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Letzte Nacht habe ich von ihr geträumt, oder von einer Frau, die Ähnlichkeit mit ihr hatte. Aber Zeit und Ort stimmten nicht. Ich war im Eurostar, und wir tauchten in den Ärmelkanal hinab. Es war, als führe man in ein Bergwerk ein.
Alle waren da: mein Vater, Raphael, meine Großeltern und eine schattenhafte und gesichtslose Gestalt, in der ich meine Mutter erkannte. Und sie war auch da, die Deutsche, sehr ähnlich dem Zeitungsfoto, das ich von ihr gesehen habe. Ach ja, und Sarah-Jane Beckett war da, mit einem Picknickkorb, aus dem sie nicht Speisen herausholte, sondern einen Säugling. Sie bot das Kind ringsherum an wie eine Brötchenplatte, und alle lehnten ab. Ein Baby kann man nicht essen, erklärte ihr mein Großvater.
Dann war es finster vor den Fenstern, und irgendjemand sagte: Natürlich, wir sind jetzt unter Wasser.
Und da geschah es - die Tunnelwände barsten, und Wasser drang ein. Es war nicht schwarz wie das Innere des Tunnels, sondern durchsichtig wie auf dem Grund eines Flusses, wo man beim Tauchen durch das Wasser nach oben schauen und die Sonne erkennen kann.
Dann veränderte sich die Szene plötzlich, wie das im Traum oft vorkommt, und wir waren nicht mehr im Zug. Wir waren nicht mehr unter Wasser, sondern an einem Seeufer. Auf einer Decke lag ein Picknickkorb, und ich wollte ihn unbedingt aufmachen, weil ich so hungrig war. Aber ich konnte die Lederriemen am Korb nicht öffnen. Ich bat die anderen, mir zu helfen, aber keiner tat etwas, weil keiner mich hörte.
Sie waren nämlich alle aufgesprungen und deuteten mit ausgestreckten Armen, rufend und schreiend, auf ein Boot, das in einiger Entfernung vom Ufer über den See trieb. Ich verstand plötzlich, was sie riefen. Es war der Name meiner Schwester. Irgendjemand sagte, sie sei ganz allein im Boot zurückgeblieben, und wir müssen sie holen! Aber niemand rührte sich.
Dann waren die Lederriemen an dem Picknickkorb plötzlich weg, als wären sie nie da gewesen. Jubelnd klappte ich den Deckel hoch, um mir etwas zu essen herauszuholen, aber es war nichts zu essen im Korb. Nur der Säugling. Und irgendwie wusste ich, dass der Säugling meine Schwester war, obwohl ich das Gesicht nicht sehen konnte. Kopf und Schultern waren von einem Schleier bedeckt, so ähnlich wie man sie bei den Marienstandbildern sieht.
Im Traum sagte ich, Sosy - ich nannte Sonia damals so - ist hier. Sie ist hier! Aber keiner von denen, die am Ufer standen, hörte auf mich. Stattdessen begannen sie, dem Boot entgegenzuschwimmen, und ich konnte sie nicht aufhalten, so laut ich auch schrie. Ich hob das Kind aus dem Korb, um ihnen zu zeigen, dass ich die Wahrheit sagte. Ich rief laut: Sie ist hier! Seht doch! Sosy ist hier! Kommt zurück, da draußen in dem Boot ist niemand! Aber sie schwammen immer weiter, einer nach dem anderen, wie aufgefädelt, und einer nach dem anderen verschwanden sie unter der Oberfläche des Sees.
Ich versuchte verzweifelt, sie aufzuhalten. Ich glaubte, wenn sie nur ihr Gesicht sehen könnten, wenn ich sie nur hoch genug hielte, würden sie mir glauben und umkehren.
Ich riss an dem Schleier über dem Gesicht meiner Schwester, aber darunter war ein zweiter Schleier, Dr. Rose, und unter diesem noch einer. Ich zerrte und riss, bis ich völlig außer mir war und laut weinte und kein Mensch außer mir mehr am Ufer war. Sogar Sonia war fort. Da wandte ich mich wieder dem Picknickkorb zu, aber auch diesmal fand ich nichts zu essen darin, sondern lauter Drachen. Ich begann, sie herauszuzerren und zu Boden zu werfen, und während ich zog und riss, überkam mich eine Hoffnungslosigkeit wie nie zuvor in meinem Leben. Hoffnungslosigkeit und schreckliche Angst, weil alle fort waren und mich allein gelassen hatten.
Und was haben Sie getan?, fragen Sie teilnehmend.
Nichts. Libby hat mich geweckt. Ich war schweißgebadet, hatte wahnsinniges Herzklopfen und weinte.
Ich habe wirklich geweint, Dr. Rose, wegen eines Traums!
Ich sagte zu Libby: »Es war nichts in dem Korb. Ich konnte sie nicht aufhalten. Ich hatte sie bei mir, aber sie konnten es nicht sehen und sind in den See gegangen und nicht wieder herausgekommen.«
»Du hast nur geträumt«, sagte sie. »Komm. Komm zu mir. Ich nehm dich eine Weile in den Arm, okay?«
Richtig, Dr. Rose, sie war die Nacht über geblieben. Wir machen das oft. Sie kocht oder ich koche, wir spülen zusammen ab und sehen uns etwas im Fernsehen an. Das ist alles, was mir geblieben ist: das Fernsehen. Wenn Libby überhaupt bemerkt, dass wir keine Musik mehr hören, keinen Perlman, keinen Rubinstein, keinen Menuhin - nicht einmal den wunderbaren Menuhin, der wie ich das Kind seines Instruments war -, so hat sie bisher kein Wort darüber verloren. Wahrscheinlich ist ihr das Fernsehen ohnehin viel lieber. Sie ist eben doch eine typische Amerikanerin.
Wenn wir vom Fernsehen genug haben, schlafen wir. Wir schlafen zusammen in einem Bett, immer in derselben Bettwäsche, die seit Wochen nicht gewechselt worden ist. Aber sie ist unbefleckt, Dr. Rose.
