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Wenn ich das Glück gehabt hätte, Rock Peters irgendwo in Mexiko zu begegnen und dort zu heiraten, dachte Liberty- Libby-Neale, dann wäre ich jetzt nicht in dieser beschissenen Situation. Ich hätte mich von dem Fiesling scheiden lassen können, und das war's dann gewesen. Aber sie war ihm leider nicht in Mexiko begegnet. Sie war gar nicht in Mexiko gewesen. Sie war nach England gekommen, weil sie in der High School eine solche Niete in Fremdsprachen gewesen war, dass England so ziemlich das einzige Ausland war, wo die Leute eine Sprache sprachen, die sie verstand. Kanada zählte kaum.
Frankreich wäre ihr lieber gewesen - sie hatte eine Schwäche für Croissants, obwohl man darüber besser kein Wort verlor -, aber gleich in den ersten Tagen hatte London ihr ein wesentlich breiteres Spektrum an kulinarischen Abenteuern geboten, als sie erwartet hatte, und daraufhin hatte es ihr hier recht gut gefallen, außer Reichweite der Eltern und - das war das Entscheidende! - tausende von Meilen entfernt von ihrer älteren Schwester, diesem Ausbund an Vollkommenheit. Equality Neale war groß, schlank, intelligent und eloquent. Alles, was sie sich vornahm, schaffte sie mit Leichtigkeit und war obendrein noch an der Los Altos High School zur beliebtesten Schulabgängerin des Jahres gewählt worden. Da konnte man doch nur noch kotzen! Nichts wie weg, hatte sie sich darum gesagt, und war schleunigst nach London abgehauen.
Aber in London hatte sie Rock Peters kennen gelernt. In London hatte sie diesen Widerling geheiratet. Und in London - wo sie sich bis jetzt trotz ihrer Heirat weder Arbeitserlaubnis noch unbefristete Aufenthaltserlaubnis hatte sichern können - war sie Rock ausgeliefert, während sie in Mexiko ganz leicht mit einem kurzen »Du kannst mich mal, Jack« hätte abhauen können. Das Geld dafür hätte sie zwar auch dort nicht gehabt, aber das wäre kein Hindernis gewesen. Der Daumen sprach eine Sprache, die jeder verstand, und sie hätte keine Angst davor gehabt, sich an die Straße zu stellen. Aber in England ging das natürlich nicht; man konnte nicht gut über den Atlantik trampen.
Rock hatte sie in der Hand. Sie wollte in England bleiben. Keinesfalls wollte sie das Handtuch werfen und Mama und Papa, die mit jedem Brief Loblieder auf Alis Tüchtigkeit sangen, bitten, sie nach Hause zu holen. Aber um in England bleiben zu können, brauchte sie Geld. Und um zu Geld zu kommen, brauchte sie Rock. Natürlich hätte sie sich eine andere Schwarzarbeit suchen können, aber da wäre die Gefahr, erwischt zu werden, groß gewesen, und damit auch die Gefahr, abgeschoben zu werden, heim nach Los Altos Hills, zu Mama und Papa und den ewig gleichen guten Ratschlägen: »Arbeite doch eine Weile bei Ali, Lib. In der Publicrelationsbranche könntest du…« Bla-bla-bla. Nie im Leben, schwor sich Libby, würde sie sich freiwillig in die Nähe ihrer Schwester begeben.
Aber damit hatte Rock natürlich Macht über sie. Wenn er pfiff, musste sie springen. Nur deshalb ging sie seit einiger Zeit wieder zwei-, dreimal die Woche mit dem Arschloch ins Bett, wenn er es verlangte. Ihre Versuche, ihn abzuwimmeln, indem sie eine eilige Lieferung vorschob und fragte, ob ihm zuverlässige Arbeit gar nicht wichtig sei, halfen nichts. Wenn Rock bumsen wollte, dann wollte er bumsen, und basta.
So war es auch an diesem Tag gelaufen, und zwar in der Bruchbude über dem Lebensmittelgeschäft in Bermondsey, wo es ihr, wenn sie sich auf den Verkehrslärm der Straße konzentrierte, meist gelang, Rocks schweinemäßiges Grunzen an ihrem Ohr auszublenden. Wie immer war sie hinterher so stinksauer gewesen, dass sie ihm am liebsten den Schwanz kupiert hätte. Aber da das leider Wunschtraum bleiben musste, war sie einfach abgehauen und zu ihrem Stepptanzkurs gegangen.
Dort tanzte sie mit solcher Wut und Verbissenheit, dass ihr der Schweiß bald in Strömen am Körper herablief. »Libby, was tun Sie denn da drüben?«, rief die Lehrerin immer wieder zu den Klängen von On the Sunny Side of the Street, aber Libby schenkte ihr keine Beachtung. Es war ihr völlig egal, ob sie im Takt tanzte oder nicht, in der Reihe oder nicht, die richtigen Schritte machte oder nicht. Hauptsache, das, was sie tat, geschah in so hohem Tempo und erforderte so viel Energie, dass ihr vor Anstrengung alle Gedanken an Rock Peters vergingen. Sonst würde sie sich nämlich auf den nächsten Kühlschrank stürzen und ungefähr sechs Milliarden Kalorien in sich reinstopfen vor lauter Frust über Rock.
»Du musst das so sehen, Lib«, pflegte er zu sagen, wenn es vorbei war und sie, wieder einmal geschlagen, unter ihm lag. »Eine Hand wäscht die andere.« Und dann setzte er dieses blöde Grinsen auf, das sie anfangs so cool gefunden hatte, das aber in Wirklichkeit, wie sie mittlerweile gelernt hatte, nichts weiter als ein Ausdruck der Verachtung war. »Dein Fiedler bringt's offensichtlich nicht. Ich bin ja nicht blöd, ich merk doch, wenn 'ne Frau richtig gebumst worden ist, und du schaust aus wie eine, die seit mindestens einem Jahr keinen guten Fick mehr gehabt hat.«
»Stimmt genau, du Blödmann«, gab sie dann wütend zurück.
