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Gideon

20. September

Viele Fragen verfolgen mich, seit mein Vater mir diese Fotografie gezeigt hat: Wenn meine Mutter damals alle Fotografien Sonias mitgenommen hat, warum dann diese eine nicht? Weil Sonias Gesicht, vom Schatten so stark verdunkelt, kaum zu erkennen war und ihr daher kein Trost sein konnte in ihrem Schmerz? - wenn tatsächlich der Schmerz sie getrieben hatte, uns zu verlassen. Oder weil Katja Wolff mit auf dem Bild war? Oder vielleicht weil sie gar nichts von dem Foto wusste? Eines nämlich kann ich der Aufnahme, die ich jetzt bei mir habe und Ihnen bei unserer nächsten Sitzung zeigen werde, nicht entnehmen: Wer sie gemacht hat.

Wieso besaß mein Vater ausgerechnet dieses Bild, dessen Mittelpunkt nicht seine Tochter ist, seine verstorbene Tochter, sondern ein strahlendes junges Mädchen, das nicht seine Frau ist, nie seine Frau war, nie seine Frau wurde und nicht die Mutter dieses Kindes war.

Natürlich fragte ich meinen Vater nach Katja Wolff. Und er sagte mir, sie sei Sonias Kinderfrau gewesen; eine junge Deutsche mit geringen Englischkenntnissen. Sie war in einem Heißluftballon, den sie und ihr Freund heimlich gebaut hatten, von Ostberlin aus in den westlichen Sektor der Stadt geflohen, eine kühne und dramatische Flucht, die ihr eine gewisse Berühmtheit eingebracht hatte.

Sie kennen die Geschichte vielleicht, Dr. Rose. Nein, wohl eher nicht. Sie waren damals vermutlich noch keine zehn Jahre alt gewesen, und wahrscheinlich haben Sie gar nicht hier gelebt, sondern in Amerika.

Ich jedenfalls erinnere mich nicht, obwohl ich hier in England war, den Ereignissen näher. Aber die Geschichte hat, wie mein Vater mir erzählte, einiges Aufsehen erregt, weil Katja und ihr Freund nicht über die grüne Grenze zu fliehen versuchten, wo die Gefahr, geschnappt zu werden, nicht ganz so groß gewesen wäre, sondern direkt von Ostberlin aus gestartet sind. Der Junge hat es nicht geschafft, er wurde von den Grenzsoldaten erwischt. Aber Katja schaffte es. Sie hatte ihren großen Auftritt und wurde zur Fahnenträgerin der Freiheit. Nachrichtensendungen, Schlagzeilen in den Zeitungen, Berichte und Interviews. Und sie wurde nach England eingeladen.

Ich hörte aufmerksam zu, als mein Vater mir dies alles berichtete, und beobachtete ihn scharf. Ich suchte nach Zeichen und versteckten Bedeutungen, ich versuchte zu deuten, zu folgern, Schlüsse zu ziehen. Denn selbst jetzt noch, hier im Wohnzimmer am Chalcot Square sitzend, die Guarneri keine fünf Meter entfernt, endlich wenigstens ihrem Kasten entnommen, das muss doch ein Fortschritt sein, Dr. Rose, auch wenn ich es nicht schaffe, die Geige auf Schulterhöhe zu heben, selbst jetzt noch bedrängen mich Fragen, die zu stellen ich mich fürchte.

Was sind das für Fragen?, wollen Sie wissen.

Fragen wie die Folgenden, die mir ganz von selbst in den Sinn kommen: Wer hat das Foto von Sonia und Katja aufgenommen? Warum hat meine Mutter dieses eine Foto zurückgelassen? Wusste sie überhaupt von seiner Existenz? Hat sie die übrigen Fotos tatsächlich mitgenommen, oder hat sie sie vielleicht vernichtet? Und vor allem, warum hat mein Vater nie zuvor von ihnen gesprochen - von meiner Schwester Sonia, meiner Mutter

und Katja Wolff?

Vergessen hatte er sie offensichtlich nicht. Schließlich hat er, nachdem ich ihn auf Sonia angesprochen hatte, das Foto zum Vorschein gebracht, und so wie es aussah, bin ich sicher, dass er es unzählige Male in der Hand gehalten und angesehen hat. Warum also das Schweigen?

Leidvermeidung, sagen Sie. Manchmal meiden die Menschen ein Thema, weil es zu schmerzhaft wäre, sich damit zu beschäftigen.

Und was genau wäre für meinen Vater zu schmerzhaft? Die Beschäftigung mit Sonia oder mit ihrem Tod? Mit meiner Mutter und der Tatsache, dass sie uns verlassen hat? Oder mit den Fotografien?

Mit Katja Wolff vielleicht?

Wieso sollte Katja Wolff für meinen Vater ein schmerzliches Thema sein? Dafür könnte es doch nur einen Grund geben.

Und der wäre?

Sie möchten, dass ich es ausspreche, nicht wahr, Dr. Rose? Dass ich es niederschreibe und das Geschriebene ins Auge fasse, um zu prüfen, was daran wahr und was falsch ist. Aber was, zum Teufel, soll mir das bringen? Sie hält meine Schwester im Arm, sie drückt sie an ihre Brust, der Blick ihrer Augen ist freundlich und ihr Gesicht ist ruhig und heiter. Eine ihrer Schultern ist nackt, der Träger des Tops oder Kleides, das sie anhat, ist heruntergerutscht. Dieses Kleidungsstück ist leuchtend bunt, auffallend bunt, so viel Gelb, Orange, Grün und Blau. Und die nackte Schulter ist glatt und rund - ja, schon gut, sie wirkt wie eine Aufforderung, ich müsste blind sein, um das nicht zu sehen. Wenn also ein Mann dieses Foto von Katja Wolff macht - mein Vater vielleicht, aber ebenso gut könnte es Raphael sein oder

James, der Untermieter, mein Großvater, der Gärtner, der Briefträger, jeder beliebige Mann, denn sie ist bildschön und verführerisch, sogar ich, verkorkst und verklemmt, wie ich bin, kann erkennen, was sie ist, was sie zu bieten hat und wie sie es tut -, dann mit ihrem Einverständnis, und ich kann mir sehr gut vorstellen, welcher Art dieses Einverständnis ist.