Libby hielt mich im Arm, mein Herz raste. Mit der rechten Hand streichelte sie meinen Kopf, und mit der linken strich sie über meinen Rücken. Sie ließ ihre Hand zu meinem Po hinunterwandern, bis wir Bauch an Bauch dalagen und nur der dünne Flanell meines Pyjamas und der Baumwollstoff ihres Schlüpfers zwischen uns war. Sie flüsterte: »Es ist nichts, es ist alles gut, lass dich einfach fallen«, aber trotz dieser Worte, die unter anderen Umständen vielleicht Trost gewesen wären, wusste ich genau, was nun eigentlich hätte kommen müssen: dass alles Blut in mein Geschlecht strömte und ich spürte, wie es zu pochen begann; dass der Pulsschlag stärker wurde, der Penis anschwoll; ich den Kopf hob und ihren Mund suchte, oder meine Lippen abwärts glitten zu ihrem Busen; dass ich mich mit kreisenden Hüften an sie drängte; sie unter mir auf das Bett drückte und sie nahm, stumm, in einer Stille, die nur von den Schreien unserer Lust - dieser für Männer und Frauen einzigartigen Lust - beim Orgasmus durchbrochen wurde, und dass wir natürlich gleichzeitig kamen. Gleichzeitig. Alles andere wäre meiner Männlichkeit unwürdig gewesen.
Aber so kam es natürlich nicht. Wie denn auch, da ich doch das bin, was ich bin?
Und was ist das?, fragen Sie.
Eine leere Hülle, Dr. Rose. Nein, nicht einmal das. Jetzt, wo mir die Musik genommen ist, bin ich nur noch ein Nichts.
Libby begreift das nicht, weil sie nicht sehen kann, dass ich bis zu dem Tag in der Wigmore Hall die Musik war, die ich spielte. Ich war bloß die Erweiterung des Instruments, und nur durch das Instrument existierte ich.
Sie sagen erst mal gar nichts, Dr. Rose. Sie sehen mich an - manchmal frage ich mich, wieviel Disziplin nötig ist, jemanden anzusehen, der so offensichtlich nicht einmal mit Ihnen in einem Raum ist - und machen ein nachdenkliches Gesicht. Aber ihre Augen spiegeln noch etwas anderes als Nachdenklichkeit. Ist es Mitleid? Verwirrung? Zweifel? Frustration?
Unbewegt sitzen Sie da im Schwarz Ihrer Trauer. Sie betrachten mich über den Rand Ihrer Teetasse hinweg. Was rufen Sie in Ihrem Traum?, fragen Sie. Was rufen Sie, Gideon, als Libby Sie weckt.
Mama.
Aber das wussten Sie natürlich schon, bevor Sie fragten.
Dank der Zeitungen im Archiv der Presseagentur habe ich meine Mutter jetzt klar vor mir. Ich sah sie flüchtig - auf der Seite gegenüber von Sonias Foto -, bevor ich das Sensationsblatt wegstieß. Ich wusste, dass die Frau meine Mutter war, weil sie am Arm meines Vaters ging, weil sie beide vor dem Old Bailey aufgenommen waren; weil die Schlagzeile über dem Foto in riesigen Lettern »Gerechtigkeit für Sonia« forderte.
Nun sehe ich sie also vor mir. Bisher war sie nur ein Schemen. Ich sehe ihr blondes Haar, die Konturen ihres Gesichts, die Form ihres Kinns, das, scharf geschnitten, von den leicht gekrümmten Unterkieferknochen zur Spitze gebildet wird. In eine schwarze Hose und einen weichen grauen Pulli gekleidet, kommt sie in mein Zimmer, wo Sarah-Jane mir eine Geografiestunde gibt. Wir nehmen gerade den Amazonas durch, der sich einer gewaltigen Schlange gleich sechstausendfünfhundert Kilometer von den Anden durch Peru und Brasilien windet bis zu dem endlosen Atlantischen Ozean.
Meine Mutter erklärt Sarah-Jane, dass sie die Stunde abbrechen muss, und ich sehe Sarah-Jane an, dass ihr das gar nicht passt; ihre Lippen werden zu einem schmalen Strich, obwohl sie höflich sagt: »Natürlich, Mrs. Davies«, und unsere Bücher zuklappt.
Ich folge meiner Mutter. Wir gehen die Treppe hinunter, sie führt mich ins Wohnzimmer, wo ein Mann wartet, ein großer, kräftiger Mann mit buschigem, rotblondem Haar.
Meine Mutter erklärt mir, dass er von der Polizei ist und mir einige Fragen stellen möchte, ich brauche aber keine Angst zu haben, sie werde bei mir im Zimmer bleiben. Sie setzt sich aufs Sofa und klopft neben ihrem Oberschenkel auf das Polster. Und als ich mich zu ihr setze, legt sie mir den Arm um die Schultern. Ich spüre, dass sie zittert, als sie sagt: »Bitte, fangen Sie an, Inspector.«
Sie hat vermutlich seinen Namen genannt, aber ich kann mich nicht an ihn erinnern. Ich erinnere mich jedoch, dass er einen Sessel ganz dicht zu uns heranzieht und sich vorbeugt. Er hat die Ellbogen auf die Knie gestützt und die Arme erhoben, sodass er das Kinn auf den ausgestreckten Daumen ruhen lassen kann. Ich rieche Zigarren. Der Qualm sitzt wahrscheinlich in seinen Kleidern und seinem Haar. Es ist kein unangenehmer Geruch, aber ich bin ihn nicht gewöhnt und drücke mich, davor zurückschreckend, an meine Mutter.
Er sagt: »Deine Mama hat Recht, mein Junge. Du brauchst keine Angst zu haben. Niemand wird dir etwas tun.« Während er spricht, drehe ich den Kopf und schaue zu meiner Mutter hinauf. Aber sie hält den Blick starr auf ihren Schoß gerichtet. In ihrem Schoß liegen unsere Hände, ihre Hand und meine, die sie zuvor ergriffen hat, um uns noch mehr miteinander zu verbinden: durch ihren Arm, der um meine Schultern liegt, durch unsere Hände. Sie drückt mir die Hand, aber sie sagt nichts zu den Worten des rotblonden Polizeibeamten.
Der fragt mich, ob ich weiß, was meiner Schwester zugestoßen ist. Ich antworte, ich wisse, dass Sosy etwas Schlimmes passiert ist. Es waren ganz viele Menschen im Haus, berichte ich ihm, und dann haben sie sie ins Krankenhaus gebracht.
»Deine Mama hat dir sicher schon gesagt, dass sie jetzt beim lieben Gott ist.«
Und ich sage, Ja, Sosy ist beim lieben Gott.
Er fragt mich, ob ich weiß, was das heißt, beim lieben Gott sein.
Ich antworte ihm, dass es heißt, dass Sosy gestorben ist.
»Weißt du, wie sie gestorben ist?«, fragt er.
