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7

»Das könnte ihr Exmann gewesen sein«, meinte Chief Inspector Leach, als er von dem Mann hörte, den Ted Wiley auf dem Parkplatz des Sixty Plus Clubs beobachtet hatte. »Scheidung heißt noch lange nicht auf ewig Lebewohl, das können Sie mir glauben. Er heißt Richard Davies. Am besten stellen Sie gleich mal fest, wo er zu finden ist.«

»Vielleicht war er auch der dritte Mann auf dem Anrufbeantworter«, sagte Lynley.

»Was hatte er gesagt?«

Barbara las es aus ihren Notizen vor. »Seine Stimme klang ärgerlich«, sagte sie und fügte nachdenklich hinzu: »Ich frage mich, ob die gute Eugenie ihre Männer gegeneinander ausgespielt hat.«

»Sie denken an den anderen - Wiley?«, fragte Leach.

»Da könnte doch was dran sein«, fuhr Barbara fort. »Auf ihrem Anrufbeantworter haben wir die Stimmen drei verschiedener Männer. Sie streitet sich - Wiley zufolge - mit einem Typen auf dem Parkplatz. Sie kündigt Wiley an, dass sie ihm etwas zu sagen hat, etwas, was er offenbar für bedeutsam hält…« Barbara zögerte mit einem Blick zu Lynley.

Er wusste, was sie dachte und gern sagen wollte. Wir haben einen Stapel Liebesbriefe von einem verheirateten Mann im Haus gefunden, und einen Computer mit Internetanschluss. Sie wartete unverkennbar auf grünes Licht von ihm, um damit herauszurücken, aber er sagte nichts, und so schloss sie ihre Ausführungen kleinlaut mit den Worten: »Wir sollten alle Männer, die mit ihr bekannt waren, genau unter die Lupe nehmen, wenn Sie mich fragen.«

Leach nickte. »Dann mal ran an Richard Davies.«

Sie waren im Besprechungsraum, wo Beamte über die Ergebnisse der ihnen zugewiesenen Ermittlungsaufgaben berichteten. Nachdem Lynley auf der Rückfahrt nach London bei Leach angerufen hatte, hatte dieser zusätzliche Leute für die Suche nach einem schwarzen oder dunkelblauen Audi abgestellt, in dessen Kennzeichen die Buchstaben ADY waren. Einen Constable hatte er beauftragt, sich von der britischen Telefongesellschaft eine Liste sämtlicher Anrufe, die vonDoll Cottage aus getätigt worden oder dort eingegangen waren, zusammenstellen zu lassen, ein anderer sollte die Firma Cellnet veranlassen, die Nummer des Handys festzustellen, dessen Eigentümer eine Nachricht auf Eugenie Davies' Anrufbeantworter hinterlassen hatte.

Unter den bislang eingegangenen Berichten war nur der des Mannes, der zum Labor Verbindung hielt, brauchbar: An der Kleidung der Toten sowie an ihrem Körper, insbesondere an ihren Beinen, waren bei der Untersuchung winzige Lackpartikelchen gefunden worden.

»Sie werden eine chemische Analyse vornehmen«, sagte Leach, »dann lässt sich vielleicht die Marke des Wagens feststellen, der sie überfahren hat. Aber das braucht natürlich Zeit. Sie kennen das ja.«

»Welche Farbe haben die Lackteilchen? Wissen Sie das?«, fragte Lynley.

»Schwarz.«

»Und welche Farbe hat der beschlagnahmte Porsche?«

»Ach ja, der Porsche…« Leach ermunterte seine Leute, sich wieder an ihre Arbeit zu begeben, und ging mit Lynley und Barbara zu seinem Büro. »Er ist silbern«, sagte er »und sauber. Aber ich würde sowieso niemals erwarten, dass jemand - auch wenn er noch so viel Geld hat - einen Menschen mit einem Auto überfährt, das mehr gekostet hat als das Haus meiner Mutter. Wir haben den Wagen noch in Gewahrsam. Das hat sich bisher als recht nützlich erwiesen.«

Er blieb vor einem Kaffeeautomaten stehen und schob einige Münzen in den Zahlschlitz. Eine klebrige braune Flüssigkeit tropfte in einem dünnen Rinnsal in einen Plastikbecher. Leach nahm ihn und hielt ihn hoch. »Möchten Sie?« Barbara nickte und bereute es, ihrer Miene nach zu urteilen, sobald sie von dem Gebräu gekostet hatte; Lynley war so klug, abzulehnen. Nachdem Leach sich auch noch einen Becher hatte einlaufen lassen, führte er sie in sein Büro, wo er die Tür mit dem Ellbogen zuschob. Das Telefon auf seinem Schreibtisch klingelte. Er hob ab. »Leach«, blaffte er, stellte seinen Kaffeebecher ab und ließ sich mit einem auffordernden Nicken zu Lynley und Barbara in seinen Sessel fallen. »Hallo!«, rief er ins Telefon. Sein Gesicht hellte sich auf.

»Nein, nein - sie ist was?«, fragte er mit einem Blick zu seinen beiden Kollegen. »Esmé, ich kann im Moment nicht reden. Aber glaub mir: Kein Mensch hat was von Wiederverheiratung gesagt, okay? Ja. In Ordnung. Wir sprechen uns später, Liebes.« Er legte auf. »Kinder. Scheidung. Der reinste Albtraum.«

Lynley und Barbara murmelten Anteilnehmendes. Leach schlürfte seinen Kaffee und ging zur Tagesordnung über. »Unser Freund Pitchley war heute Morgen samt Anwalt zu einem kleinen Schwatz hier«, sagte er und berichtete, was sie von dem Mann erfahren hatten: dass er Eugenie Davies, das Fahrerfluchtopfer, nicht nur gekannt, sondern zur Zeit der Ermordung ihrer kleinen Tochter mit ihr unter einem Dach gelebt hatte. »Er hieß damals Pitchford. Warum er seinen Namen geändert hat, verrät er nicht«, schloss Leach. »Ich möchte gern glauben, dass ich irgendwann darauf gekommen wäre, wer er ist, aber ich habe ihn das letzte Mal vor zwanzig Jahren gesehen, und seitdem ist viel Wasser die Themse runtergeflossen.«

»Das ist wahr«, sagte Lynley.

»Aber ich muss sagen, jetzt, wo ich weiß, mit wem wir es zu tun haben, scheint's mir gar nicht ausgeschlossen, dass der Bursche die Hände im Spiel hat - ob Porsche oder nicht. Der hat was auf dem Gewissen, und eine Lappalie ist es nicht. Das spür ich.«

»War er damals beim Tod des Kindes verdächtig?« erkundigte sich Lynley.

Barbara, die ihr Heft herausgeholt hatte, blätterte um und schrieb mit. Das Blatt sah aus, als wäre es voller Soßenflecken.