»Vielleicht denkst du darüber mal nach. Und er ist kein Fiedler. Er spielt Geige.«
»Oh-oh, bitte tausendmal um Entschuldigung«, sagte er, und es interessierte ihn überhaupt nicht, dass sie ihm soeben jegliche Fähigkeit im Bett abgesprochen hatte. Ihm war im Bett nur eines wichtig - zum Schuss zu kommen. Was bei seiner Partnerin ablief, blieb deren Eigeninitiative oder dem Zufall überlassen.
Wieder optimistischer gestimmt, verließ Libby in der Ledermontur, die sie auf ihren Kurierfahrten zu tragen pflegte, das Tanzstudio. Den Rucksack mit den Leggings und den Steppschuhen über der Schulter und den Helm unter dem Arm, ging sie zu ihrer Suzuki. Statt die elektrische Zündung zu benutzen, ließ sie die Maschine mit dem Kickstarter an und stellte sich dabei vor, unter ihrem Fuß wäre Rocks grinsende Visage.
Die Straßen waren verstopft wie immer, aber sie kannte sich inzwischen gut genug aus, um zu wissen, welche Seitenstraßen sie nehmen musste, und sie war frech genug, um sich zwischen Pkws und Lieferwagen nach vorn durchzuschlängeln, wenn der Verkehr ganz zum Erliegen kam. Meistens hatte sie ihren Walkman dabei, den Rekorder in einer Innentasche ihrer Lederjacke, die Ohrstöpsel unter dem Helm, und fast immer hörte sie Teenyrockmusik. Sie liebte sie laut und sang voll Begeisterung mit, weil die Kombination aus Musik, die auf ihr Trommelfell donnerte, und ihrem eigenen grölenden Gesang so ziemlich alles aus ihrem Kopf fegte, worüber sie nicht nachdenken wollte.
Aber heute schaltete sie den Walkman nicht ein. Heute wollte sie nachdenken.
Rock hatte richtig vermutet: Sie hatte Gideon Davies immer noch nicht ins Bett gekriegt - jedenfalls nicht richtig -, und sie verstand nicht, weshalb das so war. Er schien gern mit ihr zusammen zu sein, und er war bis auf das, was im Bett nicht passierte, völlig normal. Trotzdem waren sie in der ganzen Zeit, seit sie in der Wohnung unter ihm wohnte und mit ihm befreundet war, nicht über den Punkt hinausgekommen, den sie an jenem ersten Abend, als sie beim Musikhören beide auf ihrem Bett eingeschlafen waren, erreicht hatten.
Zuerst hatte sie geglaubt, der Typ wäre vielleicht schwul, und ihre Antennen wären nach so langer Zeit mit Rock total unbrauchbar. Aber er verhielt sich nicht wie ein Schwuler, er hing nicht in der Londoner Schwulenszene herum, er bekam nie Besuch von jüngeren oder älteren oder offensichtlich perversen Typen. Die Einzigen, die ihn besuchten, waren sein Vater - der sie hasste wie die Pest und wie den letzten Dreck behandelte - und Rafe Robson, diese Klette.
All diese Beobachtungen hatten Libby zu dem Schluss geführt, dass Gideon nichts fehlte, was nicht durch eine gesunde Beziehung gerichtet werden konnte - vorausgesetzt, sie schaffte es, ihn seinen Betreuern eine Weile zu entführen.
Sie ließ das South Bank, wo ihr Stepptanzkurs stattfand, hinter sich und kämpfte sich durch das Verkehrsgetümmel in der City bis zur Pentonville Road hinauf. Dort beschloss sie, den Schleichweg durch die kleinen Seitenstraßen von Camden Town zu nehmen, anstatt sich dem Gedränge in den Straßen rund um den King's-Cross-Bahnhof auszusetzen. Das war zwar nicht der direkte Weg zum Chalcot Square, aber Libby störte das nicht. Im Gegenteil, sie hatte überhaupt nichts dagegen, über zusätzliche Zeit zu verfügen, um eine Strategie entwickeln zu können, die hoffentlich bei Gideon zu einem Durchbruch führen würde. Sie war überzeugt, dass Gideon Davies mehr war als ein Mann, der, seit er aus den Windeln heraus war, Geige spielte. Natürlich war es super, dass er als Musiker eine echte Berühmtheit war, aber er war doch auch ein Mensch. Und dieser Mensch war mehr als die Musik, die er machte. Dieser Mensch existierte, ob er Geige spielte oder nicht.
Als Libby endlich am Chalcot Square ankam, sah sie als Erstes, dass Gideon nicht allein war. Raphael Robsons uralter Renault stand drüben auf der Südseite des Platzes, ein Rad auf dem Gehweg, als wäre er in großer Eile abgestellt worden. Gideons Musikzimmer war erleuchtet, und durch das Fenster konnte Libby die unverkennbare Silhouette Robsons erkennen. Er rannte - wie immer mit dem Taschentuch in der Hand, um sich das schweißtriefende Gesicht zu wischen -, ununterbrochen hin und her und redete dabei wie ein Wasserfall. Oder predigte wahrscheinlich. Libby konnte sich denken, worüber.