Ich lasse den Kopf sinken. Ich schlage mit den Fersen gegen das Sofa und sage, dass ich jetzt eigentlich drei Stunden Geige üben sollte, dass Raphael mir etwas aufgegeben hat - irgendein Allegro, glaube ich, war es -, und ich nur dann nächsten Monat Mr. Stern kennen lernen darf, wenn ich es richtig kann. Meine Mutter beugt sich vor und bringt meine Beine zur Ruhe. Ich solle versuchen, dem Inspector zu antworten, sagt sie.
Ich weiß die Antwort. Ich habe das Poltern der vielen Menschen gehört, die die Treppe hinauf zum Badezimmer gelaufen sind. Ich habe die Schreie in der Nacht gehört. Ich habe auf die flüsternden Stimmen gehorcht. Ich bin mitten hineingeplatzt in heftige Fragen und Vorwürfe. Ich weiß, was meiner kleinen Schwester zugestoßen ist.
In der Badewanne, sage ich. Sosy ist in der Badewanne gestorben.
»Wo warst du denn, als Sosy starb?«, fragt er.
Ich habe Musik gehört, antworte ich.
An dieser Stelle schaltet meine Mutter sich ein und erklärt dem Polizeibeamten, dass ich auf Raphaels Anordnung mir zweimal täglich bestimmte Musikstücke anhören muss, weil ich nicht so gut spiele, wie ich eigentlich sollte.
»Du bist also ein kleiner Fiedler?«, sagt der Polizeibeamte freundlich zu mir.
»Ich bin Geiger, kein Fiedler«, gebe ich zur Antwort.
»Ach so.« Der Polizeibeamte lächelt. »Geiger. Jetzt weiß ich Bescheid.« Er setzt sich bequemer hin, legt die Hände auf die Oberschenkel und sagt: »Deine Mama hat mir gesagt, mein Junge, dass sie und dein Dad dir noch nicht genau erklärt haben, wie deine kleine Schwester gestorben ist.«
In der Badewanne, wiederhole ich. Sie ist in der Badewanne gestorben.
»Das ist richtig. Aber es war kein Unfall, mein Junge. Jemand hat deiner kleinen Schwester wehgetan. Mit Absicht. Weißt du, was das bedeutet?«
Ich denke sofort an Stöcke und Steine, und das sage ich auch. Jemandem wehtun bedeutet, mit Steinen nach ihm werfen, sage ich. Oder jemandem ein Bein stellen, damit er hinfällt, oder schlagen und kneifen und beißen. Ich sehe Sosy all diesen Quälereien ausgesetzt.
Der Polizeibeamte sagt: »Ja, das ist eine Art, jemandem wehzutun. Aber es gibt noch eine andere Art, die Art, wie ein Erwachsener einem Kind wehtut. Weißt du, was ich meine?«
Wenn man Schläge kriegt, sage ich.
»Schlimmer.«
An dieser Stelle tritt mein Vater ins Zimmer. Ist er gerade von der Arbeit nach Hause gekommen? War er überhaupt arbeiten? Wie lange nach Sonias Tod findet dieses Gespräch statt? Ich versuche, die Erinnerung in einen Zusammenhang zu bringen, aber ich kann nur sagen, wenn die Polizei noch dabei ist, der Familie Fragen über Sonias Tod zu stellen, dann muss es vor der Festnahme Katjas gewesen sein.
Mein Vater sieht sofort, was los ist, und macht der Sache ein Ende. Daran erinnere ich mich. Und dass er wütend war, sowohl auf meine Mutter als auch auf den Polizeibeamten.
»Was geht hier vor, Eugenie?«, sagt er scharf, während der Polizist aufsteht.
»Der Inspector wollte Gideon ein paar Fragen stellen«, antwortet sie.
»Warum?«
»Jeder muss befragt werden, Mr. Davies«, erklärt der Polizeibeamte.
Mein Vater entgegnet: »Sie vermuten doch nicht im Ernst, dass Gideon -«
Meine Mutter ruft ihn beim Namen. Genauso wie Großmutter immer »Jack« ruft, wenn sie hofft, eine »Episode« abwehren zu können.
Mein Vater befiehlt mir, in mein Zimmer zu gehen, und der Polizeibeamte sagt daraufhin, er zögere das Unvermeidliche nur hinaus. Ich weiß nicht, was er meint, aber ich gehorche meinem Vater - wie immer - und verlasse das Zimmer. Ich höre den Inspector noch sagen: »Das macht alles nur noch beängstigender für den Jungen«, und meinen Vater heftig erwidern: »Ich will Ihnen mal was sagen -« Dann wird er von Mutter unterbrochen, die mit brüchiger Stimme ruft: »Bitte, Richard!«
Meine Mutter weint. Daran sollte ich mich eigentlich mittlerweile gewöhnt haben. Immer in Grau und Schwarz gekleidet, immer bleich, weint sie seit mehr als zwei Jahren unablässig, so scheint es. Aber ob sie nun weint oder nicht, sie kann die Situation an diesem Tag nicht ändern.
Vom Zwischengeschoss aus sehe ich den Polizeibeamten gehen. Meine Mutter bringt ihn zur Tür. Er spricht mit ihr, sie hält den Kopf gesenkt, während er sie unverwandt ansieht und die Hand ausstreckt, um sie zu berühren, es aber dann doch nicht tut. Dann ruft mein Vater nach meiner Mutter, und sie dreht sich um. Sie sieht mich nicht auf ihrem Weg zurück zu ihm. Hinter der geschlossenen Tür schreit mein Vater sie an.
Hände umfassen meine Schultern, und ich werde vom Treppengeländer weggezogen. Ich drehe mich um, SarahJane Beckett steht hinter mir. Sie geht neben mir in die Hocke und legt mir den Arm um die Schultern, wie zuvor meine Mutter, aber sie zittert nicht. So bleiben wir einige Minuten lang - und die ganze Zeit hören wir die Stimmen meiner Eltern, laut und scharf die meines Vaters, zaghaft und furchtsam die meiner Mutter. »… Das kommt mir nicht wieder vor, Eugenie«, sagt mein Vater. »Ich erlaube es nicht. Hast du mich verstanden?«
Ich nehme mehr als Zorn in seiner Stimme wahr. Ich nehme Gewalt wahr, die gleiche Art von Gewalt wie bei meinem Großvater, Gewalt, die einem zerbrechenden Geist entspringt. Ich habe Angst.