»Anfangs war gar niemand verdächtig. Bis die Befunde reinkamen, sah es nur nach Fahrlässigkeit aus. Sie wissen schon: Man rennt zum Telefon, während das Kleine in der Wanne sitzt. Das Kind grapscht nach seiner Schwimmente, rutscht aus und schlägt mit dem Kopf gegen die Wanne. Ende. Tragisch, aber es kommt vor.«

Leach trank wieder einen Schluck Kaffee und nahm irgendein Dokument zur Hand, mit dem er herumfuchtelte, während er sprach. »Aber als die Untersuchungsbefunde des Leichnams eingingen, zeigte sich, dass man Blutergüsse und Frakturen festgestellt hatte, für die es keine Erklärung gab. Und damit wurden alle verdächtig. Sehr schnell geriet das Kindermädchen ins Visier, und der Verdacht spitzte sich im Handumdrehen zu. Die Frau war aber auch ein Monster. Die vergess ich bestimmt nie, dieses deutsche Miststück. Eine eiskalte Person war das. Einmal hat sie uns Rede und Antwort gestanden - ein einziges Mal! Dabei ging es um ein Kind, das gestorben war, während es sich in ihrer Obhut befand! Danach hat sie kein Wort mehr gesagt. Weder bei der Kripo, noch zu ihrem Anwalt, noch vor Gericht. Sie hat ihr Schweigen bis nach Holloway durchgehalten und nie auch nur eine Träne vergossen. Aber was kann man von einer Deutschen auch erwarten? Die Leute müssen verrückt gewesen sein, so eine zu engagieren.«

Aus dem Augenwinkel nahm Lynley wahr, dass Barbara Havers mit ihrem Kugelschreiber auf das Blatt Papier klopfte, das sie vor sich hatte. Er drehte ein wenig den Kopf zu ihr hin und sah, dass sie Leach mit zusammengekniffenen Augen fixierte. Intoleranz jeglicher Art - vom Fremdenhass bis zur Frauenfeindlichkeit - konnte sie nicht ausstehen, und er sah ihr an, dass sie nahe dran war, eine Bemerkung loszulassen, die sie dem Chief Inspector gewiss nicht sympathischer machen würde. Ehe es dazu kommen konnte, sagte er: »Ihre deutsche Herkunft hat also gegen sie gesprochen?«

»Ihre miese deutsche Mentalität hat gegen sie gesprochen.«

»>An den Stranden kämpfen wir sie niedere«, murmelte Barbara.

Lynley schoss einen scharfen Blick auf sie ab. Sie schoss zurück.

Leach hatte entweder nichts gehört, oder er hielt es für klüger, Barbara Havers nicht zu beachten. Lynley war froh darüber. Interne Zwistigkeiten über Fragen von Political Correctness brauchten sie jetzt wirklich nicht.

Leach lehnte sich in seinem Sessel zurück und sagte: »Außer dem Terminkalender und den Nachrichten auf dem Anrufbeantworter haben Sie nichts im Haus gefunden?«

»Bisher nicht«, antwortete Lynley. »Eine Postkarte von einer Frau namens Lynn, aber die scheint mir im Moment nicht von Belang zu sein. Das Kind der Frau ist vor kurzem gestorben, und Mrs. Davies war anscheinend bei der Beerdigung.«

»Sonst war keine Korrespondenz da?«, fragte Leach. »Briefe, Rechnungen oder so was?«

»Nein«, sagte Lynley. »Nichts.« Er sah Barbara nicht an. »Aber auf dem Dachboden haben wir eine Seekiste voller Unterlagen gefunden, die sich alle auf ihren Sohn beziehen. Zeitungen, Zeitschriften, Konzertprogramme. Major Wiley sagte uns, dass Gideon Davies und seine Mutter keinerlei Kontakt hatten, aber nach dieser Materialsammlung zu urteilen, würde ich meinen, dass nicht Mrs. Davies diese Trennung wollte.«

»Der Sohn?«, fragte Leach.

»Oder der Vater.«

»Womit wir wieder bei der Auseinandersetzung auf dem Parkplatz wären.«

»Möglich, ja.«

Leach trank den Rest seines Kaffees aus und druckte den Plastikbecher zusammen. »Aber merkwürdig ist es schon, meinen Sie nicht auch, dass in ihrem Haus so wenig Persönliches zu finden war«, sagte er.

»Sie scheint sehr spartanisch gelebt zu haben, Sir.«

Leach fixierte Lynley. Lynley fixierte Leach. Barbara Havers schrieb wie eine Wilde in ihr Heft. Ein Moment verstrich, in dem keiner irgendetwas zugab. Lynley wartete darauf, dass der Chief Inspector ihm die Information geben würde, die er haben wollte. Leach tat es nicht. Er sagte nur: »Gut, dann nehmen Sie sich Davies vor. Er dürfte nicht schwer zu finden sein.«

Wenig später waren Lynley und Barbara wieder draußen, auf dem Weg zu ihren Autos. Barbara zündete sich eine Zigarette an und sagte: »Was wollen Sie mit den Briefen tun, Inspector?«

Lynley tat nicht so, als verstünde er nicht. »Ich werde sie Webberly zurückgeben - irgendwann«, sagte er.

»Hab ich das richtig verstanden?« Barbara zog an ihrer Zigarette und stieß gereizt eine Rauchwolke aus. »Wenn rauskommt, dass sie die Briefe mitgenommen und nicht abgegeben - dass wir sie mitgenommen und nicht abgegeben haben… zur Hölle, Inspector, ist Ihnen klar, was das heißt? Und dann noch der Computer? Wieso haben Sie Leach von dem auch nichts gesagt?«

»Ich werde es ihm schon noch sagen, Havers«, entgegnete Lynley. »Sobald ich weiß, was da alles gespeichert ist.«

»Heiliger Strohsack!«, schrie Barbara. »Das ist Unterdrückung -«

»Hören Sie, Barbara, es gibt nur einen Weg, wie herauskommen kann, dass wir den Computer und die Briefe haben, und Sie wissen, welchen ich meine.« Er sah sie ruhig und unverwandt an.

Ihre Miene veränderte sich. »Mensch, Inspector«, sagte sie beleidigt, »ich bin keine Petze.«

»Darum arbeite ich mit Ihnen zusammen, Barbara.« Er öffnete die Tür zu seinem Bentley und sagte über das Wagendach hinweg:

»Wenn man mich zu dem Fall hinzugezogen hat, um Webberly Rückendeckung zu geben, dann möchte ich gern, dass man mir das ausnahmsweise klipp und klar ins Gesicht sagt. Und Sie?«

»Ich? Ich möchte vor allem keinen Ärger«, antwortete Barbara.

»Mir reicht's, dass ich vor zwei Monaten beinahe rausgeflogen wäre.« Ihr Gesicht war bleich und hatte einen Ausdruck, den er mit der kampflustigen Person, mit der er seit mehreren Jahren zusammenarbeitete, nur schwer in Einklang bringen konnte. Sie hatte in den vergangenen fünf Monaten beruflich einiges einstecken müssen, was sie auch psychisch erschüttert hatte, und Lynley sah ein, dass er ihr die Möglichkeit geben musste, sich vor einer weiteren Erfahrung dieser Art zu schützen. Das schuldete er ihr.