»Scheiße«, murmelte sie und fuhr mit Vollgas zum Haus. Um Dampf abzulassen, ließ sie die Maschine ein paar Mal aufheulen, ehe sie sie abschaltete. Robson zeigte sich normalerweise nicht um diese Tageszeit am Chalcot Square; dass er ausgerechnet jetzt hier war - und zweifellos Gideon einen Vortrag darüber hielt, was er zu tun habe, nämlich das, was der gute Rafe wollte -, konnte einen echt abtörnen, noch dazu, wenn man vorher gerade Rock, das Ekel, genossen hatte.
Ungestüm stieß sie das schmiedeeiserne Tor auf, ohne zu verhindern, dass es krachend gegen die unterste Stufe der Vortreppe schlug. Sie stürmte nach unten in ihre Wohnung, wo sie schnurgerade auf den Kühlschrank zuhielt.
Sie hatte sich bisher tapfer an die Kein-Weiß-Diät gehalten, aber jetzt lechzte sie trotz Stepptanz nach irgendeinem bleichen Dickmacher-Vanilleeis, Popcorn, Reis, Käse. Sie befürchtete auszuflippen, wenn sie nicht sofort irgendwas bekäme.
Doch in weiser Voraussicht hatte sie ihren Kühlschrank schon vor Monaten für einen ebensolchen Moment ausgerüstet. Ehe sie seine Tür öffnen konnte, musste sie, ob sie wollte oder nicht, einem Foto von sich selbst ins Auge blicken, das sie im Alter von sechzehn Jahren zeigte - einen Fettmops im einteiligen Badeanzug - und daneben ihre gertenschlanke Schwester im Bikini und natürlich knackebraun. Libby hatte Alis Gesicht mit einem Aufkleber - eine Spinne mit Cowboyhut - verdeckt. Aber jetzt schälte sie den Aufkleber ab und musterte ihre Schwester lange und ausgiebig. Dann las sie als zusätzlichen Anreiz den Spruch, den sie sich selbst auf die Kühlschranktür geschrieben hatte: Pack's dir doch gleich auf die Hüften!
Mit einem tiefen Seufzer trat sie zurück, und da hörte sie plötzlich von oben die Geige. Einen Moment hielt sie inne. »O Mann! Er spielt!«, rief sie voll freudiger Erregung. Vielleicht war Gideon seine Probleme jetzt endlich los!
Mann, war das cool! Er würde bestimmt ausflippen vor Freude. Das musste Gideon sein, der da oben spielte. So gemein konnte Robson nicht sein, Gid damit zu quälen, dass er vor ihm Geige spielte.
Aber während sie noch über Gideon Davies' Rückkehr zur Musik frohlockte, setzte oben wuchtig das Orchester ein. Eine CD, dachte sie niedergeschlagen. Das war Rafes Methode, Gideon aufzumuntern: Hörst du, wie du mal gespielt hast, Gideon? Du hast es damals gekonnt. Du kannst es auch jetzt.
Warum, zum Teufel, ließen sie ihn nicht einfach in Ruhe?, fragte sich Libby. Bildeten sie sich ein, er würde wieder zu spielen anfangen, wenn sie ihn nur richtig nervten? Ihr jedenfalls gingen sie mittlerweile ganz gewaltig auf die Nerven. »Verdammt noch mal«, knurrte sie zur Zimmerdecke hinauf, »er besteht doch nicht nur aus Musik.«
Sie ging aus der Küche zu ihrem eigenen kleinen CD- Player und wählte eine Platte, die Raphael Robson garantiert die Wände hochjagen würde. Teenyrock in Potenz, volle Dröhnung. Sie öffnete auch noch die Fenster, und prompt wurde von oben geklopft. Sie drehte die Musik auf höchste Lautstärke. Zeit für ein gemütliches Bad. Es gab nichts Besseres als donnernden Teenyrock, wenn man Lust hatte, sich im warmen Schaumbad zu aalen und lauthals zu singen.
Dreißig Minuten später schaltete sie, frisch gebadet und gekleidet, den CD-Player aus und lauschte nach oben. Stille. Sie hatte erreicht, was sie wollte.
Sie ging aus der Wohnung und ein paar Stufen die Treppe hinauf, um zur Straße zu sehen und feststellen zu können, ob Rafes Wagen noch da war. Der Renault war weg. Vielleicht war Gideon jetzt für den Besuch einer Freundin empfänglich, der Gideon, der Mensch, wichtiger war als Gideon, der Musiker. Sie stieg die Vortreppe hinauf zu seiner Wohnung und klopfte kräftig an die Tür.
Als sich nichts rührte, blickte sie noch einmal zum Platz hinaus und suchte Gideons Mitsubishi. Er stand nicht weit entfernt am Bordstein geparkt. Stirnrunzelnd klopfte sie ein zweites Mal und rief: »Gideon? Bist du da? Ich bin's, Libby.«
Das brachte ihn endlich auf die Beine. Der Innenriegel wurde zurückgeschoben, die Tür ging auf.
»Entschuldige«, sagte Libby, »wegen der Musik, meine ich. Ich hab irgendwie nicht aufgepasst -« Sie brach ab. Er sah schlecht aus; schlechter noch als in den letzten Wochen. Richtig elend. Libby war sofort überzeugt davon, dass Robson ihn fertig gemacht hatte, indem er ihn gezwungen hatte, sich seine eigenen Plattenaufnahmen anzuhören.
»Und wo ist der gute alte Rafe?«, erkundigte sie sich. »Schon bei Daddy, um Bericht zu erstatten?«
Gideon trat nur wortlos von der Tür zurück und ließ sie herein. Er ging nach oben, und sie folgte ihm ins Schlafzimmer, wo er sich offensichtlich aufgehalten hatte, als sie geklopft hatte. Die Abdrücke seines Kopfs und seines Körpers auf dem Bett waren noch frisch.
