174748.fb2 Nie sollst Du vergessen - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 10

Nie sollst Du vergessen - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 10

Gideon

10. September

Ich verstehe nicht, warum Sie mir nicht etwas verschreiben können. Sie sind doch Medizinerin. Oder wären Sie als Scharlatanin entlarvt, wenn Sie mir ein Rezept für ein Migränemittel ausstellten? Und, bitte, kommen Sie mir jetzt nicht wieder mit dieser nervtötenden Bemerkung über psychotropische Medikamente. Wir sprechen nicht von Antidepressiva, Neuroleptika, Tranquillizern, Beruhigungsmitteln oder Amphetaminen, Dr. Rose. Wir sprechen von einem ganz gewöhnlichen Schmerzmittel. Das nämlich ist es, was meinen Kopf quält - ganz gewöhnlicher Schmerz.

Libby versuchte, mir zu helfen. Sie kam vorhin und fand mich dort, wo ich schon den ganzen Morgen verbracht hatte: im verdunkelten Schlafzimmer, mit einer Flasche Harveys Bristol Cream wie ein Plüschtier im Arm. Sie setzte sich auf die Bettkante und löste die Flasche aus meiner Hand. »Wenn du vorhast, dich volllaufen zu lassen, kannst du damit rechnen, dass du in spätestens einer Stunde kotzt wie ein Reiher.«

Ich stöhnte. Diese Ausdrucksweise, so ungewohnt und so drastisch, war nun wirklich das Letzte, was ich in dem Moment hören wollte. Ich sagte: »Mein Kopf.«

»Total fies, ich weiß. Aber mit Alkohol wird's nur schlimmer. Lass mal sehen, vielleicht kann ich was tun.«

Sie legte ihre Hände um meinen Kopf. Ihre Fingerspitzen, die leicht auf meinen Schläfen ruhten, waren kühl. Sie bewegten sich in kleinen erfrischenden Kreisen, die das Hämmern in meinen Adern beruhigten. Ich spürte, wie mein Körper sich unter der Berührung entspannte, und ich hatte das Gefühl, ich könnte mit Leichtigkeit einschlafen, als sie so still bei mir saß.

Dann legte sie sich neben mich und drückte leicht ihre Hand auf meine Wange. Dieselbe sanfte Berührung, kühl und frisch.

»Du glühst ja«, sagte sie.

»Das kommt von den Kopfschmerzen«, murmelte ich.

Sie drehte ihre Hand, sodass ihre Fingerrücken auf meiner Wange ruhten. Sie waren so kühl, so wunderbar kühl.

»Das tut gut«, sagte ich. »Danke, Libby.« Ich ergriff ihre Hand, küsste ihre Finger und legte sie wieder auf meine Wange.

»Gideon?«

»Hm?«

»Ach, lass gut sein.« Aber als ich eben das tat, fügte sie mit einem Seufzen hinzu: »Denkst du manchmal über - über uns nach? Ich meine, wie's mit uns weitergeht und so?«

Ich antwortete nicht. Immer läuft es mit den Frauen darauf hinaus. Auf das »wir« und das Streben nach einer Bestätigung: Nachdenken über uns heißt ja, dass es ein wir gibt.

Sie sagte: »Hast du dir mal überlegt, wie oft wir zusammen sind?«

»Sehr oft.«

»Mann, wir haben sogar zusammen geschlafen, könnte man sagen.

Frauen, auch das ist mir aufgefallen, haben einen untrüglichen Blick für das Offensichtliche.

»Was meinst du, sollen wir weitergehen? Glaubst du, wir sind für die nächste Stufe reif? Also, ich muss sagen, ich fühl mich total reif dafür. Echt reif für den nächsten Schritt. Und du?« Während sie sprach, drückte sie ihren Oberschenkel an den meinen, legte einen Arm über meine Brust und knickte ganz leicht - wirklich kaum merklich - ihr Becken, um ihre Scham an mich zu pressen.

Plötzlich bin ich wieder bei Beth, zurück an jenem Punkt in einer Beziehung, wo es zwischen dem Mann und der Frau eigentlich eine Weiterentwicklung geben sollte, und nichts geschieht. Jedenfalls nicht bei mir. In der Beziehung mit Beth wäre die nächste Stufe die Bindung auf Dauer gewesen. Wir waren schließlich seit elf Monaten ein Liebespaar.

Sie hält die Verbindung zwischen dem East Londoner Conservatory und den Schulen, aus denen die Schüler des Konservatoriums kommen. Sie als Cellistin und frühere Musiklehrerin ist für das Konservatorium die ideale Mittlerin; sie spricht die Sprache der Instrumente, die Sprache der Musik und, das Wichtigste, die Sprache der Kinder.

Anfangs bemerke ich sie gar nicht. Sie fällt mir erst eines Tages auf, als wir uns um ein Kind kümmern müssen, das von zu Hause weggelaufen ist und im Konservatorium Zuflucht sucht. Wir erfahren, dass der Freund der Mutter das kleine Mädchen ständig am Üben hindert, weil er anderes mit ihr im Sinn hat. Sie wird in dem verwahrlosten Zuhause wie eine Sklavin behandelt und von dem gewissenlosen Paar sexuell missbraucht.

Beth wird zur Nemesis. Sie ist außer sich vor Zorn und Entsetzen. Sie wartet weder auf Polizei noch Sozialdienst, denn sie traut beiden nicht. Sie erledigt die Angelegenheit persönlich: Mithilfe eines Privatdetektivs und mittels eines Gesprächs mit dem sauberen Paar, in dessen Verlauf sie keine Zweifel daran lässt, was die beiden zu erwarten haben, sollte dem Kind auch nur der geringste Schaden geschehen. Und um ganz sicherzugehen, dass die beiden verstehen, was gemeint ist, definiert sie ihnen den Begriff »Schaden« im plastischen Straßenjargon, den sie gewöhnt sind.

Ich erlebe das alles nicht mit, aber ich höre von mehreren Lehrern davon. Und die wütende Unbedingtheit, mit der sie für dieses Kind eintritt, berührt etwas tief in meinem Inneren. Eine Sehnsucht vielleicht oder eine Erinnerung.

Wie dem auch sei, ich suche ihre Gesellschaft. Und wir finden einander auf die natürlichste Weise, die ich mir vorstellen kann. Ein Jahr lang ist alles gut.

Dann aber beginnt sie, von der Zukunft zu sprechen. Das ist logisch, ich weiß. Es ist nur vernünftig, dass ein Mann und eine Frau über den nächsten Schritt nachdenken, vor allem die Frau, die auf ihre biologische Uhr achten muss.