»Barbara«, sagte er deshalb, »möchten Sie aussteigen? Das ist kein Problem. Ein Anruf und -«

»Nein, ich will nicht aussteigen.«

»Aber es könnte ganz schön brenzlig werden. Es ist schon brenzlig. Ich könnte es vollkommen verstehen, wenn Sie -«

»Reden Sie keinen Quatsch, Inspector. Ich bin dabei. Ich find nur, wir sollten ein bisschen vorsichtiger sein.«

»Ich bin vorsichtig«, versicherte Lynley. »Die Briefe von Webberly spielen in diesem Fall keine Rolle.«

»Hoffentlich liegen Sie mit dieser Ansicht richtig«, meinte Barbara. Sie trat vom Wagen weg. »Also, dann - wie machen wir weiter?«

Lynley überlegte einen Moment, wie sie am besten an den nächsten Abschnitt ihrer Aufgabe herangehen sollen. »Sie sehen aus, als hätten Sie spirituellen Rat nötig«, sagte er. »Schauen Sie mal, ob Sie das Kloster der Unbefleckten Empfängnis aufstöbern können.«

»Und Sie?«

»Ich werde Leachs Vorschlag folgen und mir Richard Davies vorknöpfen. Wenn er seine geschiedene Frau in letzter Zeit gesehen oder gesprochen hat, weiß er vielleicht, was für eine Sünde sie Wiley beichten wollte.«

»Vielleicht war er selbst die Sünde«, meinte Barbara.

»Das ist natürlich auch eine Möglichkeit«, bestätigte Lynley.

Jill Foster war bei der Abarbeitung ihrer Projektliste, die sie das erste Mal als fünfzehnjähriges Schulmädchen aufgestellt hatte, nie auf größere Schwierigkeiten gestoßen. Den ganzen Shakespeare lesen (mit zwanzig erledigt); per Anhalter durch Irland reisen (mit einundzwanzig erledigt); in Cambridge in zwei Fächern mit Auszeichnung abschließen (mit zweiundzwanzig geschafft); allein durch Indien reisen (mit dreiundzwanzig); den Amazonas erforschen (sechsundzwanzig); mit dem Kajak den Nil hinunterfahren (siebenundzwanzig); einen maßgeblichen Aufsatz über Proust schreiben (noch in Arbeit); die Romane F. Scott Fitzgeralds für das Fernsehen bearbeiten (ebenfalls noch in Arbeit)… Nicht einmal war sie auf dem ehrgeizigen Weg zur Erreichung ihrer sportlichen und intellektuellen Ziele auch nur gestolpert.

Im persönlichen Bereich sah es etwas anders aus. Sie hatte sich zum Ziel gesetzt, vor ihrem fünfunddreißigsten Geburtstag verheiratet zu sein und Kinder zu haben, hatte aber feststellen müssen, dass die Verwirklichung dieses Plans, die nur unter Mitarbeit eines entsprechend enthusiastischen Partners bewerkstelligt werden konnte, schwieriger war als gedacht. Eigentlich hatte sie es in der konventionellen Reihenfolge gewollt: erst die Heirat, dann die Kinder. Natürlich war es »in«, einfach zusammenzuleben und Kinder in die Welt zu setzen. Die Promis aus dem Schaugeschäft und dem Sport machten es täglich vor und wurden dafür, dass sie sich fortpflanzten wie die Karnickel, von der Regenbogenpresse auch noch in den Himmel gehoben, als wäre das ein besonderes Talent. Aber Jill gehörte nicht zu denen, die jeden Trend mitmachten, schon gar nicht, wenn es um ihre Projektliste ging. Man erreichte seine Ziele nicht, indem man Abkürzungen nahm, die nichts als flüchtige Modeerscheinungen waren.

Durch die missglückte Beziehung mit Jonathon hatte ihre Zuversicht, ihre Ehepläne umsetzen zu können, eine Zeit lang schwer gelitten. Aber dann war Richard in ihr Leben getreten, und sie hatte sehr schnell erkannt, dass der Erfolg, der sich ihr bisher entzogen hatte, endlich in Reichweite war. In der Welt ihrer Großeltern - sogar ihrer Eltern - wäre es ein Wahnsinn gewesen, der nur ins Verderben führen konnte, vor Abgabe eines förmlichen Versprechens mit einem Mann intim zu werden. Selbst heute noch gab es wahrscheinlich jede Menge »gute Freundinnen«, die ihr in Anbetracht ihres Endziels geraten hätten, auf den Ring, die Kirchenglocken und das Konfetti zu warten, bevor sie mit dem Mann, den sie gern heiraten wollte, ins Bett ging, oder zumindest »vorsichtig« zu sein, wie es genannt wurde, bis die Unterschrift auf dem Standesamt geleistet war. Doch Richards ernstes Werben war für sie nach Jonathons schnödem Verrat besonders schmeichelhaft und wichtig gewesen. Sein Begehren hatte ihr Begehren geweckt, und diese Erkenntnis machte sie glücklich. Denn nach dem Fiasko mit Jonathon hatte sie schon daran zu zweifeln begonnen, dass sie je wieder fähig wäre, dieses hitzige Verlangen nach einem Mann zu empfinden.

Dieses Verlangen war, wie Jill herausfand, untrennbar verbunden mit dem Wunsch nach einer Schwangerschaft. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass sie sich bewusst zu werden begann, wie wenig Zeit ihr noch blieb, aber jedes Mal, wenn Richard und sie in diesen ersten Monaten miteinander im Bett gewesen waren, wollte sie ihn noch tiefer in sich aufnehmen, als könnte dieser Akt totaler Hingabe garantieren, dass aus ihrer Vereinigung ein Kind entstehen würde.

Sie hatte also gewissermaßen das Pferd vom Schwanz her aufgezäumt, aber was spielte das schon für eine Rolle? Sie waren glücklich miteinander, und sie wusste, dass Richard sie liebte.

Trotzdem regten sich manchmal Zweifel, ein Erbe, das Jonathon mit seinen leeren Versprechungen und Lügen ihr hinterlassen hatte. Zwar hielt sie sich, wenn diese Zweifel auftauchten, jedes Mal vor, dass die beiden Männer nichts gemeinsam hatten, aber es gab Momente, wo ein Schatten auf Richards Gesicht oder ein Schweigen in einem Gespräch mit ihm flatternde Unruhe bei ihr auslöste.

Selbst wenn Richard und ich nicht heiraten, pflegte sie sich in den schlimmsten Momenten zu sagen, kann Catherine und mir nichts passieren. Ich habe schließlich einen Beruf, auf den ich zurückgreifen kann! Und die Zeiten, als ledige Mütter wie Aussätzige behandelt wurden, sind längst vorbei.

Aber darum ging es in Wirklichkeit gar nicht. Es ging um die Erreichung ihres Ziels, um Heirat und Familie, wobei die Familie für sie durch Vater, Mutter und Kind definiert war.