Auf dem Nachttisch brannte gedämpftes Licht. Die Schatten, die sein trüber Schein nicht aufzulösen vermochte, legten sich auf Gideons Gesicht und ließen es schwarz und ausgehöhlt erscheinen. Seit dem Debakel in der Wigmore Hall schien er umhüllt von einer Aura von Angst und Mutlosigkeit, aber jetzt hatte sich noch etwas anderes dazu gesellt. Libby sah es, nur, was war es? Qual, dachte sie und sagte: »Was ist passiert, Gideon?«
Er antwortete schlicht: »Meine Mutter ist ermordet worden.«
Sie riss die Augen auf. »Deine Mutter? Im Ernst? Das kann doch nicht sein! Wann denn? Wie ist es passiert? Das ist ja furchtbar. Setz dich doch hin.« Sie drängte ihn zu seinem Bett, und er setzte sich gehorsam, die Arme auf die Knie gestützt. »Was ist passiert?«, fragte sie ein zweites Mal.
Gideon berichtete das wenige, das es zu berichten gab, und schloss mit den Worten: »Mein Vater musste den Leichnam identifizieren. Später war jemand von der Polizei bei ihm. Ein Kriminalbeamter, sagte er. Er hat vorhin angerufen.« Gideon umschlang seinen Oberkörper mit beiden Armen und schaukelte vor und zurück wie ein Kind. »Das war's dann«, sagte er.
»Wie meinst du das?«, fragte Libby.
»Jetzt gibt es keine Hoffnung mehr.«
»Sag so was nicht, Gideon.«
»Ebenso gut könnte ich auch tot sein.«
»Mensch, Gideon! Hör auf!«
»Aber es ist wahr.« Er fröstelte und sah sich wie suchend im Zimmer um, während er fortfuhr zu schaukeln.
Libby versuchte zu erfassen, was der Tod seiner Mutter bedeutete: für seine Vergangenheit, seine Gegenwart und seine Zukunft. »Gideon«, sagte sie, »du schaffst es schon. Du wirst über das alles hinwegkommen«, und sie bemühte sich so zu sprechen, als wäre sie überzeugt von ihren Worten, als wäre es für sie ebenso wichtig wie für ihn, ob er Geige spielte oder nicht.
Sie bemerkte, dass aus seinem Frösteln ein heftiger Schüttelfrost geworden war. Am Fußende seines Betts lag eine Wolldecke, die sie nahm und ihm um die mageren Schultern legte.
»Möchtest du darüber reden?«, fragte sie. »Über deine Mutter? Über - naja, ich weiß nicht - über das, was dich bewegt.« Sie setzte sich neben ihn und nahm ihn in den Arm. Mit der anderen Hand hielt sie die Decke an seinem Hals zusammen, bis er den Arm hob und die Zipfel selbst ergriff.
»Sie war auf dem Weg zu James, dem Untermieter«, sagte er.
»Zu wem?«
»James Pitchford. Er wohnte bei uns, als meine Schwester - als sie starb. Es ist merkwürdig, ich habe in letzter Zeit öfter an ihn denken müssen, obwohl ich vorher jahrelang nicht einen Gedanken an ihn verschwendet hatte.«
Er verzog das Gesicht, und sie bemerkte, dass er eine Hand auf seinen Magen drückte, als hätte er Schmerzen.
»Jemand hat sie in der Straße, in der James Pitchford wohnt, überfahren«, sagte er. »Nicht einmal, sondern mehrmals, Libby. Mein Vater meint, weil sie auf dem Weg zu James war, wird die Polizei jetzt alle sprechen wollen, die damals irgendwie betroffen waren.«
»Wieso?«
»Ich vermute, die Fragen, die sie ihm stellten, haben ihn darauf gebracht.«
»Ich meinte, wieso er glaubt, dass die Bullen jetzt alle sprechen wollen. Ich meine, warum sollen sie das wollen? Gibt es denn einen Zusammenhang zwischen damals, was vor zwanzig Jahren passiert ist, und jetzt? Klar, irgendeine Verbindung muss es geben, wenn deine Mutter diesen James Pitchford besuchen wollte. Aber wenn jemand von damals sie getötet hat, warum hat er dann bis heute gewartet?«
Gideon krümmte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht. »O Gott, mein Magen brennt wie glühende Kohlen.«
»Dann leg dich hin.« Libby drückte ihn aufs Bett hinunter. Auf die Seite gedreht, rollte er sich zusammen und zog die Knie bis zur Brust hoch. Libby zog ihm die Schuhe aus. Er hatte keine Socken an, und seine Füße waren milchweiß. Er rieb sie krampfhaft aneinander, als könnte ihn das vom Schmerz ablenken.
Libby legte sich neben ihn unter die Decke und umhüllte seinen Körper mit dem ihren. Sie schob ihre Hand unter seinem Arm hindurch und legte sie flach auf seinen Magen. Sie spürte den Druck seiner Wirbelsäule, die sich in die Krümmung ihres Körpers schmiegte, spürte jeden einzelnen Wirbel wie eine Murmel. Er war so stark abgemagert, dass sie das Gefühl hatte, seine Knochen müssten jeden Moment die papierdünne Haut durchbohren.
»Du kannst wahrscheinlich an gar nichts anderes denken, hm?«, sagte sie. »Aber vergiss es einfach. Nicht für immer, aber für eine Weile. Bleib hier mit mir liegen und vergiss es.«
»Das darf ich nicht«, entgegnete er mit einem bitteren Lachen.