Schreiben Sie über sie, drängen Sie mich. Schreiben Sie über Katja Wolff. Füllen Sie, wenn nötig, eine ganze Seite mit nichts als ihrem Namen, und beobachten Sie, was dabei geschieht, Gideon. Fragen Sie Ihren Vater, ob er noch andere Bilder hat: Familienfotos, Schnappschüsse aus dem Alltag, Urlaubsbilder, Aufnahmen von Festen und Familienfeiern. Sehen Sie sich die Fotos genau an. Achten Sie darauf, wen sie zeigen. Versuchen Sie, in den Gesichtern zu lesen.

Ich soll auf Katja achten, meinen Sie?

Achten Sie auf das, was da ist.

21. September

Mein Vater sagte mir, dass ich bei Sonias Geburt sechs Jahre alt war und knapp acht, als sie starb. Ich habe ihn angerufen und ganz direkt danach gefragt. Sind Sie zufrieden mit mir, Dr. Rose? Ich habe den Stier bei den Hörnern gepackt.

Als ich meinen Vater fragte, woran Sonia gestorben sei, sagte er: »Sie ist ertrunken, mein Junge.« Ich hatte den Eindruck, dass es ihm sehr schwer fiel, darüber zu sprechen. Seine Stimme klang wie aus weiter Ferne. Es bedrückte mich, ihn überhaupt gefragt zu haben, aber das hinderte mich nicht daran, weiterzumachen. Ich fragte ihn nach Sonias Alter bei ihrem Tod: zwei Jahre. Die offenkundige Anstrengung, die diese Worte ihn kosteten, verriet mir, dass sie lange genug lebte, um sich nicht nur einen Platz in seinem Herzen zu erobern, sondern auch eine unauslöschliche Spur in seiner Seele zu hinterlassen.

Diese Erkenntnis erklärte mir vieles: Die starke Fixierung meines Vaters auf mich, als ich noch ein Kind war; sein Bestreben, mir immer und in jeder Hinsicht das Beste zuteil werden zu lassen; seine ständige Sorge um mein Wohlbefinden und meine Sicherheit, als ich die ersten öffentlichen Auftritte hatte; sein Misstrauen gegen jedermann, der mir zu nahe kam und mir hätte schaden können. Ein Kind hatte er schon verloren - ach Gott, nein, es waren ja zwei, Virginia, sein ältestes Kind, war auch jung gestorben -, und er wollte nicht noch eines verlieren.

Jetzt endlich verstehe ich, warum er stets so nahe war, so stark engagiert, warum er sich in solchem Maß in mein Leben und meine Karriere eingemischt hat. Sehr früh schon sagte ich laut und deutlich, was ich wollte - die Geige, die Musik -, und er tat, was er konnte, um dafür zu sorgen, dass sein einziges noch lebendes Kind bekam, was es wollte. Als könnte er bewirken, dass ich ihm nicht vorzeitig genommen würde, wenn er mir die Möglichkeit gab, meinen Traum zu verwirklichen. Er arbeitete für zwei, er schickte meine Mutter zur Arbeit, er engagierte Raphael, er ließ mir Privatunterricht geben.

Nur war das alles vor Sonia, nicht wahr? Es kann also nicht die Konsequenz aus Sonias Tod gewesen sein; denn wenn sie, wie er mir sagte, zur Welt kam, als ich sechs Jahre alt war, dann waren Raphael und Sarah-Jane Beckett bereits im Haus. Und auch James, der Untermieter. Zu dieser bereits bestehenden Gruppe stieß dann Katja Wolff, Sonias Kinderfrau. Es könnte also folgendermaßen gewesen sein: Eine feste Gruppe musste sich öffnen, um einen Neuankömmling einzulassen. Einen unwillkommenen Eindringling, wenn Sie so wollen, noch dazu eine Ausländerin. Und nicht irgendeine, sondern eine Deutsche! Zwar vorübergehend öffentlich bewundert; aber eine Deutsche, Kind der ehemaligen Feinde in einem Krieg, dessen Gefangener Großvater immer noch war.

Sarah-Jane Beckett und James, der Untermieter, tuscheln über sie, nicht über meine Mutter und Raphael und die Blumen. Sie tuscheln über Katja, weil Sarah-Jane nun mal so ist, eine, die immer gern was zu tuscheln hat. In diesem Fall steckt Eifersucht dahinter, denn Katja ist gertenschlank, hübsch und verführerisch, und Sarah-Jane Beckett - mit ihrem kurzen roten Haar, das aussieht, als hätte man beim Schneiden einfach eine Salatschüssel darüber gestülpt, und einem Körper, der eher meinem ähnelt - bemerkt natürlich die Blicke, mit denen die Männer des Hauses Katja ansehen, vor allem James, der Untermieter, der Katja Englischunterricht gibt und ihre Fehler reizend findet. Gefragt, ob sie eine Tasse Tee möchte, sagt sie: »Sehr gern, herzliche Dankbarkeiten«, und die Männer lachen, völlig bezaubert. Mein Vater, Raphael, James, der Untermieter, sogar Großvater.

Daran erinnere ich mich, Dr. Rose. Ich habe es im Gedächtnis.