Und mit diesem Ziel vor sich, sagte sie jetzt schmeichelnd zu Richard: »Ach, Schatz, ich weiß, du wärst sofort einverstanden, wenn du es sehen könntest.« Sie waren in Richards Wagen auf dem Weg von Shepherd's Bush nach South Kensington, zu einem Termin bei einem Immobilienmakler, der ihnen einen Verkaufspreis für Richards Wohnung nennen sollte. Jill fand, das wäre ein erster Schritt in die richtige Richtung, da sie selbstverständlich nach der Geburt des Kindes nicht alle zusammen in Braemar Mansions hausen konnten. Die Wohnung war viel zu klein.

Natürlich war sie froh über diesen zusätzlichen Beweis von Richards ernsthaften Absichten, aber sie verstand immer noch nicht, warum sie nicht gleich den nächsten Schritt unternehmen und sich ein Einfamilienhaus - komplett renoviert - ansehen konnten, das sie in Harrow aufgetrieben hatte. Anschauen hieß ja noch lange nicht kaufen, um Himmels willen. Da sie ihre Wohnung noch nicht zum Verkauf angeboten hatte - »Wir wollen doch nicht gleich beide obdachlos werden«, hatte Richard gemeint, als sie vorgeschlagen hatte, das zu tun -, war nicht zu befürchten, dass sie postwendend mit dem unterzeichneten Kaufvertrag abziehen würden.

»Du könntest dir dann ein besseres Bild machen, was ich mir für uns vorstelle«, erklärte sie. »Dann wissen wir es wenigstens gleich, wenn dir meine Vorstellungen nicht gefallen, und ich kann mich entsprechend umorientieren.« Was sie natürlich nicht tun würde. Sie würde lediglich auf subtilere Weise versuchen, ihn zum Nachgeben zu bewegen.

»Ich brauche es nicht zu sehen, um zu wissen, was dir vorschwebt, Schatz«, antwortete Richard, während er den Wagen durch den Verkehr lenkte, der für die Tageszeit noch einigermaßen erträglich war. »Moderner Komfort, schalldichte Fenster, Spannteppiche und ein großer Garten.« Er sah sie kurz an und lächelte liebevoll. »Wenn du mir sagen kannst, dass ich mich geirrt habe, lade ich dich ins Restaurant ein.«

»Du musst mich sowieso ins Restaurant einladen«, erwiderte sie. »Wenn ich mich in die Küche stelle, um für dich zu kochen, schwellen meine Beine auf Elefantengröße an.«

»Aber sag mir, dass ich mich geirrt habe.«

»Ach, du weißt doch, dass du dich nicht geirrt hast.« Sie lachte und strich ihm mit zärtlicher Bewegung über die Schläfe, wo sein Haar grau war. »Und halt mir jetzt bitte keinen Vortrag, falls du das im Sinn haben solltest. Ich war nicht allein unterwegs, um mir das Haus anzusehen. Der Makler hat mich nach Harrow gefahren.«

»Wie sich's gehört«, sagte Richard. Seine Hand wanderte zu ihrem Bauch. »Bist du wach, Cara Ann?«, fragte er.

Catherine Ann, korrigierte Jill im Stillen, aber sie sagte nichts.

Er hatte sich gerade von der Niedergeschlagenheit erholt, die ihn gequält hatte, als er am Morgen zu ihr gekommen war, und es wäre herzlos gewesen, ihn jetzt von neuem aufzuregen. Zwar würde ein Streit über den Namen ihres Kindes sicher keine tiefer gehenden Erschütterungen auslösen, aber sie fand, dass Richard nach dem, was er heute durchgemacht hatte, ihr Verständnis verdiente.

Er liebte die Frau nicht mehr, nein. Er war ja seit Ewigkeiten von ihr geschieden. Einzig der Schock hatte ihn so schwer mitgenommen; sich den verstümmelten Leichnam eines Menschen ansehen zu müssen, mit dem er Jahre seines Lebens geteilt hatte, das würde bestimmt jeden fertig machen. Wenn sie den zerstörten Körper Jonathon Stewarts identifizieren müsste, würde sie dann nicht ähnlich reagieren?

Mit diesem Gedanken beschloss sie, sich in Bezug auf das Haus in Harrow kompromissbereit zu zeigen. Sie war sicher, ihn damit zu gleicher Kompromissbereitschaft zu veranlassen. »Na schön«, sagte sie darum, »wir fahren heute nicht nach Harrow. Aber wie steht's mit dem modernen Komfort, Richard? Kannst du dich damit anfreunden?«

»Gut funktionierende sanitäre Anlagen und schalldichte Fenster?«, fragte er. »Spannteppiche, Geschirrspülmaschine und was sonst noch so dazu gehört? Ich denke, ich kann damit leben. Solange du da bist. Solange ihr beide da seid.« Er lächelte, doch in seinen Augen ahnte sie noch etwas anderes, etwas wie Trauer um das, was hätte sein können.

Aber er liebt Eugenie nicht mehr, dachte sie sofort. Er liebt sie nicht, und er kann sie auch gar nicht lieben, weil sie tot ist. Sie ist tot.

»Richard«, sagte sie, »ich habe noch einmal über die Wohnungen nachgedacht, meine und deine, und welche von ihnen wir zuerst verkaufen sollten.«

Er bremste vor einem roten Licht beim Notting-Hill- Bahnhof ab, wo Menschen im typischen Londoner Schwarz die Bürgersteige entlangeilten und ihren Teil zur Londoner Müllflut beisteuerten.

»Ich dachte, das hätten wir bereits entschieden.«

»Ja, stimmt schon, aber ich habe noch mal nachgedacht…«

»Und?« Er schien argwöhnisch.

»Na ja, ich denke, meine Wohnung wird sich leichter verkaufen lassen. Sie ist modern, von Grund auf renoviert, das Haus ist elegant und steht in einem guten Wohnviertel. Meiner Ansicht nach würde ich genug dafür bekommen, um die Anzahlung auf ein Haus zu leisten. Das heißt, wir müssten nicht warten, bis wir beide Wohnungen verkauft haben, um uns was Gemeinsames anzuschaffen.«

»Aber wir hatten doch alles schon entschieden«, wandte Richard ein. »Wir haben den Makler bestellt -«

»Na, den können wir doch wieder abbestellen. Wir brauchen nur zu sagen, dass wir es uns anders überlegt haben. Komm, Schatz, seien wir doch mal ehrlich. Deine Wohnung ist museumsreif. Und der Pachtvertrag läuft keine fünfzig Jahre mehr. Das Haus selbst ist nicht schlecht-wenn es den Eigentümern mal einfallen würde, es herzurichten -, aber die Wohnung zu verkaufen, das wird bestimmt Monate dauern. Bei meiner hingegen… Du musst doch einsehen, wie anders alles sein könnte.«

Die Ampel schaltete um, und sie fuhren weiter. Richard sprach erst wieder, als sie in die Kensington Church Street einbogen, dieses Paradies der Antiquitätensammler. »Ja, du hast Recht, es könnte Monate dauern, meine Wohnung zu verkaufen«, sagte er.