Ich weiß, ich müsste eigentlich das wollen, was die natürlicheFolgeunserer beiderseitigen

Liebesbeteuerungen wäre. Ich weiß, dass nichts immer gleich bleibt und es Illusion wäre, zu erwarten, sie und ich würden auf ewig damit glücklich sein, die Musik und eine leidenschaftliche Affäre zu teilen. Und trotzdem - als sie vorsichtig von Heirat und Kindern spricht, spüre ich, wie ich innerlich erkalte. Anfangs wechsle ich einfach das Thema. Als ich es mir schließlich mit Ausflüchten wie Proben, Übungsstunden, Plattenaufnahmen und Ahnlichem nicht mehr vom Leib halten kann, stelle ich fest, dass die Kälte in meinem Inneren zugenommen und nicht nur alle Gedanken an eine Zukunft mit Beth erfroren, sondern auch die Gegenwart mit ihr mit Reif überzogen hat. Ich kann nicht mehr wie früher mit ihr zusammen sein. Leidenschaft und Begehren sind erloschen. Anfangs versuche ich, den Schein zu wahren, aber es ist vorbei. Was auch immer es war: Begehren, Leidenschaft, Anhänglichkeit, Liebe - es ist nichts mehr da.

Wir zerren aneinander, wie das wahrscheinlich viele Paare tun, die krampfhaft eine Beziehung bewahren wollen, die längst nicht mehr besteht, und zermürben uns gegenseitig mit diesem Gezerre. Am Ende ist das, was einmal zwischen uns war, nur noch Erinnerung, fern und unwiederbringlich verloren. Beth findet einen anderen Mann, den sie siebenundzwanzig Monate und eine Woche später heiratet. Ich bleibe, wie ich bin.

Ist es ein Wunder, dass mich schauderte, als Libby von der nächsten Stufe sprach? Dabei hatte ich doch gewusst, dass jede Beziehung mit einer Frau - solange ich noch Frauen an mich heranließ - früher oder später genau zu diesem Gespräch führen würde.

Der Reigen der Selbstvorwürfe begann. Ich hätte ihr die untere Wohnung nicht zeigen sollen. Ich hätte ihr die Wohnung nicht vermieten sollen. Ich hätte sie nicht zum Kaffee einladen sollen. Ich hätte sie nicht ins Restaurant führen, ihr nicht auf ihrer Stereoanlage dieses erste Konzert vorspielen, nicht mit ihr auf den Primrose Hill gehen sollen, um die Drachen steigen zu lassen. Ich hätte sie nicht im Segelflieger mitnehmen, nicht an ihrem Tisch essen, nicht Körper an Körper mit ihr einschlafen sollen, so dicht, dass ihr nacktes Gesäß, über dem das Nachthemd hochgerutscht war, warm und weich an mein schlaffes Glied drückte.

Das hätte ihr eigentlich alles sagen müssen: diese Schlaffheit, diese sture, durch nichts zu erschütternde Schlaffheit. Aber es hatte ihr nichts gesagt. Oder wenn doch, so wollte sie wohl aus dem Zustand dieses schlaffen Stücks Fleisch nicht die logische Schlussfolgerung ziehen.

»Es tut gut, dich hier bei mir zu haben«, sagte ich.

»Es könnte noch besser sein«, entgegnete sie. »Wir könnten beide mehr haben.« Und sie drehte ihre Hüften in dieser für Frauen typischen Art in unbewusster Nachahmung jener rotierenden Bewegung, die jeden normalen Mann zum Stoß reizt.

Aber ich bin ja, wie wir wissen, kein normaler Mann.

Ich wusste, dass mich wenigstens nach dem Akt hätte gelüsten sollen, wenn schon nicht nach der Frau. Aber ich spürte nichts. Es regte sich nichts in mir, außer vielleicht das Eis. Stille und Schatten legten sich über mich, und ein Gefühl ergriff mich, als befände ich mich außerhalb von mir, über mir, und blickte auf dieses jämmerliche Exemplar von Mann hinunter, bei dem sich nichts rührte.

Libby berührte mit ihrer kühlen Hand wieder meine Wange und sagte: »Was ist es, Gideon?« Sie wurde ganz ruhig, aber sie rückte nicht von mir ab, und aus Angst, eine unüberlegte Bewegung von mir könnte sie auf falsche Gedanken bringen, blieb auch ich völlig bewegungslos.

»Ich war bei mehreren Ärzten«, sagte ich. »Ich habe sämtliche Tests über mich ergehen lassen. Es gibt keine Erklärung dafür, Libby. Sie kommt einfach.«

»Ich spreche nicht von der Migräne, Gid.«

»Wovon dann?«

»Warum spielst du nicht mehr? Du hast doch immer gespielt. Man konnte die Uhr nach dir stellen. Jeden Morgen drei Stunden, jeden Nachmittag drei Stunden. Ich sehe Rafes Wagen jeden Tag unten auf dem Platz, aber ich höre weder ihn noch dich spielen.«

Rafe. Sie hat diese typisch amerikanische Neigung, jedem einen Spitznamen zu verpassen. Aus Raphael wurde schon bei der ersten Begegnung Rafe. Es passt überhaupt nicht zu ihm, finde ich, aber er scheint nichts gegen diese Kurzform zu haben.

Ja, er ist jeden Tag hier, genau wie sie gesagt hat. Manchmal eine Stunde, manchmal zwei oder drei Stunden. Meistens geht er auf und ab, während ich am Fenster sitze und schreibe. Er schwitzt, er wischt sich die Stirn und den Nacken mit einem Taschentuch, er wirft mir besorgte Blicke zu und stellt sich zweifellos eine Zukunft vor, in der meine Angstzustände den vorzeitigen Abbruch einer glänzenden Karriere herbeiführen und seinen Ruf als mein musikalischer Guru zunichte machen werden. Er fürchtet, dass von ihm nicht mehr bleiben wird als eine Fußnote der Geschichte, so winzig klein gedruckt, dass man eine Lupe braucht, um sie zu entziffern.

All seine Hoffnungen auf Unsterblichkeit waren immer an mich gebunden. Da steht er, ein Mann von fünfzig Jahren, der es trotz großer Begabung und höchsten Bemühens nicht einmal zum Konzertmeister gebracht hat; ein Opfer unheilbaren Lampenfiebers, das ihn stets mit vernichtender Gewalt überfiel, wenn ihm die Chance vorzuspielen geboten wurde. Der Mann ist ein brillanter Musiker, genau wie alle Mitglieder seiner Familie. Aber er hat sich im Gegensatz zu den anderen - von denen jeder in irgendeinem Orchester spielt, wie etwa seine Schwester, die seit mehr als zwanzig Jahren in einer Hippieband namens Plated Starfire die elektrische Gitarre schwingt - bisher einzig dadurch ausgezeichnet, dass er sein großes Können an andere weitergegeben hat. Öffentliche Auftritte haben ihn immer überfordert.