Suchend sehe ich zu Sarah-Jane hinauf. Aber was suche ich denn? Schutz? Bestätigung dessen, was ich von unten höre? Ablenkung? Egal was, alles. Aber sie ist starr vor Spannung, ihr Blick unverwandt auf die Wohnzimmertür gerichtet. Fasziniert starrt sie auf diese Tür, und ihre Finger krampfen sich immer fester um meine Schultern, bis es wehtut. Ich stoße einen leisen Schmerzenslaut aus und blicke zu ihrer Hand hinunter. Abgekaute, rissige Fingernägel, die Nagelhaut entzündet und blutig. Aber ihr Gesicht glüht, sie atmet tief und macht keine Bewegung, bis das Gespräch unten abbricht und Schritte auf dem Parkettboden laut werden. Da nimmt sie mich rasch bei der Hand und zieht mich mit sich die Treppe hinauf in die zweite Etage, vorbei an der geschlossenen Tür des Kinderzimmers, zurück zu meinem Zimmer, wo die Schulbücher wieder aufgeschlagen sind und eine Karte den Amazonas zeigt, der wie eine Giftschlange über den ganzen Kontinent kriecht.
Was ist denn zwischen Ihren Eltern gewesen?, fragen Sie mich.
Heute scheint mir die Antwort klar: die Frage der Schuld.
Sonia ist tot. Ihr Tod verlangt nach einer Abrechnung, nicht nur in einem Gerichtssaal des Old Bailey, nicht nur vor dem Gericht der öffentlichen Meinung, sondern auch vor dem Gericht der Familie. Denn jemand muss die Last der Verantwortung auf sich nehmen: für die Geburt dieses unvollkommenen Kindes, für die unzähligen körperlichen Leiden, die es während seines kurzen Lebens geplagt haben, für seinen vorzeitigen, gewaltsamen Tod. Ich weiß heute, was ich damals noch nicht wissen konnte: Das, was in dem Badezimmer in Kensington geschah, wäre nicht zu überleben gewesen, wenn nicht der Schuld ein Platz zugewiesen worden wäre.
Mein Vater kommt zu mir ins Zimmer. Sarah-Jane und ich haben unsere Stunde beendet. Sie ist mit James, dem Untermieter, weggegangen. Ich habe die beiden von meinem Fenster aus beobachtet, als sie über die Steinplatten vor dem Haus gingen und durch die Pforte hinaus. Sarah-Jane trat zurück, um sich von James, dem Untermieter, die Pforte öffnen zu lassen, und wartete, nachdem sie an ihm vorbei hinausgegangen war, auf dem Bürgersteig auf ihn. Sie nahm seinen Arm und drängte sich auf diese Art an ihn, die Frauen manchmal haben, um ihre Brüste - obwohl sie kaum welche hat - an seinen Arm zu pressen. Wenn er überhaupt etwas fühlte, so ließ er es sich nicht anmerken. Vielmehr ging er sofort los in Richtung zum Pub, und sie bemühte sich, ihren Schritt dem seinen anzupassen.
Ich habe ein Musikstück ausgewählt, das Raphael mir ans Herz gelegt hat, und höre es mir gerade an, als mein Vater hereinkommt. Ich versuche, die Töne nicht nur zu hören, sondern zu empfinden, denn nur, wenn ich sie empfinde, werde ich sie meinem Instrument entlocken können.
Ich hocke in einer Ecke des Zimmers auf dem Fußboden. Mein Vater kommt zu mir und kauert vor mir nieder. Die Musik umspült uns. Wir leben in der Musik, bis der Satz zu Ende ist. Mein Vater schaltet die Stereoanlage aus. »Komm zu mir, mein Sohn«, sagt er und setzt sich auf das Bett.
Ich trete vor ihn hin.
Er sieht mich forschend an. Am liebsten würde ich mich diesem Blick entziehen, aber ich tue es nicht. Er sagt: »Du lebst doch für die Musik, nicht wahr?«, und dabei streicht er mir mit der Hand übers Haar. »Konzentriere dich auf die Musik, Gideon, nur auf die Musik und nichts sonst.«
Ich nehme seinen Geruch wahr: Zitrone und Wäschestärke, ganz anders als der Zigarrengeruch. »Er hat mich gefragt, wie Sosy gestorben ist«, sage ich.
Mein Vater zieht mich an sich und hält mich im Arm. »Sie ist jetzt weg«, sagt er. »Niemand kann dir etwas antun.«
Er spricht von Katja. Ich habe sie fortgehen hören. Ich habe sie in Begleitung der Nonne gesehen, vielleicht ist sie also ins Kloster zurückgekehrt. Niemand bei uns erwähnt ihren Namen, so wenig wie Sonias. Es sei denn, der Polizeibeamte spricht über eine von ihnen.
»Er hat gesagt, dass jemand Sosy wehgetan hat«, berichte ich.
Mein Vater sagt: »Denk an die Musik, Gideon. Höre und übe, mein Junge. Mehr verlangt im Moment keiner von dir.«
Aber er täuscht sich. Der Polizeibeamte bittet ihn, mich aufs Revier in der Earl's Court Road zu bringen, wo wir in einen kleinen, hell erleuchteten Raum geführt werden. Dort erwartet uns eine Frau, die einen Anzug trägt wie ein Mann und wachsam auf die Fragen hört, die mir gestellt werden, wie eine Hüterin, die eigens dazu da ist, um mich zu beschützen. Die Fragen stellt mir der rothaarige Polizeibeamte selbst.
Was er wissen wolle, sagt er, sei ganz einfach. »Du kennst doch Katja Wolff, nicht wahr, mein Junge?« Ich blicke von meinem Vater zu der fremden Frau. Sie trägt eine Brille, und wenn das Licht auf die Gläser fällt, blitzen diese auf und man kann die Augen der Frau nicht sehen.
Mein Vater sagt: »Natürlich kennt er Katja Wolff. Er ist kein Idiot. Kommen Sie zur Sache.«
Der Polizeibeamte lässt sich nicht drängen. Er spricht mit mir, als wäre mein Vater gar nicht da. Er fragt nach Sosys Geburt, nach Katjas Ankunft in unserem Haus, nach der Betreuung von Sosy. An dieser Stelle protestiert mein Vater. »Wie soll ein Achtjähriger derartige Fragen beantworten können?«
Der Polizeibeamte erwidert, mein Vater werde sich wundern, Kinder seien gute Beobachter, und ich könne zweifellos mehr erzählen, als er für möglich halte.