»Ich habe die Aufgabe, mich an alles zu erinnern.« Seine Füße rieben sich aneinander. Er krümmte sich noch mehr zusammen, und Libby drückte ihn fester an sich. Schließlich sagte er: »Sie ist auf freiem Fuß, Libby. Mein Vater wusste es, aber er hat es mir nicht gesagt. Darum ist die Polizei an der alten Geschichte interessiert. Sie ist aus dem Gefängnis entlassen worden.«
»Wer? Du meinst -?«
»Katja Wolff.«
»Glauben sie denn, sie könnte deine Mutter überfahren haben?«
»Keine Ahnung.«
»Weshalb sollte sie? Weit einleuchtender wäre doch, dass deine Mutter den Wunsch hatte, sie totzufahren.«
»Normalerweise, ja«, sagte Gideon, »aber in meinem Leben ist nichts normal, folglich gibt es keinen Grund, weshalb der Tod meiner Mutter normal sein sollte.«
»Deine Mutter hat damals sicher gegen sie ausgesagt«, meinte Libby. »Vielleicht hat sie die ganze Zeit im Knast nur darüber nachgedacht, wie sie es allen heimzahlt, die sie da reingerissen haben. Aber wenn das stimmt, wie hat sie deine Mutter überhaupt gefunden, Gideon? Ich meine, nicht mal du hast gewusst, wo sie ist. Wie soll da diese Wolff sie ausfindig gemacht haben? Und selbst wenn sie das geschafft und sie umgebracht hat, warum dann ausgerechnet in der Straße, wo dieser Typ wohnt?« Libby dachte über ihre Fragen nach und gab die Antwort selbst. »Um Pitchford zu warnen?«
»Oder jemand anderen.«
Barbara Havers hörte am Telefon, was Lynley von Richard Davies erfahren hatte, auch den Namen, den sie brauchte, um ins Kloster der Unbefleckten Empfängnis reingelassen zu werden. Dort, sagte er, solle sie versuchen, jemanden ausfindig zu machen, der ihr etwas über den Verbleib einer Schwester Cecilia Mahoney sagen könne.
Das Kloster stand auf einem Grundstück, das wahrscheinlich ein königliches Vermögen wert war, umgeben von Gebäuden aus der letzten Dekade des 17. Jahrhunderts, die alle unter Denkmalschutz standen. Hier hatten zu der Zeit, als William und Mary ihr bescheidenes kleines Nest in den Kensington Gardens gebaut hatten, die Händler und Unternehmer ihre Landhäuser errichtet. Jetzt war der Platz im Besitz einiger Firmen, die sich in den historischen Gebäuden breit gemacht hatten, und der Insassen eines zweiten Klosters - woher, zum Teufel, hatten die Nonnen die Kohle, um sich hier häuslich niederzulassen, fragte sich Barbara - und der Bewohner einer Anzahl von Häusern, die vermutlich seit mehr als dreihundert Jahren im Besitz der dort ansässigen Familien waren. Im Gegensatz zu einigen anderen alten Plätzen in der Stadt, die durch Bomben oder die Geldgier aufeinander folgender konservativer Regierungen mit nichts als Bigbusiness, Riesengewinnen und Privatisierungsplänen verwüstet worden waren, zeigte sich der Kensington Square größtenteils unverändert: ein Geviert aus schönen alten Gebäuden mit Blick auf einen kleinen Park in der Mitte, wo unter jedem Baum rostbraunes Herbstlaub auf grünem Rasen leuchtete.
Ein Parkplatz war nicht zu finden. Barbara stellte ihren Mini auf dem Bürgersteig auf der Nordseite des Platzes ab, wo ein strategisch platzierter Poller verhinderte, dass die Autofahrer die Route über den Platz als Schleichweg benutzten und die Ruhe des Viertels störten. Zur Sicherheit legte sie ihren Polizeiausweis auf das Armaturenbrett des Wagens, bevor sie ausstieg.
Wenig später hatte sie Schwester Cecilia Mahoney gefunden, die immer noch im Kloster der Unbefleckten Empfängnis lebte und, als Barbara vorsprach, gerade in der Kapelle arbeitete. Wie eine Nonne, fand Barbara, sah sie nicht aus. Dem Klischee zufolge waren Nonnen alte Frauen, die man an ihrer schweren schwarzen Tracht, klirrenden Rosenkränzen und mittelalterlichen Flügelhauben erkannte.
Cecilia Mahoney entsprach nicht dem Klischee. Ja, als Barbara die Frau im Schottenrock mit der Marmorpolitur in der Hand auf der kleinen Trittleiter erblickte, hielt sie sie zuerst für eine Putzfrau, zumal sie gerade damit beschäftigt war, einen Altar zu reinigen, dessen Hauptattraktion eine Jesusfigur mit goldenem, anatomisch nicht ganz korrekt sitzendem Herzen war. Ob sie einen Moment stören dürfe, fragte Barbara, sie suche Schwester Cecilia Mahoney; woraufhin die Frau sich lächelnd umdrehte und sagte:
»Dann suchen Sie mich«, und das in so ausgeprägtem irischem Dialekt, als wäre sie eben erst aus Killarney angekommen.
Barbara stellte sich vor, und Schwester Cecilia kletterte vorsichtig von der kleinen Leiter herab.
»So, so, Sie sind also von der Polizei. Das sieht man Ihnen gar nicht an. Gibt es denn irgendwelche Schwierigkeiten, Constable?«
Die Beleuchtung in der Kapelle war düster, aber von der Leiter herabgestiegen, stellte sich Schwester Cecilia in den Schein einer Votivkerze, die auf dem Altar brannte. Das milde Licht glättete die Falten in dem Gesicht der vielleicht Fünfzigjährigen und setzte Glanzlichter auf das rabenschwarze Haar, das zwar kurz geschnitten, aber trotzdem nicht einmal von einigen Spangen zu bändigen war. Ihre veilchenblauen Augen mit den dunklen Wimpern waren freundlich auf Barbara gerichtet.