22. September

Aber wo war Katja Wolff all die Jahre? Mit Sonia zusammen verschüttet? Oder vielleicht wegen Sonia verschüttet?

Wegen Sonia? Da müssen Sie natürlich sofort nachhaken. Wieso wegen, Gideon?

Wegen ihres Todes. Wenn Katja Sonias Kinderfrau war und Sonia mit zwei Jahren starb, wird Katja danach vermutlich gegangen sein. Ich brauchte ja keine Kinderfrau, um mich kümmerten sich Sarah-Jane und Raphael. Katja wird also schon nach zwei Jahren - vielleicht sogar weniger - wieder fort gewesen sein; vielleicht hatte ich sie deshalb vergessen. Ich war damals schließlich erst acht Jahre alt, und sie war nicht meine, sondern Sonias Kinderfrau, und so werde ich nicht viel mit ihr zu tun gehabt haben. Ich war von der Musik besetzt, und wenn ich nicht mit der Geige beschäftigt war, dann mit dem Schulunterricht. Ich hatte meine ersten Auftritte hinter mir, und es folgte ein Angebot der Juilliard School of Music in New York. Ich hätte ein Jahr dort studieren können. Stellen Sie sich das vor! An der Juilliard! Wie alt kann ich gewesen sein: sieben? acht?

»Einen aufgehenden Stern am Musikhimmel«, nannten sie mich.

Aber ich wollte kein aufgehender Stern sein. Ich wollte die Sonne im Zenit sein.

23. September

Aber aus dem Studium an der Juilliard School wird nichts, obwohl es eine Ehre gewesen wäre und meiner musikalischen Entwicklung sicher nicht geschadet hätte. Die Schule hat eine so beeindruckende Geschichte, dass viele, auch wesentlich ältere Musiker, für die Chance einer so außergewöhnlichen und wertvollen Erfahrung sicher alles gegeben hätten. Aber es ist kein Geld da, und selbst wenn es da gewesen wäre - ich bin viel zu jung, um allein eine so lange Reise zu unternehmen, geschweige denn so weit von der Familie entfernt zu leben. Und da nicht die ganze Familie mit mir übersiedeln kann, muss ich auf diese Chance verzichten.

Die ganze Familie! Irgendwie weiß ich, dass ich, ob Geld oder nicht, nur nach New York komme, wenn die ganze Familie mitgeht. Ich beschwöre meinen Vater. Bitte, bitte, lass mich an die Schule gehen, Dad. Ich muss, ich will dorthin! Ich weiß nämlich damals schon, was dieser Aufenthalt für mich bedeutet, jetzt und auch in Zukunft.

Es geht nicht, Gideon, sagt mein Vater, das weißt du. Dich allein in New York zu lassen wäre unverantwortlich, und wir können nicht alle zusammen dorthin übersiedeln. Ich möchte natürlich wissen, warum nicht. Warum kann ich gerade jetzt nicht haben, was ich will, wo ich doch bisher immer alles bekommen habe. Er sagt - ja, ich erinnere mich gut an dieses Gespräch - Gideon, sagt er, die Welt wird eines Tages zu dir kommen. Das verspreche ich dir, mein Junge.

Aber es ist klar, dass wir nicht nach New York gehen werden.

Ich weiß das und höre trotzdem nicht auf, zu bitten und zu betteln. Ich benehme mich wie ein Wahnsinniger, schlimmer als je zuvor, trete meinen Notenständer mit Füßen, demoliere den geliebten Halbmondtisch meiner Großmutter und weiß doch längst, dass es die Juilliard School für mich nicht geben wird, auch wenn ich noch so wütend tobe. Ob allein oder mit der ganzen Familie, ob nur mit einem meiner Eltern oder in Begleitung von Raphael oder Sarah-Jane - ich werde nicht in dieses Mekka der Musik reisen.

Sie wissen es, sagen Sie zu mir. Sie wissen es, schon bevor sie darum bitten, reisen zu dürfen, noch während sie bitten und alles tun, um eine Änderung herbeizuführen. Aber was wollen Sie denn ändern, Gideon?

Die Realität, offensichtlich. Ja, ja, ich weiß, dass diese Antwort uns nicht weiterbringt, Dr. Rose. Was ist das für eine Realität, die ich bereits als Sieben- oder Achtjähriger verstehe?

Nun, sie sieht folgendermaßen aus: Wir sind nicht reich. Wir leben zwar in einem Viertel, das nicht nur nach Geld riecht, sondern auch Geld kostet, aber das Haus ist seit Generationen im Besitz der Familie, und dass es ihr noch gehört, ist den Untermietern zu verdanken, meinem Vater und meiner Mutter, die beide arbeiten gehen, und der ziemlich erbärmlichen Rente, die mein Großvater vom Staat bekommt. Doch über Geld wird bei uns nicht gesprochen. Geldgespräche sind absolut verpönt. Aber ich weiß trotzdem, dass ich auf das Studium der Juilliard School verzichten muss, und eine ungeheure Spannung ergreift von mir Besitz. Sie entwickelt sich zuerst in den Armen, greift auf den Magen über und schießt durch meine Kehle aufwärts, um sich in wütendem Geschrei Luft zu machen. Ich weiß, was ich geschrien habe, Dr. Rose. »Es ist doch nur, weil sie hier ist«, schreie ich rasend vor Wut.

Weil sie hier ist?

Sie. Ja. Das muss Katja sein.