Man hat mir eine Dose Cola auf den Tisch gestellt und einen Keks mit Nüssen und Rosinen dazugelegt. Die Dose ist außen beschlagen, und ich zeichne mit dem Finger ein dreiblättriges Kleeblatt in den Feuchtigkeitsfilm. Wegen dieses Besuchs auf der Polizeidienststelle kann ich an diesem Morgen nicht wie gewohnt meine drei Stunden Geige üben. Das macht mich unruhig, nervös, schwierig. Und ich habe ohnehin Angst.
Wovor?, fragen Sie mich.
Vor den Fragen; davor, die falschen Antworten zu geben; vor der Spannung, die ich bei meinem Vater spüre und die mir jetzt, wenn ich darüber nachdenke, im Vergleich zum Schmerz meiner Mutter völlig unangemessen erscheint. Hätte er nicht niedergeschmettert sein müssen vor Kummer, Dr. Rose? Hätte er nicht wenigstens verzweifelt versuchen müssen zu klären, was Sonia zugestoßen war? Aber von Schmerz merkt man nichts bei ihm, und wenn so etwas wie verzweifeltes Bemühen da ist, dann scheint es aus einer inneren Angst geboren, die er keinem erklärt hat.
Beantworten Sie die Fragen trotz Ihrer Furcht?, fragen Sie.
So gut ich kann, ja. Sie führen mich noch einmal durch die zwei Jahre, als Katja Wolff bei uns gelebt hat. Aus irgendeinem Grund konzentrieren sie sich vor allem auf Katjas Beziehung zu James, dem Untermieter, und SarahJane Beckett. Aber schließlich wenden sie sich der Betreuung Sonias zu, und hierbei einem speziellen Punkt.
»Hast du einmal gehört, dass Katja deine kleine Schwester angeschrien hat?«, fragt der Polizeibeamte.
Nein, nie.
»Hast du irgendwann einmal gesehen, dass sie Sonia gezüchtigt hat, wenn sie ungehorsam war?«
Nein, nie.
»Hast du irgendwann einmal beobachtet, dass Katja grob mit Sonia umgegangen ist? Vielleicht hat sie sie geschüttelt, wenn sie nicht aufhörte zu weinen. Oder ihr einen Klaps auf den Po gegeben, wenn sie nicht gehorchte. Oder sie am Arm gezogen, um sie auf sich aufmerksam zu machen; oder am Bein gepackt, um sie hochzuziehen, wenn sie sie wickelte.«
»Sosy hat oft geweint«, erzähle ich ihm. »Katja musste nachts aufstehen und nach ihr sehen. Sie hat deutsch mit ihr gesprochen -«
»In zornigem Ton?«
»- und manchmal hat sie selbst auch geweint. Ich konnte es in meinem Zimmer hören, und einmal bin ich aufgestanden und habe in den Korridor hinausgeschaut, und da habe ich gesehen, wie sie mit Sosy auf dem Arm hin und her gegangen ist. Sosy hat einfach nicht aufgehört zu weinen. Schließlich legte Katja sie wieder in ihr Bettchen. Sie schwenkte einen Spielzeugschlüsselbund aus Plastik über dem Bett, und ich hörte sie >Bitte, bitte< sagen. Auf Deutsch. Und als Sosy trotzdem nicht zu weinen aufhörte, hat Katja das Gitter vom Bett gepackt und daran gerüttelt.«
»Hast du das gesehen?« Der Polizeibeamte beugt sich über den Tisch zu mir. »Hast du gesehen, wie Katja das tat? Bist du sicher, mein Junge?«
Irgendetwas in seinem Ton verrät mir, dass ich eine Antwort gegeben habe, die Anklang findet. Ich sage, ich sei ganz sicher: Sosy habe geweint, und Katja hat am Gitterbett gerüttelt.
»Ich glaube, jetzt sind wir auf dem richtigen Weg«, sagt der Polizeibeamte.
Was von dem, das ein Kind erzählt, entspringt seiner Erinnerung, Dr. Rose? Was von dem, das ein Kind erzählt, entspringt seinen Träumen? Was von dem, das ich dort auf dem Polizeirevier dem Kriminalbeamten erzähle, entspringt tatsächlich Erlebtem? Was davon entspringt so unterschiedlichen Quellen wie der Spannung, die ich zwischen meinem Vater und dem Polizeibeamten wahrnehme, und meinem Wunsch, es beiden recht zu machen?
Um aus dem Rütteln an einem Kinderbett das Schütteln eines kleinen Kindes zu machen, bedarf es nur eines Schritts. Und es bedarf nur eines Moments der Fantasie, damit man sich einbildet, man habe gesehen, wie beim Anziehen eines Mantels ein kleiner Arm verdreht, ein kleiner Körper grob in die Höhe gerissen wurde, wie ein rundes Gesichtchen zornig zusammengedrückt und gekniffen wurde, weil das Kind sein Essen ausgespien hatte, wie ein Kamm grob durch eine Strähne zerzausten Haars gezerrt wurde; kleine Beine ungeduldig in eine pinkfarbene Latzhose gestoßen wurden.
Aha, sagen Sie. Ihr Ton ist völlig neutral, Sie sind gewissenhaft darauf bedacht, nicht zu bewerten, Dr. Rose. Aber sie heben die Hände, aneinander gelegt wie zum Gebet. Sie drücken sie unter das Kinn. Sie wenden Ihren Blick nicht ab, aber ich tue es.
Ich sehe, was Sie denken. Ich denke das Gleiche. Auf Grund meiner Antworten auf die Fragen des Polizeibeamten wurde Katja Wolff verurteilt.
Aber ich habe beim Prozess nicht ausgesagt, Dr. Rose. Wenn das, was ich der Polizei erzählte, so wichtig war, warum wurde ich dann nicht als Zeuge vor Gericht geladen? Eine Aussage, die nicht vor einem ordentlichen Gericht beeidet wird, ist nicht mehr wert als ein Artikel in irgendeinem Boulevardblatt: Es ist etwas, das man glauben oder auch nicht glauben kann und das weitere Nachforschungen durch professionelle Ermittler nahe legt.
Wenn ich sagte, dass Katja Wolff meiner Schwester Leid zufügte, hätte das zu nicht mehr geführt, als dass man dieser Behauptung nachgegangen wäre und sie überprüft hätte. Oder stimmt das nicht? Und wenn es für meine Behauptung eine Bestätigung gab, dann wird die Polizei sie gefunden haben.
So muss es gewesen sein, Dr. Rose.