»Können wir uns irgendwo ungestört unterhalten?«, fragte Barbara.
»So traurig es ist - hier werden wir ganz sicher nicht gestört werden, Constable«, antwortete Schwester Cecilia. »Früher war das anders. Aber heutzutage… sogar die Schülerinnen, die bei uns im Wohnheim leben, kommen nur in die Kapelle, wenn sie vor einer Prüfung stehen und Gottes Hilfe erhoffen. Kommen Sie, gehen wir hier hinauf, dann können Sie mir sagen, was Sie von mir wissen wollen.« Wieder lächelte sie, mit ebenmäßigen weißen Zähnen, und fügte dann wie zur Erklärung ihres Lächelns hinzu:
»Oder wollen Sie zu uns ins Kloster kommen, Constable?«
»Was die Kleidung betrifft, war's wahrscheinlich eine Verbesserung«, meinte Barbara.
Schwester Cecilia lachte. »Kommen Sie, beim Hauptaltar ist es etwas wärmer. Da habe ich immer einen Heizlüfter stehen für unseren Monsignore, wenn er morgens die Messe liest. Er leidet ziemlich heftig unter Arthritis, der arme Mann.«
Sie nahm ihre Putzutensilien und führte Barbara unter einer tiefblauen Decke durch den Mittelgang nach vorn. Es war, wie Barbara sah, eine Kapelle der Frauen: Alle Kunstwerke außer der Jesusstatue und einem Glasfenster, das den heiligen Michael zeigte, stellten Frauen dar: die heilige Theresa von Lisieux, die heilige Klara, die heilige Katharina und die heilige Margarete. Und auch die Schmucksäulen, die die Fenster flankierten, waren von steinernen Frauenfiguren gekrönt.
»So, da sind wir schon.« Schwester Cecilia trat neben den Altar und schaltete einen großen Radiator ein. Während er warm wurde, sagte sie, dass sie ihre Arbeit gern hier fortsetzen würde, wenn Constable Havers nichts dagegen habe. Auch der Hauptaltar müsse in Ordnung gehalten werden; die Kerzenleuchter und der Marmor poliert, das Retabel abgestaubt, die Altardecke ausgetauscht werden. »Aber Sie sollten sich an das Öfchen setzen, Kind, die Kälte dringt hier durch alle Ritzen.«
Als die Nonne wieder zum Poliertuch griff, sagte Barbara, dass sie mit einer Nachricht gekommen sei, die Schwester Cecilia wahrscheinlich traurig machen werde. Man habe ihren Namen in mehreren Lebensbeschreibungen katholischer Heiliger gefunden .
»Nun, das ist doch angesichts meiner Berufung hoffentlich keine Überraschung«, meinte Schwester Cecilia, während sie die Kerzenleuchter aus Messing vom Altartisch nahm und vorsichtig neben Barbara auf den Boden stellte. Sie faltete die Altartücher, hängte sie über die reich verzierte Chorschranke und holte Putzlappen und Politur aus ihrem Eimer.
Barbara berichtete ihr, dass man die erwähnten Bücher im Besitz einer Frau gefunden hatte, die am vergangenen Abend ums Leben gekommen war. Und in einem der Bücher hatte sich ein Brief befunden, der von Schwester Cecilia geschrieben war.
»Die Frau hieß Eugenie Davies«, erklärte Barbara.
Schwester Cecilia hielt in ihrer Arbeit inne. »Eugenie?«, sagte sie. »Oh, das tut mir Leid. Ich habe allerdings seit Jahren nichts mehr von ihr gehört, der armen Seele. Ist sie plötzlich gestorben?«
»Sie ist ermordet worden«, sagte Barbara. »In West Hampstead. Auf dem Weg zu einem Mann namens J. W. Pitchley, der früher James Pitchford hieß.«
Langsam wie eine Taucherin in einer starken, kalten Strömung bewegte sich Schwester Cecilia zum Altar. Sie verrieb mit kleinen Kreisbewegungen etwas Politur auf dem Marmor, wobei sie lautlos betete oder monologisierte.
»Wir haben erfahren«, fuhr Barbara fort, »dass die Mörderin ihrer Tochter - eine Frau namens Katja Wolff - erst vor kurzem aus dem Gefängnis entlassen wurde.«
Schwester Cecilia drehte sich mit beinahe heftiger Bewegung herum. »Sie können nicht im Ernst glauben, dass die arme Katja mit dieser Sache etwas zu tun hatte!«
Die arme Katja! Barbara fragte: »Kannten Sie sie denn?«
»Natürlich kannte ich sie. Sie hat hier im Kloster gewohnt, bevor sie die Stellung bei der Familie Davies angenommen hat. Die lebte damals auch hier am Kensington Square.«
Katja sei Flüchtling aus der ehemaligen DDR gewesen, erklärte Schwester Cecilia und berichtete von der Flucht der jungen Frau und der nachfolgenden Übersiedelung nach England.
Katja Wolff hatte Träume gehabt, wie alle jungen Mädchen sie haben, auch in Ländern, wo die Freiheit so eingeschränkt ist, dass allein schon das Träumen gefährlich ist. Sie war in Dresden geboren und aufgewachsen, und ihre Eltern hatten fest an das Regime geglaubt, unter dem sie lebten. Ihr Vater, im Zweiten Weltkrieg ein halbwüchsiger Junge, hatte das Schlimmste mitgemacht, was geschehen kann, wenn Nationen miteinander in Konflikt geraten, und sich in der Überzeugung, dass nur der Kommunismus die globale Zerstörung verhindern könne, mit Leib und Seele der sozialistischen Ideologie verschrieben. Den Wolffs, linientreue Parteimitglieder ohne familiäre Verbindungen zur Intelligenz, für deren Fehler sie hätten bezahlen müssen, ging es gut. Die Familie zog irgendwann von Dresden nach Berlin um.