»Aber ist das denn ein Problem? Du wirst dir doch in den nächsten sechs Monaten bestimmt keinen Umzug antun wollen!«

»Aber -«

»Jill, das wäre Wahnsinn in deinem Zustand. Es wäre nicht nur eine Tortur, sondern vielleicht auch gefährlich.« An der Karmeliterkirche vorbei, lenkte er den Wagen durch das Gewühl von Taxis und Bussen in Richtung South Kensington und bog nach einiger Zeit in die Cornwall Gardens ein. »Bist du nervös, Schatz? Du sprichst fast nie über die Entbindung. Und ich hatte die ganze Zeit den Kopf voll - erst Gideon und jetzt diese… diese andere Geschichte -, ich konnte mich gar nicht richtig um dich kümmern. Glaub mir, ich weiß das.«

»Richard, ich verstehe doch, dass du dich um Gideon sorgst. Ich wollte wirklich nicht den Eindruck erwecken - «

»Hör zu, Schatz, ich liebe dich, ich freue mich auf unser Kind und auf ein Leben zusammen mit dir. Und wenn du möchtest, dass ich jetzt, so kurz vor dem Termin, mehr bei dir in Shepherd's Bush bin, dann brauchst du es nur zu sagen.«

»Du bist doch sowieso schon jede Nacht da. Mehr kann ich wirklich nicht verlangen.«

Er manövrierte den Wagen rückwärts in eine Parklücke, etwa dreißig Meter von Braemar Mansions entfernt, schaltete den Motor aus und wandte sich ihr zu. »Du kannst alles von mir verlangen, Jill. Und wenn du deine Wohnung gern vor meiner verkaufen möchtest, ist mir das auch recht. Aber wir ziehen auf keinen Fall um, bevor das Kind da ist und du dich von den Strapazen der Entbindung gründlich erholt hast. Ich bin ziemlich sicher, dass deine Mutter mit mir einer Meinung ist.«

Dagegen konnte Jill nichts vorbringen. Sie wusste, ihre Mutter würde überhaupt kein Verständnis aufbringen, wenn es ihr - Jill - einfiele, einen Umzug in Angriff zu nehmen, bevor sie sich nicht mindestens drei Monate von der Entbindung erholt hatte.

»Eine Geburt strengt den Körper an, Kind«, würde sie sagen.

»Verwöhn dich ein bisschen, Jill. Später hast du dazu vielleicht keine Möglichkeit mehr.«

»Also?«, fragte Richard und schaute sie liebevoll lächelnd an.

»Was sagst du?«

»Du bist immer so fürchterlich logisch und vernünftig. Wie kann ich da widersprechen? Was du gesagt hast, ist natürlich vollkommen richtig.«

Er neigte sich zu ihr und küsste sie. »Du kannst sogar mit Grazie verlieren. Und wenn ich mich nicht irre« - er wies mit einer Kopfbewegung zu dem Gebäude im edwardianischen Stil, als er um den Wagen herumkam und ihr heraushalf - »ist unser Makler auf die Minute pünktlich. Ein gutes Omen, finde ich.«

Hoffentlich, dachte Jill mit einem Blick auf den hoch gewachsenen blonden Mann, der gerade die Vortreppe zum Haus hinaufging und klingelte, nachdem er kurz das Klingelbrett studiert hatte.

»Ich nehme an, Sie suchen uns«, rief Richard im Näherkommen.

Der Mann drehte sich herum. »Mr. Davies?«

»Richtig.«

»Thomas Lynley. New Scotland Yard.«

Lynley hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, die Reaktionen zu beobachten, wenn er sich Leuten vorstellte, die ihn nicht erwartet hatten, und so hielt er es auch jetzt, als der Mann und die Frau einen Moment am Fuß der Treppe vor dem ziemlich heruntergekommenen Haus am westlichen Ende der Cornwall Gardens stehen blieben.

Die Frau machte den Eindruck, als wäre sie normalerweise recht zierlich, im Moment allerdings wirkte sie wegen ihrer weit fortgeschrittenen Schwangerschaft plump und schwerfällig. Ihre Fesseln waren stark angeschwollen und zogen die Aufmerksamkeit auf ihre Füße, die unverhältnismäßig groß waren. Sie bewegte sich leicht schwankend, als hätte sie Mühe, das Gleichgewicht zu halten.

Davies ging ein wenig nach vorn gebeugt, offenbar die Auswirkung eines Leidens, das mit den Jahren schlimmer zu werden drohte. Sein Haar, früher vielleicht blond oder rotblond, es war schwer zu sagen, war zu einem faden Grau ausgeblichen, und er trug es glatt aus der Stirn gestrichen und versuchte nicht zu verbergen, wie dünn es geworden war.

Beide, sowohl Davies als auch die Frau, waren sichtlich erstaunt, als sie hörten, wen sie vor sich hatten, die Frau vielleicht noch etwas mehr als der Mann. Sie sah Davies an und sagte: »Richard? Scotland Yard?«, als brauchte sie entweder seinen Schutz oder verstünde nicht, was die Polizei von ihnen wollte.

Davies sagte: »Handelt es sich -?« unterbrach sich aber sofort, da er vielleicht einsah, dass sich mit der Polizei nicht gut zwischen Tür und Angel verhandeln ließ. »Kommen Sie herein«, sagte er stattdessen. »Wir hatten eigentlich einen Immobilienmakler erwartet. Deshalb sind wir etwas überrascht. Das ist übrigens Mrs. Foster, meine zukünftige Frau.«

Sie schien um die Dreißig zu sein - nicht hübsch, aber mit einem klaren Gesicht und schönem, dunkelbraunem Haar, das sie halblang trug -, und Lynley hatte zunächst geglaubt, sie wäre eine Tochter oder vielleicht eine Nichte Richard Davies'. Er nickte ihr grüßend zu und bemerkte dabei, wie verkrampft ihre Hand Davies' Arm festhielt.

Davies ging ihnen voraus in seine Wohnung im ersten Stock des Hauses. Das Wohnzimmer führte zur Straße, ein etwas düsterer Raum mit einem Fenster, vor dem die Läden geschlossen waren. Davies ging hin, um sie zu öffnen, und sagte dabei zu seiner Lebensgefährtin: »Setz dich, Schatz, und leg die Füße hoch«, und zu Lynley: »Kann ich Ihnen etwas anbieten? Tee? Kaffee? Wir erwarten, wie gesagt, jeden Moment einen Makler. Da bleibt uns leider nicht viel Zeit.«

Lynley versicherte ihnen, dass er sie nicht lange aufhalten würde, und nahm dankend eine Tasse Tee an, um Zeit zu gewinnen, sich in dem überladenen Wohnzimmer genauer umzusehen. Die meisten Möbel stammten aus der Vorkriegszeit, den Wandschmuck bildeten Amateurfotografien, meist Aufnahmen im Freien sowie eine Sammlung Spazierstöcke, die kreisförmig angeordnet über dem Kamin aufgehängt waren wie die Waffensammlungen in alten schottischen Burgen. Überall standen Fotos des berühmten Sohns, Illustrierte und Zeitungen lagen stapelweise herum, ein Arsenal von Souvenirs, die alle an die Karriere des Sohns erinnerten, zierte Tische und Borde.