Vielleicht habe ich es wirklich gesehen. Vielleicht wurde ich tatsächlich Zeuge dieser Geschehnisse, von denen ich behauptete, sie hätten sich zwischen meiner kleinen Schwester und ihrer Kinderfrau zugetragen. Wenn so viele Kammern meines Gedächtnisses leer sind, ist es dann nicht logisch zu vermuten, dass irgendwo im weiträumigen Bau meines Bewusstseins Bilder verborgen sind, die genau zu erinnern allzu schmerzhaft wäre?
Eine rosarote Latzhose ist ein ziemlich genaues Bild, erwidern Sie. Es kommt entweder aus der Erinnerung, oder es ist Ausschmückung, Gideon.
Wie sollte ich auf eine rosarote Latzhose kommen, wenn sie keine solche Latzhosen trug?
Sie war ein kleines Mädchen, erwidern Sie mit einem Achselzucken, das weniger wegwerfend als unverbindlich ist. Kleine Mädchen tragen häufig die Farbe Rosa.
Sie wollen also sagen, dass ich gelogen habe, Dr. Rose? Dass ich ein Wunderkind und zugleich ein Lügner war?
Das eine schließt das andere nicht aus, erwidern Sie.
Die Bemerkung erschüttert mich, und Sie nehmen etwas davon in meinem Gesicht wahr - Schmerz, Entsetzen, Schuld?
Ich sage nicht, dass Sie heute ein Lügner sind, Gideon. Aber vielleicht waren Sie damals einer. Vielleicht haben die Umstände Sie gezwungen zu lügen.
Was für Umstände, Dr. Rose?
Darauf haben Sie nur eine Antwort: Schreiben Sie nieder, woran Sie sich erinnern.
Libby entdeckte mich oben auf dem Primrose Hill. Ich stand vor der Metalltafel, mit deren Hilfe man die Gebäude und Sehenswürdigkeiten identifizieren kann, die man vom Gipfel aus sieht, und zwang mich, den Blick von dem gestochen scharfen Bild auf der Tafel auf das Panorama zu richten, um - von Osten nach Westen wandernd - jedes einzelne Bauwerk zu identifizieren. Aus dem Augenwinkel sah ich Libby den Fußweg heraufkommen. Sie hatte ihre schwarze Lederkluft an. Den Helm hatte sie nicht dabei, und der Wind peitschte ihr das lockige Haar ins Gesicht.
»Ich hab deinen Wagen auf dem Platz stehen sehen«, sagte sie, »und dachte mir, dass ich dich hier finden würde. Ohne Drachen?«
»Ohne Drachen.« Ich berührte das kühle Metall der Tafel und ließ meinen Finger auf dem eingravierten Abbild der Kuppel der St.-Pauls-Kathedrale liegen. Ich musterte die Stadtsilhouette.
»Was ist los? Du siehst nicht gerade aus wie's blühende Leben. Ist dir kalt? Was tust du hier draußen ohne Pulli?«
Ich suche Antworten, dachte ich.
»Hey!«, sagte sie. »Jemand zu Hause? Falls du's noch nicht gemerkt hast, ich rede mit dir.«
»Ich musste dringend ein Stück laufen«, erwiderte ich.
»Du warst heute bei deiner Psychotante, stimmt's?«
Ich hätte gern gesagt, dass ich auch dann bei Ihnen bin, wenn ich nicht bei Ihnen bin, Dr. Rose. Aber ich dachte, sie würde das missverstehen und die Bemerkung als ein Zeichen dafür halten, dass ich völlig auf Sie fixiert bin, was nicht der Fall ist.
Sie trat auf die andere Seite der Tafel und stellte sich mir gegenüber, sodass mir die Aussicht auf die Stadt versperrt war. Sie griff über die Tafel und legte mir die Hand auf die Brust. »Was ist los, Gid? Kann ich dir irgendwie helfen?«
Die Berührung brachte mir wieder zu Bewusstsein, was alles nicht zwischen uns geschieht - was alles zwischen einer Frau und einem normalen Mann längst geschehen wäre -, und neben dem, was mich sowieso schon quälte, war die Belastung dieses Gedankens einfach zu viel.
»Ich bin vielleicht dafür verantwortlich, dass ein Mensch ins Gefängnis gekommen ist«, sagte ich.
»Was? Wieso?«
Ich erzählte ihr den Rest der Geschichte.
Als ich geendet hatte, sagte sie: »Du warst damals acht Jahre alt! Ein Bulle hat dich ausgefragt. Du hast versucht, aus einer schlimmen Situation das Beste zu machen. Und vielleicht hast du das ja wirklich alles gesehen. Darüber gibt's Untersuchungen, Gid, und die zeigen, dass Kinder nichts erfinden, wenn's um Missbrauch geht. Wo Rauch ist, ist auch Feuer. Außerdem muss jemand bestätigt haben, was du gesagt hast, sonst hättest du auf jeden Fall vor Gericht aussagen müssen.«
»Aber genau das ist doch der springende Punkt. Ich weiß nicht, ob ich ausgesagt habe oder nicht, Libby.«
»Aber du hast doch erklärt -«
»Ich habe gesagt, dass ich mich an den Polizeibeamten, die Fragen und das Revier erinnern kann - alles Bestandteile einer Situation, die ich völlig verdrängt hatte. Wer sagt mir, dass ich einen Auftritt bei Katja Wolffs Prozess nicht ebenfalls verdrängt habe?«
»Ach so. Ja. Ich verstehe.« Sie sah das Stadtpanorama an und hielt mit den Händen ihr flatterndes Haar fest, während sie auf der Unterlippe kauend über meine Worte nachdachte. Schließlich meinte sie: »Okay. Dann versuchen wir, doch mal rauszukriegen, was wirklich abgelaufen ist.«
»Und wie?«
»Na, so schwer kann's doch nicht sein, Einzelheiten über einen Prozess rauszukriegen, über den wahrscheinlich alle Zeitungen im ganzen Land berichtet haben.«
Wir begannen unsere Nachforschungen bei Bertram Cresswell-White, der bei dem Prozess gegen Katja Wolff die Krone vertreten hatte. Ihn ausfindig zu machen war, wie Libby prophezeit hatte, kein Problem. Er hatte seine Kanzlei in den Paper Buildings, die zum sogenannten Temple gehörten, einem ausgedehnten Komplex von Gebäuden und Gartenanlagen, wo die Anwälte ihre Kanzleien haben, die den Genossenschaften des Inner und des Middle Temple angehören. Nachdem es mir gelungen war, ihn am Telefon zu erreichen, war er sogleich bereit, mich zu empfangen. »Ich habe den Fall noch lebhaft im Gedächtnis«, sagte er.