Ich bin seine Garantie auf Ruhm, mir hat er es zu verdanken, dass er im Lauf der letzten zwei Jahrzehnte eine Anhängerschaft viel versprechender Wunderkinder samt Eltern um sich scharen konnte. Aber das alles wird vorbei sein, wenn ich mein Problem nicht in den Griff bekomme. Dass Raphael nie auch nur den Versuch gemacht hat, sein Problem in den Griff zu bekommen - ich meine, es kann doch nicht normal sein, dass ein Mensch tagtäglich drei Hemden und ein Jackett durchschwitzt -, ist völlig unwichtig. Ich soll gefälligst was für meine Psyche tun.

Raphael war, wie ich schon sagte, derjenige, der Sie ausfindig gemacht hat, Dr. Rose. Das heißt, er machte Ihren Vater ausfindig, nachdem der Neurologe zu dem Schluss gekommen war, dass mir körperlich nichts fehlt. Er hat also ein zweifaches Interesse an meiner Genesung: Erstens hat er wesentlich dazu beigetragen, dass ich mich in Ihre Behandlung begab, das heißt, ich werde tief in seiner Schuld stehen, wenn es uns beiden, Ihnen und mir, gelingen sollte, die Störung zu beheben, die mich plagt; und zweitens wird die Fortsetzung meiner Karriere als Geiger die Fortsetzung seiner Karriere als mein Mentor bedeuten. Raphael liegt also sehr viel daran, dass ich möglichst bald wieder gesund werde.

Sie finden mich zynisch, nicht wahr, Dr. Rose? Ein weiterer Knick im Stoff meines Charakters. Aber vergessen Sie nicht, dass ich Raphael Robson seit Jahren kenne. Ich weiß, wie er denkt und was er will. Wahrscheinlich besser als er selbst.

Ich weiß zum Beispiel, dass er meinen Vater nicht leiden kann.

Und ich weiß, dass mein Vater ihn im Lauf der Jahre schon x-mal gefeuert hätte, wäre nicht sein Unterrichtsstil - der dem Schüler erlaubt, seine eigene Methode zu entwickeln, anstatt ihn in eine Schablone zu pressen - genau das gewesen, was ich brauchte, um meine Begabung voll zu entfalten.

Warum kann Raphael Ihren Vater nicht leiden?, fragen Sie neugierig, unsicher, ob diese Feindseligkeit zwischen den beiden Männern vielleicht die Wurzel meiner gegenwärtigen Schwierigkeiten ist.

Auf diese Frage habe ich keine Antwort, Dr. Rose. Jedenfalls keine, die klar und eindeutig wäre. Aber ich vermute, es hat mit meiner Mutter zu tun.

Raphael Robson und Ihre Mutter?, fragen Sie nach und sehen mich dabei so gespannt an, dass ich mich frage, was für einen Brocken ich Ihnen da zugeworfen habe.

Ich grabe also in meinem Gedächtnis. Versuche, etwas zu finden, und stelle bei Überprüfung aller Funde, die ich bisher gemacht habe, eine Verbindung her. Diese Wörter nebeneinander gestellt - »Raphael Robson« und »meine Mutter« -, haben nämlich etwas in mir in Bewegung gebracht, Dr. Rose. Ich verspüre Übelkeit. Ich habe etwas Verdorbenes gekaut und hinuntergeschluckt, und nun fühle ich, wie es in meinen Eingeweiden rumort.

Worauf bin ich da gestoßen, ohne es zu wollen? Seit mehr als zwanzig Jahren verabscheut Raphael Robson meinen Vater wegen meiner Mutter. Ja. Ich fühle, dass daran etwas Wahres ist. Aber was?

Sie schlagen mir vor, mich in eine Situation zurückzuversetzen, wo die beiden zusammen sind. Raphael und meine Mutter. Das Bild ist da, aber es ist schwarz, und wenn sie auf diesem Bild festgehalten sind, so sind die Farben längst nachgedunkelt.

Und doch, sagen Sie zu mir, haben Sie die beiden Personen, Raphael und Ihre Mutter, miteinander verknüpft. Und wenn es zwischen den Namen der beiden eine Verbindung gibt, dann muss es noch weitere Verbindungen geben, wenn auch nur im Unbewussten. Sie sagen, dass Sie diese beiden Menschen zusammendenken, Gideon. Sehen Sie sie auch zusammen?

Sehen? Die beiden zusammen? Der Gedanke ist absurd.

Was ist daran absurd?, fragen Sie. Das Sehen oder das Zusammen?

Hören Sie auf, ich weiß genau, worauf hinaus Sie mit diesen Alternativen wollen. Sie geben mir die Wahl zwischen einem ödipalen Konflikt und der Primärszene. So ist es doch, nicht wahr, Dr. Rose? Der kleine Gideon kann es nicht ertragen, dass sein Musiklehrer à le béguin pour sa mère. Oder, schlimmer noch, der kleine Gideon überrascht sa mère et l'amoureux de sa mère, nämlich Raphael Robson, beim Geschlechtsakt.

Warum dieser schamhafte Wechsel ins Französische?, fragen Sie mich. Was geschieht mit den Fakten, wenn Sie sich der englischen Sprache bedienen? Wie fühlt es sich an, wenn Sie sie in Ihrer Sprache aussprechen, Gideon?

Lächerlich. Grotesk. Unerhört. Raphael Robson und meine Mutter ein Liebespaar? Was für eine Vorstellung! Meine Mutter und dieses ewig schwitzende Monster? Mit seinem Schweiß hätte man schon vor zwanzig Jahren den ganzen Garten wässern können.

12. September

Der Garten. Blumen. Lieber Gott. Ich erinnere mich plötzlich an diese Blumen, Dr. Rose. Ich entsinne mich, dass Raphael Robson mit einem Riesenstrauß zu uns ins Haus kam. Der Strauß ist für meine Mutter. Sie ist da, das heißt, es ist entweder Abend, oder sie ist an diesem Tag nicht zur Arbeit gegangen.

Ist sie krank?, fragen Sie mich.

Ich weiß es nicht. Aber ich sehe die Blumen. Viele verschiedene, so viele verschiedene Arten, dass ich sie nicht alle benennen kann. Es ist der prächtigste Strauß, den ich je gesehen habe. Stimmt, ja, sie muss krank sein. Raphael bringt die Blumen nämlich in die Küche und verteilt sie eigenhändig in mehreren Vasen, die meine Großmutter ihm heraussucht. Aber sie kann nicht bleiben und ihm helfen, weil Großvater aus irgendeinem Grund Aufsicht braucht. Seit Tagen schon müssen wir auf Großvater aufpassen, und ich weiß nicht, warum.

Eine »Episode«?, fragen Sie. Hat er einen psychotischen Schub?