»Richard hat ein bisschen was von einem Hamster«, bemerkte Jill Foster zu Lynley und ließ sich vorsichtig in einen Sessel sinken, aus dem an zahlreichen durchgewetzten Stellen das Rosshaar spross. »Sie sollten die anderen Zimmer sehen.«

Lynley nahm eine Fotografie des Geigers, die ihn als Kind zeigte, zur Hand. Der Junge stand stramm wie ein kleiner Soldat, das Instrument in der Hand, und blickte zu Yehudi Menuhin auf, der seinerseits, ebenfalls mit der Geige in der Hand, wohlwollend lächelnd zu ihm hinabblickte. »Gideon Davies«, sagte Lynley.

»The one and only«, sagte Jill Foster.

Lynley warf ihr einen Blick zu. Sie lächelte, vielleicht um ihren Worten die Schärfe zu nehmen. »Richards ganze Freude und der Mittelpunkt seines Lebens«, fügte sie hinzu. »Es ist verständlich, aber manchmal ein wenig strapaziös.«

»Das kann ich mir vorstellen. Wie lange kennen Sie Mr. Davies schon?«

Sie stemmte sich stöhnend aus dem Sessel - »O nein, so geht das nicht« - und suchte sich einen Platz auf dem Sofa, wo sie die Beine hochlegte und ein Kissen unter ihre Füße schob. »Mein Gott«, sagte sie. »Noch zwei Wochen. Das wird eine Erlösung.« Sie schob sich ein zweites Kissen, so abgewetzt wie die Möbel, in den Rücken. »Wir kennen uns seit drei Jahren.«

»Und er freut sich auf das Kind?«

»Wo doch die meisten Männer seines Alters sich auf Enkelkinder freuen«, meinte Jill. »Aber ja, er freut sich. Trotz seines Alters.«

Lynley lächelte. »Meine Frau ist auch schwanger.«

Jills Gesicht öffnete sich. »Ach, wirklich? Ist es Ihr erstes Kind, Inspector?«

Lynley nickte. »Ich kann mir an Mr. Davies ein Beispiel nehmen. Er scheint sehr besorgt um Sie.«

Sie verdrehte mit einem gutmütigen Lächeln die Augen. »Er ist die reinste Glucke. Vorsicht auf der Treppe, Jill. Fahr lieber nicht mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. Setz dich nicht selbst ans Steuer, Jill. Geh nicht ohne Begleitung spazieren. Trink nichts, was Koffein enthält. Nimm immer dein Handy mit. Meide Menschenmengen, Zigarettenrauch - ach, die Liste ist endlos.«

»Er sorgt sich um Sie.«

»Ja, und es ist auch wirklich rührend, wenn ich ihn nicht gerade am liebsten in den nächsten Schrank einsperren würde.«

»Konnten Sie sich einmal mit seiner geschiedenen Frau unterhalten? Über die Schwangerschaft?«

»Mit Eugenie? Nein. Wir sind uns nie begegnet. Alte und neue Ehefrauen oder, in meinem Fall, Ehefrau in spe… Manchmal ist es klüger, sie auseinander zu halten, denke ich.«

Mit einem Plastiktablett, auf dem Tasse, Milchkännchen und Zuckerdose standen, kehrte Richard Davies ins Zimmer zurück.

»Du wolltest doch keinen Tee, Schatz, nicht wahr?«, sagte er zu Jill.

Sie verneinte, und nachdem Richard das Tablett auf einem Tischchen in der Nähe von Lynleys Sessel abgestellt hatte, setzte er sich neben sie und hob ihre Füße auf seinen Schoß.

»Wie können wir Ihnen helfen, Inspector?«, fragte er.

Lynley nahm ein Notizbuch aus seiner Jackentasche. Er fand die Frage interessant. Er fand Davies' Verhalten insgesamt interessant. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal mit so freundlicher Bewirtung für einen unerwarteten Überfall belohnt worden war. Die meisten Leute reagierten auf einen unangemeldeten Besuch der Polizei mit Argwohn, Unruhe und Angst, auch wenn sie es vielleicht zu verbergen suchten.

Als hätte er mit Lynleys Verwunderung gerechnet, fügte Davies hinzu: »Ich nehme an, Sie sind Eugenies wegen gekommen. Ich war Ihren Kollegen in Hampstead keine große Hilfe, als man mich bat, mir - äh - den Leichnam anzusehen. Ich hatte Eugenie seit Jahren nicht mehr gesehen, und die Verletzungen . « Er hob die Hände in einer Geste der Hoffnungslosigkeit.

»Ja«, bestätigte Lynley, »ich bin wegen Ihrer geschiedenen Frau hier.«

Woraufhin Davies seine künftige Frau ansah und sagte: »Möchtest du dich lieber ein bisschen hinlegen, Jill? Ich sag dir Bescheid, wenn der Immobilienmakler kommt.«

»Nein, nein, es geht mir gut«, antwortete sie ablehnend. »Es ist doch unser gemeinsames Leben, Richard.«

Er drückte ihr Bein und sagte dann zu Lynley: »Die Tote ist also wirklich Eugenie. Irgendwie hatte ich gehofft, es hätte vielleicht eine andere Person ihre Ausweispapiere bei sich getragen.«

»Nein, es war Mrs. Davies«, entgegnete Lynley. »Es tut mir Leid.«

Davies nickte. Er versuchte nicht, Trauer vorzutäuschen. »Wissen Sie«, sagte er, »ich habe sie vor beinahe zwanzig Jahren das letzte Mal gesehen. Ich finde es traurig, dass sie durch einen so schlimmen Unfall ums Leben kommen musste, aber der Moment meines Verlusts - unsere Scheidung - liegt lange zurück. Ich hatte jahrelang Zeit, mich von diesem Verlust zu erholen, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Lynley verstand. Endlose Trauer hätte auf eine abgöttische Liebe wie die der seligen Königin Viktoria zu ihrem Albert oder auf eine ungesunde Fixierung hingedeutet, was ungefähr auf das Gleiche hinauslief. Doch Davies' Vorstellung, seine Frau sei durch einen Unfall ums Leben gekommen, bedurfte der Korrektur.

»Es war leider kein Unfall, Mr. Davies«, sagte Lynley. »Ihre geschiedene Frau wurde ermordet.«

Jill Foster richtete sich auf. »Aber wurde sie nicht… ? Richard, du hast doch gesagt…«

Richard Davies sah Lynley unverwandt an. Seine Pupillen weiteten sich. »Mir sagte man, es sei ein Unfall mit Fahrerflucht gewesen.«

Lynley erklärte. Ohne gerichtsmedizinische Befunde könne man in so einem Fall meist nur sehr wenig sagen. Eine erste Untersuchung der Toten - und des Orts, wo sie aufgefunden worden war - habe zwangsläufig zu dem Schluss geführt, dass sie von einem Autofahrer überfahren worden war, der dann geflüchtet war. Eine genauere Untersuchung habe jedoch ergeben, dass das Opfer mehr als einmal überrollt worden und dann an den Straßenrand geschleift worden war. Was man an Reifenspuren auf der Kleidung und am Körper der Toten gesichert habe, weise eindeutig darauf hin, dass nur ein Fahrzeug im Spiel gewesen war. Somit stehe fest, dass der flüchtige Fahrer ein Mörder und der Tod Eugenie Davies' kein Unfall, sondern Mord war.