26. September, 17 Uhr

Mein Vater war wieder hier. Er ist zwei Stunden geblieben und wurde dann von Raphael abgelöst. Sie wollten nicht den Anschein erwecken, als wechselten sie sich bei einer Totenwache ab, darum hatte ich nach dem Abgang meines Vaters und vor dem Erscheinen Raphaels wenigstens fünf Minuten für mich. Sie wissen nicht, dass ich sie vom Fenster aus beobachtet habe. Raphael kam zu Fuß aus der Chalcot Road und traf in der Mitte der Grünanlage mit meinem Vater zusammen. Eine der Bänke zwischen sich, blieben sie stehen und sprachen miteinander. Das heißt, mein Vater sprach. Raphael hörte zu. Er nickte ab und zu und strich sich, wie das seine Gewohnheit ist, mit den Fingern von links nach rechts über den Kopf, um seine dürftige Haarpracht zu glätten. Mein Vater war sehr aufgeregt. Das erkannte ich an seiner Gestik, die eine Hand in Brusthöhe zur Faust geballt, wie zum Schlag bereit. Mehr brauchte ich nicht zu interpretieren, ich wusste, warum er so erregt war.

Er war in Frieden gekommen. Kein Wort über die Musik. »Ich musste mal ein Weilchen von ihr weg«, sagte er seufzend. »Weißt du, ich glaube allmählich, Frauen in den letzten Monaten der Schwangerschaft sind auf der ganzen Welt gleich.«

»Ist Jill zu dir gezogen?«, fragte ich.

»Warum das Schicksal herausfordern?«

Womit er sagen wollte, dass sie an ihrem ursprünglichen Plan festhalten: Erst wenn das Kind da ist, wollen sie zusammenziehen, und nicht eher heiraten, bis nach den vorangegangenen beiden Ereignissen wieder Ruhe eingekehrt ist. Das ist die moderne Art der Beziehung, und Jill ist eine moderne Person. Aber manchmal würde es mich doch interessieren, wie mein Vater dieses Arrangement findet, das ihm, nach seinen beiden Ehen zu urteilen, sicherlich fremd ist. Meiner Ansicht nach ist er im Herzen ein traditionsbewusster Mensch, dem nichts wichtiger ist als die Familie und der von Familie eine ganz bestimmte Vorstellung hat. Ich bin sicher, als Jill ihm eröffnete, dass sie schwanger ist, hat er einen Kniefall vor ihr gemacht und sie gebeten, seine Frau zu werden. So hat er es jedenfalls bei seiner ersten Frau gemacht. Mein Vater weiß nicht, dass mein Großvater mir das erzählt hat. Er hatte sie im Urlaub kennen gelernt - er war damals noch beim Militär, eigentlich wollte er dort Karriere machen -, sie wurde von ihm schwanger, und er heiratete sie auf der Stelle. Dass er es bei Jill nicht genauso gehalten hat, heißt für mich, dass er sich nach Jills Wünschen richtet.

»Sie schläft jetzt, wann immer sie kann«, berichtete er. »So ist das in den letzten sechs Wochen eigentlich immer. Es wird ihnen alles so beschwerlich, und wenn das Kind von Mitternacht bis fünf Uhr morgens in Bewegung ist…« Er machte eine resignierte Handbewegung. »Dann hast du endlich das, worauf du jahrelang gewartet hast: eine Chance, die ganze Nacht Krieg und Frieden zu lesen.«

»Lebst du jetzt bei ihr?«

»Ich büße auf ihrem Sofa.«

»Für deinen Rücken ist das aber nicht gut.«

»Daran brauchst du mich nicht zu erinnern.«

»Habt ihr euch auf einen Namen geeinigt?«

»Ich bin immer noch für Cara.«

»Und sie -« Es fiel mir plötzlich wie Schuppen von den Augen, und ich musste mich zwingen, fortzufahren. »Sie hält weiter an Catherine fest?«

Unsere Blicke prallten aufeinander. Es war, als stünde sie in greifbarer Körperlichkeit zwischen uns, auf ewig das bezaubernde junge Mädchen aus dem Foto. Meine Hände waren feucht, und in meinem Magen regte sich der erste Anflug schneidender Schmerzen, als ich sagte: »Aber das würde dich an Katja erinnern, nicht wahr? Wenn ihr eurem Kind den Namen Catherine gäbt.«

Statt einer Antwort stand er auf und begann, Kaffee zu kochen. Er ließ sich Zeit dabei. Er kommentierte meine Vorliebe für bereits gemahlenen Kaffee und machte mich darauf aufmerksam, was mir dadurch an Aroma entging. Danach ließ er sich darüber aus, dass in seinem Viertel schon wieder ein Starbucks Coffee Shop gebaut worden war - diesmal in der Gloucester Road, nicht weit von Braemar Mansions - und dadurch allmählich die ganze Atmosphäre dieser Gegend zerstört werde.

Währenddessen kroch der brennende Schmerz aus meinem Magen langsam tiefer und wurde, wie stets, in meinen Eingeweiden zu loderndem Feuer. Ich hörte meinem Vater zu, während er von Starbucks auf die allgemeine Amerikanisierung der Kultur zu sprechen kam, und presste meinen Arm mit aller Kraft auf den Unterleib, um den Schmerz zu unterdrücken und dem Bedürfnis nach Erleichterung nicht nachzugeben, weil sonst mein Vater gesiegt hätte.

Ich ließ ihn weiter über Amerika schimpfen: über internationale Konzerne, die die Weltwirtschaft beherrschen, über die Größenwahnsinnigen in Hollywood, die dem Kino in aller Welt ihre Kunstform aufzwingen, über Einkommen und Aktiengewinne in perverser Höhe, die zum Maß kapitalistischen Erfolgs geworden sind. Als er sich dem Schluss seines Vortrags näherte - was daran zu sehen war, dass er immer häufiger zur Kaffeetasse griff, um einen Schluck zu trinken -, wiederholte ich meine Frage, nur formulierte ich sie nicht als Frage. »Catherine würde dich an Katja erinnern«, stellte ich fest.