Ich weiß es nicht. Aber es ist alles durcheinander. Meine Mutter ist krank. Großvater muss oben in seinem Zimmer bleiben, und die ganze Zeit läuft Musik, um ihn zu beruhigen. Sarah-Jane Beckett und James, der Untermieter, stehen dauernd irgendwo in der Ecke und tuscheln, und wenn ich ihnen zu nahe komme, macht sie ein strenges Gesicht und sagt, ich soll mich wieder an meine Aufgaben setzen, obwohl ich gar keine Unterrichtsstunde hatte und folglich auch keine Aufgaben bekommen habe. Ich ertappe Großmutter auf der Treppe, weinend. Ich höre meinen Vater irgendwo brüllen, hinter einer geschlossenen Tür, denke ich. Schwester Cecilia war da, und ich habe beobachtet, wie sie im oberen Flur mit Raphael gesprochen hat. Und dann die vielen Blumen. Raphael und die Blumen. Massenhaft Blumen, von denen ich nicht einmal die Namen weiß.

Er trägt sie in die Küche, und ich muss im Wohnzimmer warten. Er hat mir eine Übungsaufgabe gegeben, um mich zu beschäftigen. Heute noch erinnere ich mich an diese Aufgabe. Tonleitern! Ich soll Tonleitern üben, etwas, das ich hasse und das meiner Meinung nach weit unter meiner Würde liegt. Ich weigere mich also. Ich stoße meinen Notenständer um und ich schreie, dass diese blöde Musik langweilig ist und ich nicht eine Minute länger spielen werde. Ich will fernsehen. Ich will Milch und Kekse haben. Ich will, ich will, ich will.

Im Nu ist Sarah-Jane da. Sie sagt - ich erinnere mich wortwörtlich, Dr. Rose, weil mir so etwas noch nie gesagt wurde: »Hör auf damit! Du bist nicht mehr der Nabel der Welt. Benimm dich endlich.«

Nicht mehr der Nabel der Welt?, wiederholen Sie nachdenklich. Dann wird das also nach Sonias Geburt gewesen sein.

Ja, so muss es sein.

Und - können Sie irgendwelche Verbindungen herstellen?

Was für Verbindungen?

Nun - Raphael Robson, die Blumen, Ihre weinende Großmutter, Sarah-Jane Beckett und der Untermieter, die in der Ecke stehen und klatschen.

Ich habe nicht gesagt, dass sie klatschen. Sie stecken nur die Köpfe zusammen und tuscheln, vielleicht haben sie ein Geheimnis miteinander. Wer weiß. Vielleicht haben sie ein Verhältnis.

Ja, ja, schon gut, Dr. Rose. Ich sehe selbst, wie ich immer wieder auf das Thema heimliche Liebe zurückkomme. Darauf brauchen Sie mich nicht hinzuweisen. Und ich weiß auch, was Sie wollen. Sie wollen mich kontinuierlich und gnadenlos immer näher an meine Mutter und Raphael heranführen. Ich kann mir jetzt schon vorstellen, wo der Weg enden wird, wenn wir die Hinweise ruhig und sachlich betrachten: Raphael und die Blumen, Großmutters Weinen, das wütende Gebrüll meines Vaters, der Besuch Schwester Cecilias, das Getuschel Sarah-Janes und des Untermieters… Ich weiß, wohin uns das führen wird, Dr. Rose.

Was hindert Sie daran, es auszusprechen?, fragen Sie, Ihren ernsten, aufrichtigen Blick auf mich gerichtet.

Nur Ungewissheit.

Wenn Sie es aussprechen, werden Sie überprüfen können, wie es sich anfühlt und ob es stimmig ist.

Also gut. Meinetwegen. Raphael Robson hat meine Mutter geschwängert, und sie hat nun dieses Kind zur Welt gebracht - Sonia. Mein Vater begreift, dass er zum Hahnrei gemacht worden ist - du lieber Gott, woher habe ich denn plötzlich dieses Wort?, ich komme mir ja vor wie in einem jakobinischen Melodram -, und das Gebrüll hinter der Tür ist seine Reaktion. Großvater hört es, zählt zwei und zwei zusammen und gerät so sehr außer sich, dass mit einem Schub zu rechnen ist. Großmutter weint aus Kummer über meine Eltern und aus Angst vor dem nächsten psychotischen Schub. Sarah-Jane und der Untermieter sind völlig aus dem Häuschen vor Sensationslust. Schwester Cecilia wird geholt, um zu vermitteln, aber mein Vater erklärt, dass es ihm unmöglich sei, mit diesem Kind, das ihn fortwährend an den Verrat seiner Frau erinnern wird, unter einem Dach zu leben. Er verlangt, dass es entfernt wird, zur Adoption weggegeben oder etwas Ähnliches. Und meine Mutter, die diese Vorstellung nicht ertragen kann, liegt in ihrem Zimmer und weint.

Und Raphael?, fragen Sie.

Raphael ist der stolze Vater und bringt Blumen wie jeder stolze Vater.

Wie fühlen Sie sich jetzt?, wollen Sie wissen.

Angewidert. Aber nicht bei dem Gedanken an meine Mutter, im Schweiß und Brodem eines eklen Betts - wenn Sie mir diese Anspielung gestatten -, sondern seinetwegen. Raphaels wegen. Ja, gewiss, ich kann mir vorstellen, dass er meine Mutter geliebt und meinen Vater dafür gehasst hat, dass dieser besaß, was er selbst haben wollte. Aber dass meine Mutter seine Gefühle erwidert, dass sie auch nur daran gedacht haben soll, diesen schwitzenden Menschen mit seinem ewig sonnenverbrannten Körper in ihr Bett zu lassen, oder wo sonst sie den Akt vollzogen haben - das ist einfach undenkbar.

Aber Kinder, sagen Sie, finden jede Vorstellung von der Sexualität ihrer Eltern entsetzlich, Gideon. Darum ist ja der Anblick des Geschlechtsakts - Ich habe keinen Geschlechtsakt gesehen, Dr. Rose, weder zwischen meiner Mutter und Raphael, noch zwischen Sarah-Jane Beckett und dem Untermieter, und auch nicht zwischen meinen Großeltern oder meinem Vater und sonst jemandem.

Sonst jemandem?, haken Sie sofort nach. Was heißt sonst jemand, Gideon? Woher kommt diese Vorstellung?

Keine Ahnung. Ich weiß es nicht.

15. September

Ich war heute Nachmittag bei ihm, Dr. Rose. Seit ich bei meinen »Grabungen« auf Sonia gestoßen bin und mich dann an Raphael und diese obszöne Blumenpracht und das Chaos in unserem Haus am Kensington Square erinnerte, hat es mich gedrängt, mit meinem Vater zu sprechen. Also bin ich nach South Kensington gefahren und fand ihn dort im Garten von Braemar Mansions, der Wohnanlage, in der er seit einigen Jahren lebt. Er war in dem kleinen Treibhaus, das er von den übrigen Bewohnern der Anlage requiriert hat, und beschäftigte sich, wie meist in seiner freien Zeit, mit seinen Kamelien, die er selbst gezogen und gekreuzt hat. Er war dabei, ihre Blätter mit einem Vergrößerungsglas zu inspizieren. Ich weiß nicht, ob er nach Insekten oder Knospenansätzen suchte. Er träumt davon, eine Blüte hervorzubringen, die es wert ist, auf der Blumenausstellung in Chelsea gezeigt zu werden. Die es wert ist, einen Preis zu bekommen, sollte ich sagen. Alles andere würde er als Zeitverschwendung betrachten.