»Das ist ja furchtbar!« Jill bot Richard Davies ihre Hand, aber er nahm sie nicht. Er schien sich wie betäubt in eine finstere Innenwelt zu verkriechen, wo keiner ihn erreichen konnte.

»Aber man hat mir mit keinem Wort angedeutet…«, sagte er, den Blick starr ins Leere gerichtet. »O Gott, kann es denn noch schlimmer werden?« Dann sah er Lynley an. »Ich muss es meinem Sohn sagen. Sie werden doch gestatten, dass ich es ihm sage? Es geht ihm seit einigen Monaten nicht besonders gut. Er kann nicht spielen. Dieses Unglück könnte ihn . Bitte gestatten Sie mir, es ihm selbst zu sagen, damit er es nicht von anderer Seite erfahren muss. Aus den Zeitungen, womöglich! Man wird es doch nicht der Presse mitteilen, bevor Gideon informiert wurde?«

»Das ist Sache der Pressestelle«, erwiderte Lynley. »Aber im Allgemeinen hält man dort derartige Informationen zurück, bis die Familie unterrichtet ist. Dabei können Sie uns helfen. Gibt es außer Gideon Angehörige?«

»Eugenies Brüder, aber ich habe keine Ahnung, wo die sich aufhalten. Ihre Eltern haben vor zwanzig Jahren noch gelebt, aber sie können inzwischen längst gestorben sein. Frank und Lesley Staines. Frank war anglikanischer Geistlicher - da könnten Sie vielleicht bei der Kirche nachfragen.«

»Und die Brüder?«

»Einer jünger, einer älter als sie. Douglas und Ian. Auch von ihnen weiß ich nichts. Als ich Eugenie kennen lernte, hatte sie ihre Eltern und ihre Brüder schon jahrelang nicht mehr gesehen und sie hat sie auch in der Zeit unserer Ehe nicht einmal getroffen.«

»Wir werden versuchen, sie ausfindig zu machen.« Lynley griff zu seiner Tasse, in der schlaff und braun der durchweichte Teebeutel hing. Er nahm ihn heraus und gab ein paar Tropfen Milch in die Tasse, bevor er trank. Dann sagte er: »Und Sie, Mr. Davies? Wann haben Sie Ihre geschiedene Frau das letzte Mal gesehen?«

»Bei unserer Scheidung. Das ist vielleicht… hm, sechs Jahre?… her. Wir mussten die Scheidungspapiere unterschreiben, und da sind wir uns noch einmal begegnet.«

»Und danach nicht mehr?«

»Nein. Ich habe allerdings in jüngster Zeit verschiedentlich mit ihr telefoniert.«

Lynley stellte seine Tasse ab. »Wann war das?«

»Sie hat regelmäßig angerufen, um sich nach Gideons Befinden zu erkundigen. Sie hatte erfahren, dass es ihm nicht gut ging. Das muss so -« Er wandte sich Jill Foster zu. »Wann war dieses katastrophale Konzert, Schatz?«

Jill Foster sah ihn mit so unbewegtem Blick an, dass klar war, dass er genau wusste, wann das Konzert stattgefunden hatte. »War es nicht am dreißigsten Juli?«, sagte sie.

»Ja, das scheint mir richtig zu sein.« Und zu Lynley: »Eugenie hat wenig später angerufen. Ich weiß nicht mehr genau, wann es war. Vielleicht so um den fünfzehnten August. Danach hat sie Verbindung gehalten.«

»Und wann haben Sie das letzte Mal mit ihr gesprochen?«

»Irgendwann letzte Woche? Ich kann es nicht genau sagen. Ich habe es mir nicht aufgeschrieben. Sie rief hier an und hinterließ eine Nachricht. Ich habe sie dann zurückgerufen. Viel konnte ich ihr nicht sagen, das Gespräch war daher kurz. Gideon - und ich wäre sehr dankbar, wenn das unter uns bleiben würde, Inspector - leidet an akutem Lampenfieber. Wir haben bisher behauptet, es handle sich um Erschöpfung, aber das ist ein Euphemismus. Eugenie ließ sich davon nicht täuschen, und ich bezweifle, dass die Öffentlichkeit es noch lange akzeptieren wird.«

»Aber sie hat Ihren Sohn nicht besucht? Hat sie mit ihm Kontakt aufgenommen?«

»Wenn ja, dann hat Gideon mir nichts davon gesagt. Was mich sehr wundern würde. Mein Sohn und ich habe eine sehr enge Beziehung, Inspector.«

Jill Foster senkte den Blick. Lynley hielt es für möglich, dass die enge Beziehung, von der Davies gesprochen hatte, eine einseitige Angelegenheit war. Er sagte: »Ihre geschiedene Frau hatte offenbar die Absicht, einen Bekannten in Hampstead zu besuchen. Sie hatte seine Adresse bei sich. Er heißt J. W. Pitchley, aber Sie kennen ihn vielleicht unter seinem früheren Namen - James Pitchford.«

Davies, der bisher liebevoll die Füße seiner Lebensgefährtin gestreichelt hatte, erstarrte.

»Sie erinnern sich an ihn?«, fragte Lynley.

»Ja, ich erinnere mich an ihn. Aber -« Zu Jill Foster gewandt:

»Willst du dich nicht doch lieber hinlegen, Schatz?«

Ihre Miene war eindeutig: Keinesfalls würde die kleine Jill jetzt brav ins Schlafzimmer abziehen.

»Die Menschen aus jener besonderen Zeit werde ich bestimmt nie vergessen, Inspector«, sagte Davies. »Das würde Ihnen unter den Umständen genauso gehen. James wohnte mehrere Jahre bei uns zur Untermiete, bevor Sonia, unsere Tochter .« Er sprach nicht weiter, sondern drückte mit einer kurzen Geste aus, was er meinte.

»Wissen Sie, ob Ihre geschiedene Frau mit diesem Mann in Verbindung geblieben war? Er wurde bereits danach gefragt und verneinte. Aber hat Ihre geschiedene Frau ihn vielleicht in den Telefongesprächen mit Ihnen mal erwähnt?«

Davies schüttelte den Kopf. »Wir haben nie über etwas anderes als Gideon und seine Gesundheit gesprochen.«

»Dann hat sie also auch nie ihre Familie erwähnt oder von ihrem Leben in Henley gesprochen, von Freunden, die sie dort hatte, Verehrern vielleicht?«

»Nein, nichts dergleichen. Eugenie und ich haben uns nicht im Guten getrennt. Sie hat mich eines Tages von heute auf morgen verlassen, und fertig. Keine Erklärung, kein Streit, keine Entschuldigung. Gerade war sie noch da gewesen, und im nächsten Moment war sie weg. Vier Jahre später hörte ich von ihren Anwälten. Sie können sich vielleicht vorstellen, dass wir nicht gerade ein Herz und eine Seele waren. Ich war, ehrlich gesagt, nicht sonderlich erfreut, als ich plötzlich wieder von ihr hörte.«