Er kippte den Rest seines Kaffees ins Spülbecken. Dann ging er mit großen Schritten ins Musikzimmer und sagte: »Gottverdammt, Gideon! Was hast du vorzuweisen?« Und dann: »Ach, das nennt man also Fortschritt, wie?«

Er hatte gesehen, dass die Guarneri wieder in ihrem Kasten lag, und wusste, auch wenn der Kasten offen war, dass ich noch nicht einmal den Versuch gemacht hatte, zu spielen. Er nahm die Geige heraus, und an der Ehrfurchtslosigkeit, mit der er zupackte und die sonst nicht seine Art war, erkannte ich, wie zornig er sein musste - oder erregt, irritiert, wütend, beunruhigt, geängstigt, ich weiß nicht, was für Emotionen ihn bewegten. Die Finger um den Hals des Instruments gekrallt, hielt er mir die Geige hin, und über seiner Faust krümmte sich die glänzende Schnecke wie Hoffnung um ein stillschweigendes Versprechen.

»Hier«, sagte er, »nimm sie. Zeig mir, wo wir stehen. Zeig mir, wohin dieses wochenlange Wühlen im Dreck der Vergangenheit dich geführt hat, Gideon. Ein Ton reicht. Eine Tonleiter. Ein Arpeggio. Oder vielleicht wirst du mir wunderbarerweise einen Satz aus einem Konzert deiner Wahl spielen. Ganz gleich, aus welchem. Zu schwierig? Wie war's dann mit so einer kleinen Delikatesse, wie du sie sonst als Zugabe servierst?«

Das Feuer brannte in mir, war zu flüssigem Eisen geworden.

Weißglühend, silberglühend, strahlend rann es wie Säure durch meinen Körper und sang dabei: Umfange mich, Gideon, oder stirb.

Ja, ja, ich weiß natürlich, was mein Vater da getan hat, Dr. Rose. Sie brauchen mich nicht erst darauf zu stoßen. Ich weiß es. Aber in diesem Moment konnte ich nur stammeln: »Ich kann nicht. Verlang das nicht von mir. Ich kann nicht.« Wie ein Neunjähriger, von dem man erwartet, dass er ein Stück spielt, das er nicht beherrscht.

Und sofort stieß mein Vater nach, indem er sagte: »Aber vielleicht ist das ja unter deiner Würde? Zu leicht für dich, Gideon? Eine Beleidigung deines Könnens. Dann lass uns doch einfach mit dem Erzherzog anfangen, hm?«

Die Säure fraß sich durch mich hindurch, und wie immer, wenn der Schmerz in meinen Eingeweiden tobt und mich aller Kraft beraubt, blieb nur Schuld. Ich bin schuld. Ich habe mich selbst in diese Situation gebracht. Beth stellte das Programm für das Benefizkonzert in der Wigmore Hall zusammen. Sie sagte in aller Unschuld: »Wie war's mit dem Erzherzog, Gideon?« Und weil gerade sie den Vorschlag machte, die schon einmal mein Versagen erlebt hatte, wenn auch im privaten Bereich, brachte ich es nicht über mich, einfach zu erwidern: »Nein, vergiss das mal lieber. Dieses Stück bringt mir nur Unglück.«

Künstler sind abergläubisch. Beth hätte verstanden, wenn ich ihr offen gesagt hätte, wie es mir mit diesem Stück ging. Und Sherill wäre es egal gewesen, was wir spielen. Er hätte auf die typisch amerikanisch schnodderige Art, hinter der er seine unglaubliche Begabung verbirgt, gesagt: »Hey, Freunde, zeigt mir einfach, wo das Klavier steht.« Und das war's gewesen. Es war also allein meine Entscheidung, und ich habe die Dinge einfach laufen lassen. Es ist meine eigene Schuld.

Mein Vater fand mich dort, wohin ich vor seiner Herausforderung geflohen war: im Geräteschuppen im Garten, wo ich meine Drachen entwerfe und baue. Ich zeichnete, als er kam und sich zu mir setzte. Die Guarneri lag oben im Haus wieder in ihrem Kasten.

Er sagte: »Gideon, die Musik ist dein Leben! Ich möchte, dass du sie wieder findest. Das ist alles, was ich will.«

»Genau das versuche ich doch«, erwiderte ich.

»Aber glaubst du denn im Ernst, du erreichst etwas, wenn du deine Zeit mit dieser Schreiberei vergeudest und dich dreimal wöchentlich bei einer Psychiaterin auf die Couch legst?«

»Ich liege nicht auf der Couch.«

»Du weißt genau, was ich meine.« Er legte seine Hand auf die Skizze, an der ich arbeitete, um meine Aufmerksamkeit zu erzwingen. »Wir können die Leute nicht ewig vertrösten, Gideon«, sagte er. »Bis jetzt geht es noch - Joanne leistet da wirklich erstklassige Arbeit -, aber irgendwann wird der Moment kommen, wo selbst eine loyale Mitarbeiterin wie Joanne fragen wird, was genau eigentlich das Wort >Erschöpfung< bedeutet, wenn alle Anzeichen einer Besserung ausbleiben. Wenn es soweit ist, muss ich ihr entweder die Wahrheit sagen, oder ich muss mir ein Märchen einfallen lassen, das sie den Leuten erzählen kann. Und das wird die Situation vielleicht noch schlimmer machen.«

»Dad«, sagte ich, »es ist doch Unsinn zu glauben, dass es die Leute von der Regenbogenpresse auch nur im Geringsten interessiert -«