»Aber Katja war anders«, fuhr Schwester Cecilia fort. »Katja war der lebende Beweis dafür, Constable, dass jedes Kind mit einer intakten Persönlichkeit geboren wird.«
Anders als ihre Eltern und die vier Geschwister verabscheute Katja Wolff die Atmosphäre in diesem Staat, der allgegenwärtig war im Leben seiner Bürger. Sie konnte sich nicht damit abfinden, dass das Leben des Einzelnen von Geburt an »beschrieben, bestimmt und definiert« war. Und in Ostberlin - dem Westen so nahe - bekam sie einen ersten Vorgeschmack davon, wie das Leben sein könnte, wenn es ihr gelänge, aus dem Land ihrer Geburt zu fliehen. In Ostberlin sah sie zum ersten Mal Westfernsehen, und von Westberlinern, die geschäftlich im Osten der Stadt zu tun hatten, hörte sie, wie das Leben dort drüben war, im Land der Freiheit, wie sie es nannte.
»Sie sollte irgendein naturwissenschaftliches Fach studieren, heiraten und Kinder bekommen, um die sich dann der Staat gekümmert hätte«, erzählte Schwester Cecilia weiter. »So machten es ihre Schwestern, und so wünschten es ihre Eltern auch von ihr. Aber sie wollte Modezeichnerin werden.« Schwester Cecilia drehte sich zu Barbara um und schüttelte lächelnd den Kopf.
»Können Sie sich vorstellen, wie dieser Plan bei den Parteifreunden ankam?«
Katja Wolff war also geflohen und hatte dank ihrer spektakulären Flucht eine gewisse Berühmtheit erlangt, durch die wiederum das Kloster auf sie aufmerksam geworden war. Man hatte sie in das Programm für politische Flüchtlinge aufgenommen, das diesen, bei freier Kost und Logis im Kloster, ein Jahr lang Gelegenheit geben sollte, sich so gründlich wie möglich mit der neuen Sprache und Kultur vertraut zu machen.
»Als sie zu uns kam, sprach sie kein Wort Englisch und hatte nichts bei sich als die Kleider, die sie auf dem Leib trug. Sie blieb das ganze Jahr bei uns, bevor sie die Stellung bei der Familie Davies antrat, wo sie bei der Betreuung des neu geborenen Kindes helfen sollte.«
»Haben Sie die Familie erst bei dieser Gelegenheit kennen gelernt?«
»Nein, nein. Ich kannte Eugenie seit vielen Jahren. Sie kam regelmäßig zur Messe hier in die Kapelle. Sie war uns allen bekannt. Hin und wieder haben wir ein paar Worte miteinander gewechselt, und ich habe ihr dieses oder jenes Buch geliehen - vermutlich sind das die Bücher, die Sie bei ihr gefunden haben -, aber näher kennen gelernt habe ich sie erst nach Sonias Geburt.«
»Ich habe eine Fotografie des kleinen Mädchens gesehen.«
»Tja.« Schwester Cecilia polierte die kunstvollen Schnitzereien auf der Front des Altars. »Eugenie war nach der Geburt dieses Kindes zutiefst niedergeschlagen und verzweifelt. Ich vermute, jede andere Mutter hätte genauso reagiert. Es muss immer eine Zeit der Anpassung geben, nicht wahr, wenn ein Kind geboren wird, das nicht den Erwartungen entspricht. Und ich kann mir vorstellen, dass es für Eugenie und ihren Mann vielleicht ein noch größerer Schlag war als für andere Eltern, weil ihr erstes Kind so außergewöhnlich begabt war.«
»Der Geiger. Richtig, ja. Wir wissen von ihm.«
»Ja, der kleine Gideon. Ein wahrhaft erstaunlicher Junge.«
Schwester Cecilia kniete sich hin und bearbeitete die gedrechselte Säule an der Ecke des Altartischs. »Eugenie sprach anfangs nicht über Sonia«, sagte sie. »Wir wussten natürlich alle, dass sie ein Kind erwartete, und wir hörten auch von der Entbindung. Aber erst als sie ein oder zwei Wochen später wieder zur Messe kam, wurde uns klar, dass etwas nicht in Ordnung war.«
»Hat sie es Ihnen gesagt?«
»Nein, o nein. Das arme Ding. Sie weinte drei oder vier Tage lang jeden Morgen zum Erbarmen, wenn sie da hinten in der Kapelle saß. Und der verängstigte Kleine saß neben ihr und streichelte immerzu ihren Arm und ließ sie keinen Moment aus den Augen, während er versuchte, sie zu trösten, ohne zu wissen, weswegen. Von uns hier im Kloster hatte keiner das Kind gesehen.
Ich versuchte mehrmals, Eugenie zu besuchen, aber sie konnte niemanden >empfangen<, wie es hieß.« Schwester Cecilia zuckte die Achseln und beugte sich wieder über ihren Eimer, dem sie ein frisches Poliertuch entnahm.