Ich sah ihn schon von der Straße aus im Treibhaus, aber da ich zur Gartenpforte keinen Schlüssel habe, musste ich durchs Haus gehen. Mein Vater bewohnt den ersten Stock, und als ich sah, dass die Tür oben offen stand, lief ich hinauf, um sie zu schließen. Aber dann sah ich drinnen Jill. Sie saß mit ihrem Laptop am Esstisch, die Beine auf einem Sitzkissen, das sie aus dem Wohnzimmer geholt hatte.

Wir tauschten ein paar höfliche Worte - was redet man mit der schwangeren Mätresse seines Vaters? -, und sie sagte mir, was ich bereits wusste: dass mein Vater im Garten sei. »Er kümmert sich um seine anderen Kinder«, bemerkte sie und verdrehte dabei theatralisch die Augen, vermutlich als Hinweis auf ihre heftig strapazierte Langmut. Dieser Ausdruck, »seine anderen Kinder«, schien mir an diesem Tag voll tiefer Bedeutung, und ich konnte ihn mir auch nicht aus dem Kopf schlagen, als ich wieder ging.

Auf dem Weg hinaus fiel mir etwas auf, das ich bis zu diesem Moment nie bemerkt hatte. Von Wänden, Tischen, Kommoden und Bücherregalen sprang mir plötzlich ins Auge, was ich vorher nie wahrgenommen hatte, und ich sprach es sofort an, als ich das Treibhaus betrat. Ich meinte, wenn ich meinem Vater eine ehrliche Antwort entlocken könnte, würde ich dem Verstehen einen Schritt näher sein.

Entlocken? Dieses Wort - mit allem, was es beinhaltet - hat es Ihnen sofort angetan, nicht wahr, Dr. Rose? Ist denn Ihr Vater nicht ehrlich mit Ihnen?, fragen Sie mich.

Ich habe ihn immer für ehrlich gehalten. Aber jetzt…

Und was werden Sie verstehen, fragen Sie weiter, wenn Sie Ihrem Vater die Wahrheit entlocken? Was wollen Sie denn verstehen?

Was mir geschehen ist.

Das ist mit Ihrem Vater verbunden?

Das möchte ich lieber nicht glauben.

Als ich ins Treibhaus kam, blickte er nicht auf. Mir ging der Gedanke durch den Kopf, wie sein Körper sich dieser von ihm bevorzugten Tätigkeit, bei der er sich ständig über seine kleinen Pflanzen beugt, angepasst hat. Die Skoliose, an der er schon lange leidet, scheint sich in den letzten Jahren verschlimmert zu haben. Er ist erst zweiundsechzig, aber mir erscheint er älter durch diesen Buckel, der immer größer wird. Während ich ihn betrachtete, fragte ich mich, wie es möglich ist, dass Jill Foster, die beinahe dreißig Jahre jünger ist als er, sich sexuell zu ihm hingezogen fühlt. Es ist mir ein Rätsel, was Menschen zueinander treibt.

Ich sagte: »Warum ist in deiner Wohnung nicht ein einziges Bild von Sonia, Dad?« Ein Frontalangriff aus heiterem Himmel, dachte ich, würde am ehesten wirken. »Von mir hast du Aufnahmen aus jedem Blickwinkel und in jedem Alter, mit oder ohne Geige, von Sonia gibt es nicht ein Foto. Warum nicht?«

Da sah er doch auf, aber ich glaube, er wollte nur Zeit gewinnen. Er zog ein Taschentuch aus der Hüfttasche seiner Jeans und polierte umständlich sein Vergrößerungsglas. Dann faltete er das Taschentuch wieder zusammen, verstaute das Glas in einem Waschlederbeutel und trug diesen zu einem Regal hinten im Treibhaus, in dem er seine Gartenwerkzeuge aufbewahrt.

»Und dir auch einen schönen Nachmittag«, sagte er. »Ich hoffe, du hast Jill aufmerksamer begrüßt. Sitzt sie noch am Computer?«

»In der Küche, ja.«

»Aha. Das Drehbuch macht gute Fortschritte. Sie arbeitet an The Beautiful and Damned. Habe ich dir das erzählt? Sehr ambitiös, der BBC einen zweiten Fitzgerald anzubieten, aber sie will unbedingt beweisen, dass man dem britischen Zuschauer einen amerikanischen Roman über Amerikaner in Amerika schmackhaft machen kann. Nun, wir werden sehen. Und wie geht es deiner Amerikanerin?«

So nennt er Libby. Einen anderen Namen hat er für sie nicht. Entweder »deine Amerikanerin«, manchmal auch »deine kleine Amerikanerin« oder »deine reizende Amerikanerin«. Meine reizende Amerikanerin wird sie vor allem dann, wenn sie mal wieder ins Fettnäpfchen getreten ist, was sie mit wahrer Inbrunst tut. Libby hält nicht viel von Förmlichkeit, und mein Vater hat ihr bis heute nicht vergeben, dass sie ihn gleich beim Vornamen angesprochen hat, als ich ihn mit ihr bekannt machte. Und auch ihre spontane Reaktion auf die Nachricht von Jills Schwangerschaft hat er nicht vergessen: »Scheiße, Mann! Sie haben eine Dreißigjährige geschwängert? Hut ab, Richard!« Diese Anspielung auf den großen Altersunterschied war in den Augen meines Vaters eine unverzeihliche Frechheit.

»Es geht ihr gut«, antwortete ich.

»Kurvt sie immer noch auf ihrem Motorrad durch die Stadt?«

»Sie arbeitet immer noch für den Kurierdienst, wenn du das meinst.«

»Und wie bevorzugt sie derzeit ihren Tartini? Geschüttelt oder gequirlt?« Er nahm seine Brille ab, verschränkte die Arme und musterte mich, wie er das gern tut, mit einem Blick, als wollte er sagen: Schön ruhig bleiben, mein Junge, sonst mach ich dich fertig. Er schafft es fast immer, mich mit diesem Blick aus dem Konzept zu bringen, und er hätte es in Verbindung mit seinen Bemerkungen über Libby wahrscheinlich auch diesmal geschafft, wenn ich nicht von der plötzlichen Erinnerung an eine bisher völlig vergessene Schwester so sehr fasziniert gewesen wäre, dass alle seine Ablenkungsmanöver fehlschlagen mussten.

