von ihm erwartete, nicht mehr und nicht weniger."
„Und was ist mit deinen Dienern?" fragte Giselher, der bis jetzt geschwiegen hatte.
Zum ersten Mal wirkte Felix verunsichert. „Was meinst du?"
„Ich bin der Marschall des Königs, Mann!" fuhr Giselher ihn an. „Kein hergelaufener Stallknecht."
„Entschuldigt! Ich verstehe Eure Frage nicht, Marschall."
„Sie ist doch einfach: Könnte einer deiner Diener den Skorpion in der Bibel versteckt haben?"
„Nein. Für meine Leute lege ich die Hand ins Feuer."
„Einer der Diener hat einen Buckel, nicht wahr?"
„Ja." In Felix' Augen flammte Angst auf. „Er ist..."
„Er wurde heute morgen gesehen, wie er die Kirche betrat -vor der Frühmesse."
„Er geht häufig in die Kirche, zu allen Tages- und Nachtzeiten. Er ist. wie soll ich sagen? Er war einmal Mönch, bis irgendetwas seine Seele verwirrte. Sein Geist ist wie der eines Kindes, vollkommen unschuldig." „Kinder sind nicht unschuldig. Sie spielen Streiche. Sie verstecken Skorpione, damit jemand gestochen wird."
„Nein."
„Hol ihn her!" forderte Giselher.
„Aber."
„Ich sagte: Hol ihn her!"
Niedergeschlagen erhob sich Felix von Urgelis von der Holzbank. Über eine Leiter kletterte er in das Dachgeschoß des Hauses hinauf.
Giselher warf Hathumar ein triumphierendes Lächeln zu. „Wir haben ihn."
„Abwarten", sagte Hathumar. „Wir brauchen ein Geständnis."
Felix von Urgelis führte den Mann an der Hand. Er war groß und kräftig, aber auf seinem bärtigen Gesicht lag der Ausdruck eines ängstlichen Kindes.
„Er heißt Aio", sagte Felix. „Er redet nicht. Das heißt, wenn er spricht, dann in zusammenhanglosem Latein. Aber er versteht unsere Sprache."
„Und wir verstehen Latein", sagte Giselher herablassend. „Warst du heute morgen im Dom?" wandte er sich an den Diener.
Aio nickte.
„Hast du einen Skorpion bei dir gehabt?"
Aio guckte verständnislos.
„Sag es ihnen!" redete Felix gütig auf ihn ein. „Beantworte die Fragen des Herrn!"
Aio schüttelte den Kopf.
„Du bist nicht zur Kanzel gegangen und hast einen Skorpion in der Bibel versteckt?"
Aio schüttelte heftiger den Kopf.
„Ich warne dich", drohte Giselher. „Ich werde dich in Ketten legen lassen. Man wird dich foltern, wenn du nicht die Wahrheit sagst."
Aio stieß einen unartikulierten Laut aus und umklammerte die Hand seines Herrn.
Felix von Urgelis schaute zu Boden.
Der heitere Ton, der während des Festmahls vorgeherrscht hatte, war bei dem anschließenden Zusammentreffen von König und Papst sofort verflogen. Karl hatte Leo davon unterrichtet, daß auch seine Gegner in Paderborn erwartet würden.
Der Papst zeigte sich bestürzt. „Sie wollen mich verleumden", rief er aus. „Ich bin ohne Schuld. Schändliche und falsche Christen, in Wahrheit Heiden, Söhne Satans sind aus einem Hinterhalt hervorgesprungen und haben mich nach jüdischem Brauch vom Pferd gestoßen, um mich meines Augenlichts und meiner Zunge zu berauben. Blind und stumm, wie sie glaubten, haben sie mich mitten auf dem Platz liegen gelassen. Sie dachten, ich sei ein Krüppel* und könne mein Amt nicht mehr ausüben."
„Die Vorwürfe, die gegen Eure Heiligkeit erhoben werden, sind schwerwiegend", sagte Bischof Theodulf von Orleans. „Und sie sind nicht die ersten ihrer Art, die uns zu Ohren kommen."
„Der Heilige Vater hat nichts Unrechtes getan", sagte einer der beiden Kardinäle, die zu den Beratern des Papstes zählten. „Diejenigen, die ihn mit Schmutz bewerfen, mögen sie auch aus aristokratischen Häusern kommen, wollen ihn vom Stuhl Petri stoßen, weil sie selbst ein Auge darauf geworfen haben. Und im übrigen heißt es schon bei den Kirchenvätern: Der erste Sitz wird von niemandem gerichtet."
„So?" fragte Theodulf ironisch. „Wer hat das gesagt?"
„Die Heiligkeit des Amtes ist unbestritten", verteidigte sich der Kardinal. „Mit seiner ordnungsgemäßen Einsetzung ist ein Papst heilig, unabhängig von seiner Person und seiner Lebensführung. In dem Moment, in dem ein Papst den Stuhl Petri besteigt, läßt Petrus das ewige Gut seiner Verdienste mit dem Erbe der Makellosigkeit auf seinen Nachfolger übergehen."