»Ich unterhalte mich gern mit Ihnen darüber, Mr. Davies.«
Libby bestand darauf, mich zu begleiten. »Zwei Köpfe sind besser als einer. Was du vielleicht zu fragen vergisst, werde ich fragen.«
Wir fuhren also zur Themse hinunter und betraten die Anlage vom Victoria Embankment aus. Hier führt eine schmale Kopfsteingasse unter einem kunstvoll gearbeiteten Torbogen hindurch in das Allerheiligste der juristischen Elite des Landes. Das Haus namens Paper Buildings steht auf der Ostseite eines üppig bepflanzten Gartens und bietet den Anwälten, die hier ihre Kanzleien haben, einen Blick auf die Bäume oder den Fluss.
Bertram Cresswell-White hatte von seiner Kanzlei aus eine Aussicht nach beiden Seiten. Er erwartete uns bereits, als wir von einer jungen Frau, die ihm ein Bündel rot verschnürter Hefter brachte, zu ihm geführt wurden, in einem Alkoven, von wo er, hinter seinem Schreibtisch sitzend, einen Lastkahn beobachtete, der sich träge die Themse hinunter zur Waterloo-Brücke bewegte. Sobald er sich vom Fenster abwandte, war ich sicher, dass ich ihn nie gesehen hatte, dass keinerlei Verbindung zu ihm bestand, die ich bewusst oder unbewusst aus meinem Gedächtnis gestrichen hatte. Diesen imposanten Mann hätte ich gewiss nicht vergessen, wenn er mich vor Gericht befragt hätte.
Er ist bestimmt einen Meter zweiundneunzig groß, Dr. Rose, und hat Schultern wie ein Profiruderer. Die buschigen Altmännerbrauen haben etwas sehr Bedrohliches, und als er mich mit diesem scharfen Blick ansah, mit dem er vor Gericht wahrscheinlich die Zeugen der Gegenseite einschüchtert, wurde ich einen Moment richtiggehend nervös.
Aber dann sagte er ganz freundlich: »Ich hätte nie erwartet, Sie einmal persönlich kennen zu lernen. Ich habe Sie vor einigen Jahren im Barbican gehört«, und zu der jungen Frau, die ihm die Hefter auf den Schreibtisch legte, in dessen Mitte sich bereits ein Aktenstapel türmte, bemerkte er: »Bringen Sie uns bitte Kaffee, Mandy.« Er sah Libby und mich an. »Sie trinken doch eine Tasse?«
Ich sagte Ja. Libby sagte: »Klar, gern«, und sah sich aufmerksam im Zimmer um, wobei ihr Mund sich zu einem kleinen O rundete, durch das sie die Luft ausstieß. Ich kannte sie mittlerweile gut genug, um zu wissen, was sie auf ihre typisch kalifornische Art dachte. »Mann, das ist ja 'ne irre Bude hier.« Recht hatte sie.
Cresswell-Whites Arbeitszimmer war in der Tat beeindruckend: Messingleuchter an der Decke, hohe Bücherregale an den Wänden, mit juristischen Wälzern in edlen alten Einbänden, ein offener Kamin, in dem selbst jetzt ein Gasfeuer brannte. Er wies uns zu einer Klubgarnitur, die auf einem Perserteppich um einen runden Tisch gruppiert war. Eine gerahmte Fotografie auf diesem Tisch zeigte einen noch relativ jungen Mann in Perücke und Robe, der mit verschränkten Armen neben Cresswell-White stand und höchst vergnügt lachte.
»Ist das Ihr Sohn?«, fragte Libby. »Die Ähnlichkeit ist auffallend.«
»Ja, das ist mein Sohn Geoffrey«, antwortete Cresswell- White, »nach seinem ersten Prozess.«
»Er scheint ihn gewonnen zu haben«, stellte Libby fest.
»Richtig. Er ist übrigens genau in Ihrem Alter«, fügte er mit einem Nicken zu mir hinzu, als er die Hefter, die alle mit »Die Krone gegen Wolff« gekennzeichnet waren, auf den Couchtisch legte. »Ich entdeckte zufällig, dass Sie beide mit einer Woche Abstand im selben Krankenhaus geboren wurden. Zur Zeit des Verfahrens wusste ich das noch nicht. Aber später habe ich irgendwo einen Bericht über Sie gelesen - Sie waren damals noch ein Teenager, wenn ich mich recht erinnere -, in dem erwähnt wurde, wo und wann Sie geboren wurden. Tja, die Welt ist klein, nicht wahr?«
Mandy kam mit dem Kaffee und stellte das Tablett auf den Tisch: drei Tassen mit Untertassen, Milch und Zucker, aber keine Kanne, eine Unterlassung, die wohl mehr oder weniger dezent die Dauer unseres Besuchs bestimmen sollte.
Als sie gegangen war, sagte ich: »Wir sind hergekommen, weil ich mir Antworten auf einige Fragen erhoffe, die ich zum Prozess gegen Katja Wolff habe.«
»Sie hat sich doch nicht bei Ihnen gemeldet?« Cresswell-Whites Ton war scharf.
»Bei mir gemeldet? Nein. Ich habe sie nie wieder gesehen, nachdem sie unser Haus verlassen hatte - nach dem Tod meiner Schwester. Das heißt, ich glaube zumindest nicht, dass ich sie gesehen habe.«
»Sie glauben nicht…?« Cresswell-White nahm seine Tasse und stellte sie auf seinem Knie ab. Er trug einen Anzug von gediegener Eleganz - graue Wolle und natürlich maßgeschneidert -, und die Bügelfalten der Hose waren messerscharf.
»Ich kann mich an den Prozess nicht entsinnen«, erklärte ich ihm. »Ich habe überhaupt keine deutliche Erinnerung an diese ganze Zeit. Große Teile meiner Kindheit verschwimmen im Nebel, und ich versuche augenblicklich, etwas Klarheit zu schaffen.«
Ich sagte ihm nicht, warum ich mich bemühte, die Vergangenheit wieder einzufangen. Ich vermied das Wort »Verdrängung«, und ich brachte es auch nicht über mich, mehr preiszugeben.