»Ich hatte Sonia vergessen«, sagte ich. »Nicht nur ihren Tod, sondern dass sie überhaupt existiert hatte. Ich hatte völlig vergessen, dass ich einmal eine Schwester hatte. Es ist so, als hätte jemand sie aus meinem Gedächtnis ausradiert, Dad.«

»Bist du deshalb hergekommen? Um nach Fotos zu fragen?«

»Um nach ihr zu fragen. Wieso hast du keine Bilder von ihr?«

»Du willst darin unbedingt etwas Verdächtiges sehen.«

»Du hast Fotos von mir. Du hast eine ganze Sammlung Fotos von Großvater. Von Jill. Sogar von Raphael.«

»Zusammen mit Szeryng. Raphael war zweitrangig.«

»Ja. Gut. Aber da muss man sich doch fragen, warum es kein Foto von Sonia gibt.«

Er musterte mich bestimmt fünf Sekunden lang, ehe er sich bewegte. Und dann wandte er sich von mir ab und begann den Arbeitstisch zu säubern, an dem er vorher mit seinen Pflanzen hantiert hatte. Er nahm einen kleinen Besen zur Hand und fegte abgefallene Blätter und Erdkrümel in einen Eimer, den er vom Boden aufgehoben hatte. Als das getan war, verschloss er den Sack mit Erde, schraubte eine Flasche mit Blumendünger zu und verstaute seine Werkzeuge in den für sie gedachten Fächern, doch vorher reinigte er jedes einzelne gewissenhaft. Schließlich nahm er die schwere grüne Schürze ab, die er bei der Gartenarbeit stets umlegte, und ging vor mir aus dem Treibhaus in den Garten.

Er führte mich zu einer Bank unter der Kastanie, die ihm schon lange das Leben vergällt. »Viel zu viel Schatten«, pflegt er zu schimpfen. »Im Schatten gedeiht doch nichts.«

Heute allerdings schien ihm der Schatten willkommen. Leise stöhnend, als schmerzte ihn sein Rücken, setzte er sich nieder. Vielleicht hatte er wirklich Rückenschmerzen, aber ich fragte nicht danach. Er sollte mir endlich meine erste Frage beantworten.

»Dad«, sagte ich, »warum gibt es -«

»Das kommt doch nur von dieser Ärztin«, fiel er mir ins Wort.

»Dieser - wie heißt sie gleich wieder?«

»Rose. Dr. Rose. Das weißt du doch ganz genau.«

»Ach, zum Teufel«, brummte er und stand auf. Ich dachte, er würde nun wütend im Haus verschwinden, um einem Gespräch aus dem Weg zu gehen, das er offensichtlich nicht führen wollte, aber er sank auf die Knie und begann in dem Blumenbeet vor uns das Unkraut auszurupfen. »Wenn es nach mir ginge«, schimpfte er, »müsste jeder Bewohner, der sein Stückchen Grund nicht ordentlich pflegt, es wieder abgeben. Schau dir doch nur mal diese Schweinerei an.«

Das war nun wirklich übertrieben. Zwar sprossen auf den Umgrenzungssteinen wegen der Feuchtigkeit Pilze und Moos, und Unkräuter kämpften mit einer riesigen Fuchsie, die vermutlich längst hätte gestutzt werden müssen, aber das Gärtchen mit dem von Efeu überwachsenen Vogelbad in der Mitte und den tief ins Grün eingesunkenen Trittsteinen, hatte in seiner Natürlichkeit etwas sehr Ansprechendes. »Mir gefällt es«, sagte ich.

Mein Vater prustete geringschätzig, während er fortfuhr, Unkräuter aus dem Boden zu ziehen und sie über seine Schulter hinweg auf den Kiesweg zu werfen. »Hast du deine Geige inzwischen wieder mal zur Hand genommen?«, fragte er.

»Nein.«

Er hockte sich auf seine Fersen zurück. »Brillant! Ein Riesenaufwand, bei dem bis jetzt rein gar nichts herausgekommen ist. Erklär mir doch bitte mal, was uns das Ganze bringt! Was hast du davon, wenn du mit dieser genialen Ärztin in der Vergangenheit herumstocherst? Unser Problem liegt in der Gegenwart, Gideon! Dass ich dich daran auch noch erinnern muss!«

»Sie nennt es psychogene Amnesie. Sie hat mir erklärt -«

»Blödsinn! Das waren die Nerven. Und sind's immer noch. So was kommt vor. Das weiß jeder. Weißt du, wie viele Jahre Rubinstein nicht gespielt hat? Ich glaube, es waren zehn. Oder waren es zwölf? Und meinst du, dass er in dieser Zeit rumgesessen und irgendwas in ein Heft gekritzelt hat? Das kann ich mir nicht vorstellen.«

»Er hatte nicht vergessen, wie man spielt«, erklärte ich meinem Vater. »Er hatte Angst davor zu spielen.«

»Du weißt doch gar nicht, ob du es vergessen hast. Wenn du die Geige bis jetzt kein einziges Mal zur Hand genommen hast, kannst du gar nicht wissen, ob du es tatsächlich vergessen hast oder ob das nur eine Befürchtung ist. Jeder vernünftige Mensch würde dir sagen, dass das, was du im Moment durchmachst, schlicht und einfach ein Anfall von Feigheit ist. Und wenn deine tolle Ärztin dieses Wort bis jetzt nicht über die Lippen gebracht hat…« Er machte sich wieder über das Unkraut im Blumenbeet her. »Unmöglich!«

»Du wolltest doch, dass ich zu ihr gehe«, erinnerte ich ihn. »Als Raphael den Vorschlag machte, warst du sofort einverstanden.«

»Ich dachte, du würdest lernen, mit deiner Furcht umzugehen. Ich dachte, das würde sie dir beibringen. Hätte ich übrigens gewusst, dass da so ein verdammtes Weib den Doktor spielt, dann hätte ich es mir zweimal überlegt, ob ich dich hinschicke, um ihr dein Herz auszuschütten.«

»Es kann keine Rede davon -«

»Das alles kommt nur von dieser Amerikanerin, dieser verwünschten Person!« Mit dem letzten Wort riss er ein besonders hartnäckiges Kraut mit solcher Gewalt aus dem Beet, dass er eine der noch nicht erblühten Lilien entwurzelte. Fluchend schlug er mit beiden Händen auf die Erde, um den Schaden wieder gutzumachen. »So läuft das nämlich bei den Amerikanern, Gideon. Ich hoffe, das ist dir klar«, sagte er. »Das passiert, wenn man eine ganze Generation von Faulpelzen, denen alles in den Schoß gefallen ist, unentwegt hätschelt und verwöhnt. Diese jungen Leute haben zu viel Zeit und wissen nichts Besseres damit anzufangen, als die eigene Disziplinlosigkeit ihren Eltern zum Vorwurf zu machen. Diese Person bestärkt dich doch nur in dieser Tendenz, die Schuld bei anderen zu suchen. Als Nächstes wird sie dir vorschlagen, dich in Talkshows auszusprechen.«

»Also, das ist wirklich nicht fair. Libby hat mit dieser Geschichte überhaupt nichts zu tun.« »Es ging dir glänzend, bis sie auf der Bildfläche erschien.«