»Ich spreche nicht von der Regenbogenpresse. Wenn ein Rockstar plötzlich von der Bildfläche verschwindet, wühlen die Reporter jeden Morgen seinen Müll durch, weil sie hoffen, etwas zu finden, das ihnen den Grund verrät. Aber wir brauchen so etwas nicht zu fürchten, und es ist auch nicht das, was mir Sorgen macht. Mir geht es um die Welt, in der wir uns bewegen. Da gibt es für die nächsten zwei Jahre feste Verpflichtungen, wie du weißt, und wir erhalten - beinahe täglich, wohlgemerkt! - Anrufe von Konzertagenturen und Musikdirektoren, die sich nach deinem Befinden erkundigen, weil sie wissen wollen, ob du deine Termine einhalten wirst. Geht es ihm schon besser?, fragen sie und meinen, sollen wir den Vertrag zerreißen oder steht das Programm?«

Beim Sprechen zog mein Vater meine Zeichnung langsam immer näher zu sich heran, aber ich sagte nichts, obwohl er mit seinen Fingern die Linien verschmierte.

»Ich habe jetzt eine ganz einfache Bitte an dich, Gideon«, fuhr er fort. »Geh nach oben ins Musikzimmer und nimm die Geige zur Hand. Du sollst es nicht für mich tun, um mich geht es nicht. Tu es für dich.«

»Ich kann nicht.«

»Ich bin doch bei dir. Ich werde neben dir stehen und dich stützen oder was du sonst willst. Aber du musst es tun.«

Wir starrten einander an. Ich spürte, wie er mit aller Kraft versuchte, mir seinen Willen aufzuzwingen und mich dazu zu bewegen, aus dem Schuppen hinaus und durch den Garten ins Haus zu gehen.

»Du wirst nie erfahren, ob du mit ihrer Hilfe Fortschritte gemacht hast, Gideon, wenn du nicht die Geige zur Hand nimmst und zu spielen versuchst.«

Er sprach von Ihnen, Dr. Rose. Von den vielen Stunden, die ich damit verbracht habe, meine Erinnerungen aufzuschreiben. Von diesem Blättern in der Vergangenheit, das wir betreiben und bei dem er mir offenbar helfen wollte, wenn - wenn ich ihm nur zeigte, dass ich wenigstens im Stande bin, die Geige zur Hand zu nehmen und den Bogen über die Saiten zu ziehen.

Ich sagte nichts, aber ich stand auf und ging aus dem Schuppen ins Haus. Im Musikzimmer trat ich nicht zur Fensterbank, wo ich fast immer beim Schreiben zu sitzen pflege, sondern zum Geigenkasten. Im Glanz ihrer Decke und ihrer Ornamente lag die Guarneri vor mir, ein Klangkörper, der in all seinen Teilen - Schalllöchern, Zargen, Wirbel - den Geist mehr als zweihundertjährigen Musizierens atmete.

Ich kann es. Fünfundzwanzig Jahre lassen sich nicht mit einem Schlag auslöschen. Was ich gelernt habe, was ich kann, meine natürliche Begabung, das alles mag unter einem Erdrutsch verschüttet sein, aber es ist noch da.

Mein Vater trat neben mich. Er legte leicht seine Hand an meinen Ellbogen, als ich nach der Guarneri griff. »Ich bin bei dir, mein Junge«, sagte er. »Es ist alles gut. Ich bin bei dir.«

Und genau in diesem Moment klingelte das Telefon.

Wie in einem Reflex verkrampften sich die Finger meines Vaters an meinem Ellbogen. »Geh nicht hin«, sagte er, und da ich schon seit Wochen das Telefon ignorierte, fiel es mir nicht schwer, ihm zu gehorchen.

Aber es war Jill, die auf den Anrufbeantworter sprach. »Gideon?«, sagte sie, »ist Richard noch bei dir? Ich muss ihn dringend sprechen. Ist er schon wieder weg? Bitte, heb ab!«

»Das Kind«, sagten Vater und ich wie aus einem Mund, und er lief zum Telefon.

»Ich bin noch hier«, sagte er. »Ist bei dir alles in Ordnung, Schatz?«

Ihre Antwort war kein kurzes Ja oder Nein. Während sie sprach, wandte sich mein Vater von mir ab. Dann sagte er: »Was für ein Anruf?«, und lauschte einer weiteren umständlichen Erklärung, bis er zum Schluss rief. »Jill - Jill, das reicht. Warum bist du überhaupt hingegangen?«

Wieder folgte ein Redeschwall, und als Jill zum Ende gekommen war, sagte mein Vater: »Warte! Jetzt reg dich doch nicht so auf. Das ist doch albern. Du steigerst dich da in etwas hinein… Du kannst mich doch nicht für einen Anruf verantwortlich machen, der -« Sein Gesicht verfinsterte sich plötzlich, und dann rief er: »Verdammt noch mal, Jill. Was redest du da! Das ist ja völlig irrational.« Ich kannte diesen Ton, den schlug er immer an, wenn er ein Thema vom Tisch fegte, das er nicht weiterverfolgen wollte. Ein eisiger Ton, wegwerfend und arrogant.

Aber Jill war hartnäckig. Sie begann von neuem. Er hörte wieder zu. Er stand mit dem Rücken zu mir, aber ich sah, wie er stocksteif wurde. Es verging beinahe eine Minute, bevor er wieder sprach.

»Ich komme jetzt nach Hause«, sagte er brüsk. »Am Telefon führe ich diese Diskussion nicht weiter.«

Damit legte er auf, und ich hatte den Eindruck, Jill war mitten in einem Satz, als er es tat. Dann drehte er sich um und sagte mit einem Blick zu meiner Geige: »Du hast noch mal eine Gnadenfrist bekommen.«

»Ist zu Hause alles in Ordnung?«, fragte ich.