Offensichtlich hatten der Papst und seine Vertrauten erwartet, zur Rede gestellt zu werden, denn der Kardinal zeigte sich gut vorbereitet.
„Als Papst Symmachus wegen sittlicher Vergehen angeklagt wurde", fuhr er fort, „setzte sich der heilige Ennodius von Pavia für den Heiligen Vater ein. 'Wer möchte bezweifeln', schrieb Ennodius, 'daß derjenige heilig ist, der solch hohe Würde einnimmt? Wenn bei ihm selbsterworbene Verdienste fehlen, dann genügen die, die ihm von seinem Vorgänger verliehen werden. Die Höhe dieses Sitzes erhebt entweder lautere Männer oder umstrahlt wenigstens diejenigen, die auf ihn erhoben werden.'"
„Mir ist nicht bekannt, daß Ennodius ein Heiliger ist", versetzte Theodulf. „Soweit ich weiß, war er ein einfacher Bischof von Pavia."
„Selbstverständlich wissen wir um die Heiligkeit des Amtes", schaltete sich Erzbischof Arn vermittelnd ein. „Niemand wird auf die Idee kommen, den Papst wie einen gewöhnlichen Sterblichen zu behandeln. Und doch hat es in der Vergangenheit lautere und sündhafte Männer auf dem Stuhl Petri gegeben. Oder wollt Ihr etwa auch den Häretikerpäpsten Marcellinus, Liberius und Anastasius Heiligkeit zusprechen?"
Eine Zeitlang stritt man über die Unverlierbarkeit des petrinischen Verdienstes und die Frage, ob Heiligkeit nur bei rechter Amtsführung anzunehmen sei.
Schließlich wandte sich der Papst direkt an Karl: „Ihr seid der Patricias Romanorum*. Es ist Eure Pflicht, Eure schützende Hand über das Patrimonium Petri* zu halten und den Papst vor seinen Feinden zu bewahren."
„Wir werden anhören, was Eure Gegner zu sagen haben", erwiderte Karl. „Und dann werden Wir entscheiden."
Hathumar konnte keinen Schlaf finden. Er hatte das kleine Kloster verlassen und war ziellos zwischen den Mauern Paderborns umhergewandert. Das entsetzte Gesicht Aios ließ ihn nicht los. Die Angst des großen Mannes, als Giselher ihn abführte und Sozra-Männer ihm Ketten anlegten. Giselher hatte angeordnet, daß man Aio in den Kerker werfen solle. War es möglich, fragte sich Hathumar immer wieder, daß Aio Bischof Odoaker umgebracht hatte? War sein Geist so verwirrt, daß er nicht mehr zwischen Gut und Böse unterscheiden konnte?
Auf seinen Wanderungen war Hathumar auch dem Papst und seinen Begleitern begegnet, die die Stadt verließen. Er hatte sich gewundert, daß der Papst nicht als Gast in der Königspfalz wohnte, sondern in einem Zelt vor den Toren Paderborns nächtigte. War das ein Zeichen, daß König Karl auf Distanz zu dem Oberhirten ging?
Plötzlich hörte Hathumar das Geturtel eines Liebespaares. Die beiden versteckten sich hinter einer kleinen Mauer. Und die männliche Stimme, die da balzte, kam ihm bekannt vor. Kein Zweifel, es handelte sich um Odo.
Der Mönch wollte sich schon zurückziehen, da sprang die Frau auf und rannte davon. Augenblicke später kam Odo um die Ecke. Als er die dunkle Gestalt sah, schrak er zusammen.
„Ich bin's", rief Hathumar.
„Du? Was machst du denn hier?"
„Ich konnte nicht schlafen", sagte Hathumar. „Du ja anscheinend auch nicht."
Breit grinsend kam Odo näher. „Die Nacht ist viel zu schade zum Schlafen. Wenn man die Gelegenheit zu einem Abenteuer hat." Er legte den Arm um die Schulter des Mönchs und kniff ihm in den Arm. „Aber davon verstehst du ja nichts."
„Wer ist denn die Holde?"
„Im Vertrauen, Hathumar: Du hältst den Mund, ist das klar?"
„Ich bin dein Freund, das weißt du doch."
„Sie ist eine Konkubine des Königs."
„Odo!" Hathumar macht sich frei. „Bist du wahnsinnig? Der König wird dich köpfen, wenn er davon erfährt."
„Er wird es nicht erfahren. Kannst du dir vorstellen, daß er drei Friedelfrauen mit nach Paderborn gebracht hat? Wozu braucht ein Mann drei Frauen, zumal es in Aachen eine Königin gibt?"
„Ich warne dich, Odo!" sagte Hathumar scharf. „Du bringst dich um dein Lebensglück."
„Ach was! In ein paar Tagen bin ich fort. Der Zug gegen die Awaren, er steht unmittelbar bevor. Und wer kein Risiko eingeht, kann auch nichts gewinnen. Ich will ja nicht leben wie ein." Er schaute Hathumar an und verschluckte den Rest.