»Als ich endlich dazu kam, mit Eugenie zu sprechen«, fuhr sie fort, »und die Wahrheit erfuhr, verstand ich ihren Schmerz, aber nicht diese Untröstlichkeit, Constable. Die habe ich nie verstanden. Vielleicht kommt es daher, dass ich keine Mutter bin und daher keine Ahnung habe, was es heißt, ein Kind zur Welt zu bringen, das nicht vollkommen ist. Aber ich war schon damals der Meinung - und bin es heute noch -, dass Gott uns gibt, was uns bestimmt ist. Wir mögen seine Grunde dafür nicht gleich verstehen, aber für jeden von uns besteht ein Plan, und die Zeit gestattet uns, ihn zu begreifen.«
Sie hielt einen Moment in ihrer Arbeit inne. Mit einem Blick auf Barbara sagte sie besänftigend, da ihr die eigenen Worte offenbar zu hart erschienen: »Aber jemand wie ich hat leicht reden, nicht wahr, Constable. Ich bin ja hier« - sie breitete die Arme aus - »von Gottes Liebe umgeben, und sie manifestiert sich jeden Tag auf tausend verschiedene Arten. Wie komme ich dazu, über die Fähigkeit - oder Unfähigkeit - eines anderen, sich dem Willen Gottes zu beugen, ein Urteil zu sprechen, wo ich selbst so reich gesegnet bin? Würden Sie mir mit den Leuchtern helfen, Kind? Die Dose mit dem Poliermittel liegt im Eimer.«
»Aber ja«, sagte Barbara hastig. »Natürlich. Entschuldigen Sie.« Sie kramte die Dose aus dem Eimer und dazu einen Lappen, der ihr wegen seiner zahllosen schwarzen Flecken der richtige zum Putzen der Leuchter zu sein schien.
»Wann haben Sie Mrs. Davies das letzte Mal gesehen?«, fragte sie.
»Das muss nach Sonias Tod gewesen sein. Es wurde ein Gottesdienst für das Kind gehalten.« Schwester Cecilia sah sinnend zu ihrem Poliertuch hinunter. »Eugenie wollte von einem katholischen Begräbnis nichts wissen. Sie kam nicht mehr zur Messe. Sie hatte ihren Glauben verloren. Dass Gott ihr dieses kranke Kind zugemutet hatte und es ihr dann auf solche Art wieder nahm… Ich habe Eugenie nie wieder gesehen. Ich habe mehrmals versucht, sie zu besuchen, und ich habe ihr geschrieben. Aber sie wollte nichts von mir wissen, und nichts von meinem Glauben und meiner Kirche. Schließlich konnte ich sie nur Gott befehlen und darum beten, dass sie ihren Frieden finden würde.«
Barbara, die wie eine brave Schülerin einen Leuchter polierte, runzelte irritiert die Stirn. In der Geschichte fehlte ein entscheidender Teil - das Kapitel Katja Wolff. »Wie kam es eigentlich zu der Verbindung zwischen Katja Wolff und der Familie Davies?«, fragte sie.
»Das war mein Werk.« Schwester Cecilia richtete sich leise ächzend auf. Sie knickste vor dem Tabernakel in der Mitte des Altars und begann, seine Seitenteile in Angriff zu nehmen.
»Katja brauchte Arbeit, als das Jahr hier im Kloster zu Ende ging. Die Anstellung bei der Familie Davies, wo man ihr neben dem Lohn freie Unterkunft und Verpflegung anbot, ermöglichte es ihr, für die Modeschule zu sparen. Es war für beide Teile eine ideale Lösung.«
»Und dann wurde die Kleine getötet.«
Schwester Cecilia sah Barbara an. Sie sagte nichts, doch ihr Gesicht, das plötzlich allen Ausdruck verlor, verriet, was sie am liebsten gesagt hätte.
»Haben Sie zu irgendjemandem aus dieser Zeit noch Verbindung, Schwester Cecilia?« fragte Barbara.
»Sie fragen nach Katja, stimmt's, Constable?«
»Wenn Sie so wollen.«
»Ich habe Katja fünf Jahre lang jeden Monat besucht. Zuerst als sie noch in Holloway in Untersuchungshaft war,
später dann im Gefängnis. Sie hat nur einmal mit mir gesprochen, ganz am Anfang, als sie verhaftet wurde. Danach nie wieder.«
»Und was sagte sie?«
»Dass sie Sonia nicht getötet hat.«
»Haben Sie ihr geglaubt?«
»Ja.«
Aber sie hatte ihr natürlich glauben müssen, sonst hätte sie ja ihr Leben lang eine schreckliche Last mit sich schleppen müssen, gerade sie, die Frau - ob sie nun in ihrem Glauben an einen allmächtigen und weisen Gott ruhte oder nicht -, die dafür gesorgt hatte, dass Katja Wolff die Arbeit bei der Familie Davies bekam.
»Haben Sie von Katja Wolff gehört, seit sie wieder auf freiem Fuß ist?«, fragte Barbara.
»Nein.«
»Könnte es - abgesehen vielleicht von dem Bedürfnis, ihre Unschuld zu beteuern - einen Grund dafür geben, dass sie sich nach ihrer Entlassung bei Eugenie Davies meldete?«
»Keinen«, antwortete Schwester Cecilia mit Entschiedenheit.
»Sie sind sicher?«
»Aber ja. Wenn Katja überhaupt mit jemandem aus dieser Schreckenszeit Kontakt aufnehmen wollte, dann gewiss nicht mit einem Mitglied der Familie Davies. Höchstens mit mir. Aber ich habe nichts von ihr gehört.«
Sie sprach mit absoluter Bestimmtheit und schien so überzeugt, als gäbe es ihrer Meinung nach nicht den geringsten Raum für Zweifel. Barbara fragte sie, wieso sie sich so sicher sei.
»Wegen des Kindes«, antwortete sie.
»Sonia?«
»Nein. Ich spreche von Katjas Kind. Es kam im Gefängnis zur Welt. Ein Junge. Nach der Geburt bat Katja mich, ihn bei einer Familie unterzubringen. Wenn sie also auf freiem Fuß ist und über die Vergangenheit nachdenkt, wird sie, das kann man wohl mit Sicherheit annehmen, vor allem wissen wollen, was aus ihrem Sohn geworden ist.«