»Nichts ist in Ordnung«, antwortete er unwirsch.

26. September, 23.30 Uhr

Zweifellos erzählte mein Vater Raphael, als er ihn unten auf dem Platz traf, dass ich nicht für ihn gespielt hatte; ich sah es Raphaels Gesicht an, als er keine drei Minuten später ins Musikzimmer kam. Sein Blick flog zu der Geige.

»Ich kann nicht«, sagte ich.

»Er behauptet, du willst nicht.« Raphael berührte behutsam das Instrument, das wieder in seinem Kasten lag. Es war eine Berührung wie eine Liebkosung, die er vielleicht einer Frau zugedacht hätte, wenn je eine Frau sich zu ihm hingezogen gefühlt hätte. Soweit mir bekannt war, hatte es das nie gegeben. Ja, mir schien, während ich ihn beobachtete, dass einzig ich - und meine Geige - Raphael vor einem Leben in völliger Einsamkeit bewahrt hatten.

Es klang wie eine Bestätigung meiner Überlegung, als er sagte:

»Das kann nicht ewig so weitergehen, Gideon.« »Und wenn doch?«, fragte ich.

»Das wird nicht geschehen. Das darf nicht geschehen.«

»Stellst du dich also auf seine Seite? Hat er dich da draußen aufgefordert« - ich wies mit einer Kopfbewegung zum Fenster - »mich zum Spielen zu zwingen?«

Raphael blickte zum Platz hinaus, wo das Laub an den Bäumen sich herbstlich zu färben begann. »Nein«, sagte er, »das hat er nicht getan. Heute nicht. Ich hatte den Eindruck, er war mit anderen Dingen beschäftigt.«

Ich wusste nicht, ob ich ihm glauben sollte, nachdem ich beobachtet hatte, mit welcher Erregung mein Vater auf ihn eingeredet hatte. Aber ich nutzte die Erwähnung »anderer Dinge«, um selbst auf andere Dinge zu sprechen zu kommen.

»Warum hat meine Mutter uns eigentlich verlassen, Raphael?«, fragte ich. »War es wegen Katja Wolff?«

»Das ist kein Thema, über das wir beide uns unterhalten sollten«, sagte Raphael.

»Ich kann mich an Sonia erinnern«, sagte ich.

Er griff zum Riegel des Fensters. Ich dachte, er wollte es öffnen, um entweder frische Luft hereinzulassen oder auf den schmalen Balkon hinauszuklettern. Aber er tat weder das eine noch das andere. Er machte sich nur ziellos an dem Riegel zu schaffen, und während ich ihm zusah, wurde mir bewusst, wie viel dieses sinnlose Gefummel über unsere Beziehung aussagte, in der keinerlei Interaktion stattfand, wenn es nicht um die Geige ging.

»Ich erinnere mich wieder an sie, Raphael«, sagte ich. »Ich erinnere mich an Sonia. Und an Katja Wolff. Warum hat nie jemand von ihnen gesprochen?«

Er schien unangenehm berührt, und ich glaubte, er wollte einer Antwort ausweichen. Aber gerade als ich sein

Schweigen in Frage stellen wollte, sagte er: »Wegen dem, was Sonia zugestoßen ist.«

»Wieso? Was ist Sonia denn zugestoßen?«

Sein Ton klang verwundert, als er antwortete: »Du erinnerst dich wirklich nicht. Ich glaubte immer, du rührst nicht daran, weil wir anderen nie darüber gesprochen haben. Aber du weißt es nicht mehr.«

Ich schüttelte den Kopf, voller Scham bei diesem Geständnis. Sie war meine Schwester gewesen, und ich wusste nichts von ihr, Dr. Rose. Bis zu dem Moment, als Sie und ich zusammen zu arbeiten anfingen, hatte ich vergessen, dass sie überhaupt existiert hatte. Können Sie sich vorstellen, wie man sich da fühlt?

Raphael bemühte sich mit großer Güte um eine Entschuldigung für so viel grenzenlose Egozentrik, die mich meine Schwester hatte vergessen lassen. Er sagte: »Aber du warst ja damals noch nicht einmal acht Jahre alt. Und nach dem Prozess hat keiner von uns je wieder ein Wort darüber verloren. Wir haben schon während der Verhandlung kaum darüber gesprochen und vereinbarten, danach überhaupt nicht mehr daran zu rühren. Sogar deine Mutter war damit einverstanden, obwohl sie völlig gebrochen war. Ja, ich kann mir gut vorstellen, dass du das alles aus deinem Gedächtnis streichen wolltest.«

Ich sagte mit trockenem Mund: »Dad hat mir erzählt, dass sie ertrunken ist. Sonia, meine ich. Dass sie ertrunken ist. Wieso gab es einen Prozess? Gegen wen? Und warum?«

»Mehr hat dein Vater dir nicht gesagt?«

»Nein. Er hat nur gesagt, Sonia sei ertrunken. Er wirkte so… Er sah aus, als kostete es ihn schon ungeheuer viel, mir nur zu sagen, wie sie gestorben ist. Ich wollte nicht noch mehr Fragen stellen. Aber jetzt - ein Prozess? Vor Gericht?«

Raphael nickte, und noch bevor er fortfuhr, stürmte all das Erinnerte in seiner ganzen Tragweite auf mich ein: Virginia ist jung gestorben; Großvater hat »Episoden«; Mutter weint in ihrem Zimmer; jemand hat im Garten ein Foto gemacht; Schwester Cecilia ist im Vestibül; Dad brüllt, und ich bin im Wohnzimmer, trete mit den Füßen gegen die Sofabeine, stoße meinen Notenständer um, erkläre hitzig und voll Trotz, dass ich diese kindischen Tonleitern nicht spielen werde.