»Zwischen uns ist nichts vorgefallen, was an diesem Problem schuld sein könnte.«

»Du schläfst mit ihr, hm?«

»Vater -«

»Treibst es richtig mit ihr?« Er blickte bei dieser letzten Frage zurück und sah wohl, was ich lieber vor ihm verborgen hätte. »Ah. Ja«, sagte er ironisch. »Aber sie ist nicht die Wurzel deines Problems. Ich verstehe. Dann sag mir doch mal, wann nach Meinung von Dr. Rose für dich der richtige Moment gekommen sein wird, wieder zur Geige zu greifen?«

»Darüber haben wir nicht gesprochen.«

Er richtete sich auf. »Das ist allerhand. Du gehst seit - seit wie vielen Wochen, drei oder vier? - dreimal wöchentlich zu ihr, aber ihr seid noch nicht dazu gekommen, über das eigentliche Problem zu reden? Findest du das nicht etwas ungewöhnlich?«

»Die Geige - das Spielen…«

»Du meinst, das Nichtspielen.«

»Gut. Ja. Die Unfähigkeit zu spielen ist ein Symptom, Dad. Es ist nicht die Krankheit.«

»Erzähl das mal den Leuten in Paris, München und Rom.«

»Ich werde meine Verpflichtungen einhalten.«

»Na, wenn es so weitergeht wie bisher, bezweifle ich das.«

»Ich dachte, dir läge daran, dass ich zu ihr gehe. Du hast doch Raphael gebeten -«

»Ich bat Raphael um Hilfe, damit du wieder auf die Beine kommst, damit du wieder spielen, wieder auftreten kannst. Sag mir - schwör mir, gib mir die Zusicherung -, dass du von dieser Ärztin die nötige Hilfe bekommst. Ich bin doch auf deiner Seite, mein Junge. Glaub mir, ich bin auf deiner Seite.«

»Ich kann dir keine Zusicherungen geben«, sagte ich, und ich weiß, dass in meiner Stimme die ganze Niedergeschlagenheit mitschwang, die ich empfand. »Ich weiß nicht, was ich von ihr bekomme, Dad.«

Er wischte sich die Hände an seiner Jeans ab und fluchte leise, in einem Ton, der mir von Angst gefärbt schien. »Komm mit«, sagte er dann.

Ich folgte ihm. Wir gingen ins Haus, die Treppe hinauf in seine Wohnung. Jill hatte Tee gekocht. Sie hob ihre Tasse hoch. »Möchtest du, Gideon? Du, Schatz?«, fragte sie, als wir an der Küche vorüberkamen. Ich lehnte dankend ab, mein Vater reagierte überhaupt nicht. Jills Gesicht verdunkelte sich, wie mir das schon früher aufgefallen ist, wenn mein Vater sie nicht beachtet: nicht gekränkt oder zornig, sondern so, als messe sie sein Verhalten an irgendeinem heimlichen Verhaltenskodex, den sie im Kopf hat.

Mein Vater ging weiter, ohne etwas zu merken. Er führte mich in einen Raum, den ich das Großvaterzimmer nenne. Dort bewahrt er eine bizarre, aber durchaus aufschlussreiche Kollektion von Erinnerungsstücken auf: Sie reicht von Kinderlöckchen Großvaters im silbernen Kästchen bis zu Briefen vom Frontkommandeur des »großen Mannes«, die voll des Lobs über seine großartige Haltung während der Gefangenschaft in Burma sind. Ich habe den Eindruck, mein Vater versucht zeit seines Lebens so zu tun, als wäre sein Vater ein normaler oder außergewöhnlicher Mensch gewesen und nicht der, der er in Wirklichkeit war: ein zerstörter Geist, der sich aus Gründen, über die nie gesprochen wurde, mehr als vierzig Jahre lang am Rand der Geisteskrankheit bewegte.

Als er die Tür hinter uns schloss, glaubte ich zunächst, er hätte mich in dieses Zimmer gelotst, um ein Loblied auf Großvater zu singen, und merkte, wie ich ärgerlich wurde. Ich dachte, das wäre wieder ein Versuch, dem Gespräch mit mir auszuweichen.

Sie möchten jetzt wissen, ob er sich früher schon so verhalten hat, nicht wahr? Die Frage ist logisch.

Und ich müsste sie mit Ja beantworten. Ja, er hat sich früher schon so verhalten. Nur ist es mir bis vor kurzem nicht aufgefallen. Ich hatte keinen Anlass, darauf zu achten, weil die Musik der Mittelpunkt unserer Beziehung und das ständige Thema unserer Gespräche war. Üben, Proben, Arbeit im Konservatorium, Plattenaufnahmen, Auftritte, Konzerte, Konzertreisen . Immer hat die Musik uns beschäftigt. Und da ich so stark besetzt war von meiner Musik, konnte jede Frage, die ich stellte, jedes Thema, das ich ansprach, leicht umgangen werden, indem man meine Aufmerksamkeit auf die Musik lenkte. Wie kommst du mit dem Strawinsky zurecht? Und mit dem Bach? Macht dir das Erzherzog-Trio immer noch Schwierigkeiten? Guter Gott. Das Erzherzog. Es hat mir stets Schwierigkeiten bereitet. Dieses Stück ist mein Verhängnis. Es ist mein Waterloo. Dieses Stück wollte ich in der Wigmore Hall spielen. Zum ersten Mal wollte ich es vor der Öffentlichkeit meistern, und es ist mir nicht gelungen.

Na bitte, da sehen Sie, wie leicht ich durch Gedanken an Musik von jedem anderen Thema abzulenken bin, Dr. Rose. Eben habe ich es selbst getan, da können Sie sich vorstellen, wie mühelos mein Vater mich bei unseren Gesprächen manipulieren konnte.

Aber an diesem Nachmittag war ich nicht abzulenken, und ich denke, mein Vater merkte es; er versuchte nämlich nicht, mich mit einer Geschichte von Großvaters Heldentaten während seiner Gefangenschaft zu zerstreuen oder mit einem Bericht seines tapferen Kampfs gegen ein bösartiges geistiges Leiden, das seine Klauen tief in sein Gehirn geschlagen hatte. Nein, er hatte die Tür hinter uns geschlossen, um ungestört zu sein.

»Du suchst doch nach irgendetwas Finsterem, nicht wahr?«, sagte er. »Darauf haben es die Psychiater doch immer abgesehen.«

»Ich versuche, mich zu erinnern«, entgegnete ich. »Das ist alles.«

»Und wie soll die Erinnerung an Sonia dir helfen, dich deinem Instrument wieder anzunähern? Hat deine Dr. Rose dir das erklärt?«

Nein, das haben Sie nicht getan, nicht wahr, Dr. Rose? Sie haben lediglich gesagt, dass wir mit dem anfangen werden, woran ich mich erinnern kann. Ich werde also niederschreiben, was ich im Gedächtnis habe, aber Sie erklären mir nicht, wie durch diesen Prozess die Blockade, die mich am Spielen hindert, aufgelöst werden kann.