»Ist es möglich, dass sie eine Beziehung zu einem anderen Mann hatte, als sie Sie damals verließ? Jemand, der vor kurzem erneut in ihr Leben getreten ist?«

»Pitches?«

»Ja. Wäre es möglich, dass sie eine Beziehung zu Pitchley unterhielt, als er noch James Pitchford hieß?«

Davies ließ sich das durch den Kopf gehen. »Er war um einiges jünger als Eugenie - fünfzehn Jahre vielleicht. Oder zehn. Aber Eugenie war eine attraktive Frau. Für ausgeschlossen würde ich es nicht halten, dass zwischen den beiden etwas war. Darf ich Ihnen noch etwas Tee nachschenken, Inspector?«

Davies rutschte unter Jill Fosters Beinen hervor und verschwand, nachdem Lynley ihm seine Tasse gereicht hatte, in der Küche. Während draußen das Wasser in den Kessel lief, fragte sich Lynley, warum der Mann diese Pause gerade in diesem Augenblick herbeigeführt hatte und wozu er sie brauchte. Gewiss, zum Schock waren jetzt Überraschung und Bestürzung gekommen, und Davies gehörte einer Generation an, bei der es als schamlos galt, Gefühle zu zeigen. Und Jill Foster achtete genau auf jede seiner Reaktionen, und er hatte vielleicht einen guten Grund, einen Moment des Alleinseins zu suchen, um sich in den Griff zu bekommen. Aber trotzdem…

Als Richard Davies zurückkehrte, brachte er ein Glas Orangensaft mit, das er Jill Foster mit den Worten aufdrängte: »Du kannst die Vitamine gebrauchen, Jill.«

Lynley nahm dankend seine Tasse entgegen und sagte: »Ihre geschiedene Frau hatte in Henley eine engere Beziehung zu einem Mann namens Wiley. Hat sie ihn vielleicht in einem Ihrer Telefongespräche erwähnt?«

»Nein«, antwortete Davies, »im Ernst, Inspector, wir haben uns auf Gideon beschränkt.«

»Major Wiley erzählte uns, Ihre Frau und Ihr Sohn seien einander völlig fremd geworden.«

»Ach ja?« erwiderte Davies. »Hat er Ihnen auch gesagt, wie das kam? Wie ein Blitzschlag aus heiterem Himmel. Seine Mutter verschwand eines Tages und ward nie wieder gesehen. Sie hat ihren Sohn verlassen.«

»Vielleicht war das ihre Sünde«, murmelte Lynley.

»Wie bitte?«

»Sie sagte zu Major Wiley, sie müsse ihm etwas beichten - vielleicht, dass sie ihren Sohn und ihren Mann verlassen hatte. Es kam übrigens nie zu dieser Beichte. Behauptet jedenfalls Major Wiley.«

»Glauben Sie denn, dass Wiley…?«

»Im Moment sammeln wir lediglich Informationen, Mr. Davies. Können Sie dem, was Sie mir berichtet haben, noch irgendetwas hinzufügen? Hat Ihre geschiedene Frau vielleicht en passant eine Bemerkung gemacht, die Ihnen zunächst bedeutungslos erschien, im Licht der vorliegenden Tatsachen jedoch -«

»Cresswell-White!«, sagte Davies, zunächst eher unsicher, dann aber ein zweites Mal mit zunehmender Überzeugung. »Ja, Cresswell-White. Ich hatte einen Brief von ihm bekommen, und Eugenie ganz sicher auch.«

»Und wer ist Cresswell-White?«

»O ja, er hat ihr ganz sicher geschrieben. Wenn Mörder aus der Strafanstalt entlassen werden, unterrichtet man die betroffenen Familien automatisch. So stand es jedenfalls in meinem Schreiben.«

»Mörder?«, wiederholte Lynley. »Haben Sie etwas von der Mörderin Ihrer Tochter gehört, Mr. Davies?«

Statt einer Antwort, stand Richard Davies auf und ging durch einen kurzen Flur in ein anderes Zimmer. Schubladen wurden geöffnet und wieder zugeschoben. Dann kam Davies mit einem Brief zurück, den er Lynley reichte. Der Absender war ein Mitglied der Kronanwaltschaft, ein gewisser Bertram Cresswell-White, der Mr. Richard Davies mitteilte, dass Miss Katja Wolff zum unten angegebenen Datum auf Bewährung aus dem Gefängnis Holloway entlassen werde. Sollte Miss Katja Wolff Mr. Davies in irgendeiner Weise belästigen oder bedrohen oder auch nur versuchen, zu ihm Kontakt aufzunehmen, so solle Mr. Davies unverzüglich Mr. Cresswell-White davon in Kenntnis setzen.

Lynley überflog das Schreiben und vermerkte das Datum: zwölf Wochen vor dem Tag, an dem Eugenie Davies umgekommen war.

»Hat sie versucht, mit Ihnen Verbindung aufzunehmen?«, fragte er Davies.

»Nein. Glauben Sie mir, wenn Sie das getan hätte, ich hätte -«, begann er und ließ es dann sein, sich aufzuplustern wie der junge Mann, der er nicht mehr war. »Könnte Katja Wolff Eugenie aufgespürt haben?«

»Hat Ihre geschiedene Frau nichts von ihr gesagt?«

»Nein.«

»Hätte sie es getan, wenn sie diese Katja Wolff gesprochen hätte?«

Davies schüttelte den Kopf, aber nicht als Verneinung, sondern eher als Zeichen der Unsicherheit. »Ich habe keine Ahnung. Früher natürlich, da hätte sie mir so etwas erzählt. Aber nach dieser langen Zeit… ich weiß es nicht, Inspector.«

»Darf ich den Brief behalten?«

»Bitte sehr. Haben Sie die Absicht, mit der Frau zu sprechen?«

»Ich werde sie auf jeden Fall ausfindig machen lassen.« Lynley stellte die wenigen Fragen, die er noch hatte, erfuhr aber nur, wer Cecilia war, die den Brief an Eugenie Davies geschrieben hatte: Schwester Cecilia Mahoney, Eugenie Davies' Freundin im Kloster der Unbefleckten Empfängnis. Das Kloster war am Kensington Square, wo

die Familie Davies früher einmal gelebt hatte.

»Eugenie war zum katholischen Glauben übergetreten«, erklärte Richard Davies. »Sie hasste ihren Vater - er pflegte zu toben wie ein Verrückter, wenn er nicht gerade auf der Kanzel den Heiligen spielte - und wollte sich damit für ihre schreckliche Kindheit an ihm rächen. Zumindest hat sie es mir so erzählt.«

»Und Ihre gemeinsamen Kinder wurden auch katholisch getauft?«, fragte Lynley.

»Nur wenn sie und Schwester Cecilia es heimlich getan haben. Meinen Vater hätte sonst der Schlag getroffen.« Davies lächelte herzlich. »Er war auf seine Weise auch ein ziemlich tyrannisches Familienoberhaupt.«

Und du schlägst ihm nach, dachte Lynley, auch wenn du jetzt die Fürsorglichkeit in Person zu sein scheinst. Aber um darüber etwas zu erfahren, würde er mit Gideon Davies sprechen müssen.