»Katja Wolff hat deine Schwester getötet, Gideon«, sagte Raphael. »Sie hat sie in der Badewanne ertränkt.«

28. September

Mehr sagte er nicht. Er machte einfach dicht, schaltete ab oder was immer Menschen tun, wenn sie die Grenze des Unaussprechlichen erreichen.

Als ich rief: »Ertränkt? Absichtlich? Wann? Warum?«, und spürte, wie das Entsetzen mit eisigen Fingern über meinen Rücken strich, sagte er: »Mehr kann ich dir nicht sagen. Frag deinen Vater.«

Mein Vater. Er sitzt auf der Bettkante und beobachtet mich, und ich habe Angst.

Wovor?, fragen Sie mich. Wie alt sind Sie, Gideon?

Ich muss noch klein sein, er wirkt so groß wie ein Riese, obwohl er doch in Wirklichkeit etwa die gleiche Statur hat wie ich heute. Er legt seine Hand auf meine Stirn - Und - fühlen Sie sich durch die Berührung getröstet?

Nein. Nein, ich schrecke vor ihr zurück.

Sagt er etwas?

Nein, zuerst nicht. Er sitzt nur bei mir. Aber dann legt er mir die Hände auf die Schultern, als glaubte er, ich würde aufzustehen versuchen, und wollte mich ruhig halten, damit ich ihm zuhöre. Und ich bleibe gehorsam liegen. Wir sehen einander an, und dann beginnt er endlich zu sprechen.

Er sagt: »Du brauchst keine Angst zu haben, Gideon. Dir kann nichts passieren.«

Wovon spricht er?, fragen Sie. Haben Sie einen bösen Traum gehabt? Ist er darum bei Ihnen? Oder geht es um etwas Schlimmeres? Katja Wolff vielleicht? Brauchen Sie vor ihr keine Angst zu haben? Oder liegt dieser Abend weiter zurück, Gideon, in einer Zeit, als Katja Wolff noch gar nicht bei Ihnen im Haus war?

Es waren Menschen im Haus, daran erinnere ich mich. Man hat mich unter Sarah-Jane Becketts Obhut in mein Zimmer geschickt. Sie redet und redet, sie hält endlose Selbstgespräche, ihre Worte sind nicht für mich bestimmt. Und während sie redet, läuft sie unaufhörlich hin und her und zerrt an ihren Fingerspitzen, als wollte sie sich die Nägel ausreißen. »Ich hab's gewusst«, sagt sie.

»Ich habe es kommen sehen. Diese verdammte kleine Hure!« Ich weiß, dass das schlimme Wörter sind, und das erschreckt und ängstigt mich, weil Sarah-Jane sonst nie schlimme Wörter gebraucht. »Hat gedacht, wir würden es nicht erfahren«, sagt sie.

»Hat sich eingebildet, wir würden es nicht merken.«

Was merken?

Ich weiß es nicht.

Vor meinem Zimmer höre ich Schritte. Jemand weint. »Hier! Hier drinnen!« Die laute Stimme meines Vaters. Sie ist kaum zu erkennen, so sehr ist sie von Panik verzerrt. Neben seinen lauten Rufen höre ich meine Mutter. »Richard!«, sagt sie. »O mein Gott, Richard! Richard!« Mein Großvater tobt, meine Großmutter jammert laut, und irgendjemand befiehlt, den Raum freizumachen.

»Alle hinaus, bitte! Den Raum freimachen.« Diese letzte Stimme ist mir unbekannt. Als Sarah-Jane Beckett sie hört, bleibt sie stehen, schweigt und wartet mit gesenktem Kopf hinter der Tür.

Dann höre ich weitere Stimmen - auch diese fremd. Jemand stellt eine Folge schneller Fragen, die alle mit dem Wort »Wie« beginnen.

Und Schritte, ein ständiges Hin und Her, irgendwelche Metallkästen schlagen auf den Boden, ein Mann blafft Anweisungen, andere Männer antworten kurz und angespannt, und irgendjemand ruft in diesem ganzen Durcheinander weinend: »Nein! Ich lasse sie nicht allein!«

Das muss Katja sein, sie sagt lasse statt ließ, wie das jemandem in einem Moment der Panik passieren kann, der mit der Sprache nicht vertraut ist. Und als sie das laut weinend ausruft, umfasst Sarah-Jane Beckett den Türknauf und sagt: »Du Luder!«

Mir scheint, dass sie in den Korridor hinausgehen will, wo der Lärm ist, aber das tut sie nicht. Vielmehr sieht sie sich nach dem Bett um, von dem aus ich sie beobachte, und sagt: »Nun werde ich wohl doch bleiben.«

Bleiben, Gideon? Wollte sie denn weg? Wohin? Hatte sie vielleicht vor, in Urlaub zu fahren?

Nein, ich glaube nicht, dass sie davon sprach. Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass sie eigentlich vorhatte, ihre Stellung bei uns aufzugeben.

Ist sie vielleicht entlassen worden?

Das erscheint mir nicht logisch. Wenn sie wegen Inkompetenz, Unehrlichkeit oder irgendeiner anderen Verfehlung entlassen worden wäre, wieso hätte dann Sonias Tod etwas an der Situation ändern sollen? Aber so war es, Dr. Rose. Sarah-Jane Beckett bleibt bis zu meinem sechzehnten Lebensjahr meine Lehrerin. Zu diesem Zeitpunkt heiratet sie und zieht nach Cheltenham. Sie wollte also damals aus einem anderen Grund weg, der jedoch mit Sonias Tod hinfällig wurde.

Heißt das, Sonia war der Grund für Sarah-Janes Absicht, zu gehen?

Es scheint so. Aber ich habe keine Ahnung, was dahinter steckt.