Und in der Tat, was hat Sonia mit meinem Spiel zu tun? Sie muss noch ein Säugling gewesen sein, als sie starb. Denn an eine ältere Schwester, die sprechen und laufen konnte, die im Wohnzimmer spielte und im Garten mit mir tobte, würde ich mich doch erinnern.

Ich sagte: »Dr. Rose nennt diesen Zustand eine psychogene Amnesie.«

»Psycho-was?«

Ich erklärte es ihm, wie Sie es mir erklärt haben, und schloss mit der Bemerkung: »Da es eine körperliche Ursache für den Gedächtnisverlust nicht gibt - du weißt ja selbst, dass die Neurologen nichts gefunden haben -, muss die Ursache woanders sitzen. In der Psyche, Dad, und nicht im Verstand.«

»Das ist doch nichts als Quatsch, Gideon«, widersprach er, aber ich spürte, dass dieses Auftrumpfen nur Geste war. Er setzte sich in einen Sessel und starrte ins Leere.

»Na schön.« Ich setzte mich ebenfalls, vor das alte Rollpult meiner Großmutter, und tat etwas, woran ich bisher nie gedacht hatte, weil ich es nie für notwendig gehalten hatte. Ich nahm ihn beim Wort. »Also schön, Dad. Nehmen wir an, es ist nichts als Quatsch. Was soll ich dann tun? Wenn mein Zustand wirklich nur auf Nervenschwäche und Furcht zurückzuführen ist, dann könnte ich doch Musik machen, wenn ich allein bin, nicht wahr? Wenn keiner da ist. Wenn auch Libby aus dem Haus ist und ich nirgendwo Zuhörer fürchten muss. Dann könnte ich doch spielen, richtig? Kein Mensch würde davon erfahren, wenn ich nicht einmal ein simples Arpeggio zu Stande brächte. Ist es nicht so?«

Er sah mich an. »Hast du es denn versucht, Gideon?«

»Begreifst du denn nicht? Ich musste es gar nicht versuchen. Ich muss es doch nicht versuchen, wenn ich es schon vorher weiß.«

Er wandte sich von mir ab. Er schien sich in sich zurückzuziehen, und während das geschah, wurde mir die Stille in der Wohnung bewusst und die Stille draußen, wo nicht das kleinste Lüftchen in den Blättern der Bäume raschelte.

»Keiner«, sagte er schließlich, »weiß vor der Geburt eines Kindes, was an Schmerz auf ihn zukommt. Es scheint alles so einfach, aber so einfach ist es eben nicht.«

Ich antwortete nicht. Sprach er von mir? Von Sonia? Oder von dem anderen Kind aus einer lang zurückliegenden Ehe, dem Kind Virginia, das nie erwähnt worden war?

»Man bringt sie ins Leben«, fuhr er fort, »und weiß, dass man alles tun würde, um sie zu beschützen, Gideon. Das ist so.«

Ich nickte, aber da er mich immer noch nicht ansah, nahm er es nicht wahr, und ich sagte: »Ja.« Was ich damit bestätigte, könnte ich Ihnen nicht erklären. Aber irgendetwas musste ich sagen, und da sagte ich eben Ja.

Es schien zu genügen. Mein Vater sprach weiter. »Aber manchmal scheitert man. Man will es nicht. Man denkt nicht einmal an Scheitern. Aber es geschieht. Es kommt aus dem Nichts und trifft einen aus heiterem Himmel, ehe man überhaupt eine Chance hat, es zu verhindern - oder auch nur auf irgendeine völlig unzulängliche Art zu reagieren. Es trifft einen einfach.« Erst da sah er mir in die Augen, und sein Blick war so voller Qual, dass ich mich am liebsten zurückgezogen und ihm erspart hätte, was ihm solchen Schmerz bereitete. Ist es nicht schon schlimm genug, dass sein Leben von Kindheit an von dem Kummer überschattet war, einen Vater zu haben, dessen Leiden seine Geduld und seine Liebe fortwährend auf die härteste Probe stellte? Soll ihm jetzt auch noch ein Sohn beschieden sein, der ihn ähnlich fordern wird? Ich wollte mich zurückziehen. Ich wollte ihn schonen. Aber noch dringender wollte ich die Musik. Ohne die Musik bin ich nichts. Darum sagte ich kein Wort, sondern ließ das Schweigen wie einen hingeworfenen Handschuh zwischen uns liegen. Und als mein Vater es nicht mehr aushalten konnte, nahm er den Handschuh auf.

Er stand auf und kam auf mich zu. Einen Moment lang glaubte ich, er wolle mich berühren. Aber er öffnete nur das Rollpult meiner Großmutter und schob einen kleinen Schlüssel aus seinem Bund in das Schloss der mittleren

Schublade. Das ordentliche Bündel Papiere, das er ihr entnahm, trug er mit sich zu seinem Sessel.

Ich war mir der Dramatik und Tragweite des Augenblicks bewusst. Es war, als hätten wir eine Grenze überschritten, deren Existenz wir beide vorher nicht wahrgenommen hatten. Mein Magen rebellierte. Vor meinen Augen flimmerte der funkelnde Halbmond, der stets die hämmernden Kopfschmerzen ankündigt.

Er sagte: »Dass ich keine Fotos von Sonia habe, hat einen ganz einfachen Grund. Hättest du darüber nachgedacht - und das hättest du sicher getan, wenn du im Moment nicht so durcheinander wärst -, dann wärst du zweifellos selbst darauf gekommen. Deine Mutter hat die Bilder mitgenommen, als sie uns verließ, Gideon. Sie hat alle Bilder mitgenommen. Bis auf dieses.«

Aus einem schmuddeligen Umschlag nahm er eine Fotografie und reichte sie mir. Im ersten Moment hätte ich am liebsten abgewehrt, eine so entscheidende Bedeutung hatte Sonia auf einmal für mich bekommen.

Er sah mein Zögern. »Nimm das Foto, Gideon«, sagte er. »Es ist alles, was ich noch von ihr habe.«

Da nahm ich es doch. Ich versuchte, alle Erwartungen zu unterdrücken, und fürchtete dennoch, was ich zu sehen bekommen würde. Ich wappnete mich und richtete meinen Blick auf die Fotografie.

Ein Säugling im Arm einer Frau, die ich nicht kannte. Sie saß in einem gestreiften Liegestuhl im Garten des Hauses am Kensington Square in der Sonne. Ihr Schatten fiel über Sonias Gesicht, ihr eigenes war lichtbeschienen. Sie war jung und blond, sehr blond. Mit klar gemeißelten Gesichtszügen. Sie war sehr hübsch.

»Ich - wer ist das?«, fragte ich meinen Vater.

»Das ist Katja«, antwortete er. »Katja Wolff.«