»Ich verstehe«, erklärte Cresswell-White mit einem flüchtigen Lächeln, das so schnell wieder erlosch, wie es aufgetaucht war. Mir erschien das Lächeln voll Selbstironie, und seine nächste Bemerkung verstärkte diesen Eindruck. »Ach, könnten wir alle wie Sie von den Wassern Lethes trinken, Gideon. Ich würde zweifellos nachts besser schlafen. Darf ich Sie überhaupt Gideon nennen? So habe ich immer von Ihnen gedacht, obwohl wir einander nie begegnet sind.«
Das war eine eindeutige Antwort auf die Frage, die mich am heftigsten beschäftigt hatte, und die große Erleichterung, die sich bei mir einstellte, machte mir bewusst, wie quälend meine Ängste gewesen waren.
»Ich habe damals nicht ausgesagt?«, fragte ich. »Beim Prozess? Ich habe nicht gegen Katja Wolff ausgesagt?«
»Lieber Gott, nein. Ich würde einem achtjährigen Kind niemals so etwas zumuten. Warum fragen Sie?«
»Gideon ist von der Polizei vernommen worden, als seine Schwester starb«, erklärte Libby an meiner Stelle. »Er konnte sich an den Prozess nicht erinnern, aber er dachte, seine Aussage hätte vielleicht zur Verurteilung Katja Wolffs geführt.«
»Ach so! Ich verstehe. Und jetzt, da sie wieder auf freiem Fuß ist, möchten Sie gerüstet sein für den Fall -«
»Sie ist frei?«, unterbrach ich.
»Das wussten Sie nicht? Hat keiner Ihrer Eltern Sie davon in Kenntnis gesetzt? Sie bekamen beide Briefe. Katja Wolff ist seit« - er warf einen Blick in einen der Hefter - »seit etwas mehr als einem Monat auf freiem Fuß.«
»Nein, ich hatte keine Ahnung.« Ein plötzliches Pochen erwachte in meinem Schädel, und vor meinen Augen flirrte das bekannte Muster leuchtender Sprenkel, das stets ankündigt, dass das Pochen sich zu vierundzwanzig Stunden gnadenlosen Hämmerns auswachsen wird. Nein, dachte ich. Bitte nicht. Nicht gerade hier, nicht gerade jetzt.
»Vielleicht hielten Ihre Eltern es nicht für nötig, Sie zu unterrichten«, meinte Cresswell-White. »Wenn die Wolff überhaupt vorhat, an jemanden aus dieser Zeit heranzutreten, betrifft das wahrscheinlich eher Ihre Eltern. Oder mich. Oder jemanden, der sie mit seiner Aussage belastet hat.«
Er setzte seine Überlegungen fort, aber ich hörte nichts mehr, weil das Pochen in meinem Kopf immer lauter wurde und das Flirren zu einem grellen Lichtbogen verschmolz. Mein Körper war wie ein angreifendes Heer, und ich, der eigentlich der Kommandeur hätte sein sollen, war das Opfer.
Ich merkte, wie meine Füße nervös zu zappeln begannen, als wollten sie mich schnurstracks aus dem Zimmer befördern. Verzweifelt holte ich Luft, und hatte plötzlich wieder das Bild dieser Tür vor mir, dieser blauen Tür am Ende der Treppe, mit den beiden Schlössern und dem Ring in der Mitte. Ich konnte sie sehen, als stünde ich vor ihr, und ich wollte sie öffnen, aber ich konnte die Hand nicht hochheben.
Libby rief meinen Namen. Das immerhin hörte ich. Ich hob eine Hand und bedeutete ihr, dass ich einen Moment Ruhe brauchte, nur einen Moment, um mich zu erholen.
Wovon?, fragen Sie und neigen sich näher zu mir her, allzeit bereit, nachzuhaken. Wovon wollten Sie sich erholen? Gehen Sie noch einmal zurück, Gideon.
Wohin zurück?
Zu diesem Moment in der Kanzlei von Cresswell-White, zu dem Pochen in Ihrem Kopf. Was löste dieses Pochen aus?
Dieses ganze Gerede über den Prozess, natürlich.
Über den Prozess haben wir auch schon früher gesprochen. Es ist etwas anderes. Was wollen Sie vermeiden?
Gar nichts… Aber Sie lassen sich nicht überzeugen, nicht wahr, Dr. Rose? Ich soll aufschreiben, woran ich mich erinnere, und Sie fragen sich allmählich, wie diese Exkursionen zum Prozess gegen Katja Wolff mich zur Musik zurückführen sollen. Sie warnen mich. Sie weisen darauf hin, dass der menschliche Geist so leicht nicht nachgibt, dass er mit eiserner Beharrlichkeit an seinen schützenden Neurosen festhält, dass er die Fähigkeit zur Verleugnung und Ablenkung besitzt, und diese Expedition in die Kanzlei Cresswell-Whites sehr gut eine Aktion zum Zwecke der Verschiebung sein kann.
Dann muss es eben so sein, Dr. Rose. Ich weiß nicht, wie ich anders an diese Sache herangehen soll.
Gut, sagen Sie. Hat der Besuch bei Cresswell-White noch irgendetwas anderes ausgelöst, abgesehen von der Episode mit den Kopfschmerzen?
Episode, sagen Sie. Ich weiß, dass Sie das Wort bewusst gewählt haben. Aber ich werde den Köder nicht schlucken. Ich werde Ihnen lieber von Sarah-Jane erzählen. Darüber nämlich hat Bertram Cresswell-White mich aufgeklärt: Über die Rolle, die ich im Prozess gegen Katja Wolff nicht gespielt habe, und die Rolle, die SarahJane Beckett spielte.
»Sie lebte immerhin mit Ihrer Familie und Katja Wolff unter einem Dach«, sagte Bertram Cresswell-White, der den obersten Hefter mit dem Schildchen »Die Krone gegen Wolff« zur Hand genommen und begonnen hatte, die darin befindlichen Schriftstücke durchzublättern, wobei er von Zeit zu Zeit, wenn sein Gedächtnis Auffrischung brauchte, ein paar Sätze nachlas. »Sie hatte ausgezeichnete Gelegenheit zu beobachten, was vorging.«
»Und hat sie was gesehen?«, fragte Libby.
Sie hatte ihren Sessel näher zu meinem geschoben und mir die Hand auf den Nacken gelegt, als wüsste sie, wie es um mich stand, obwohl ich kein Wort zu ihr gesagt hatte. Sanft massierte sie meinen Nacken, und ich wäre ihr gern dankbar gewesen. Aber ich bemerkte die Missbilligung Cresswell-Whites über diese ungeeignete Zurschaustellung ihrer Zuneigung zu mir, und verkrampfte mich wie stets, wenn ich den kritischen Blick eines älteren Mannes auf mir weiß, und noch mehr angesichts seines Missvergnügens.
»Sie hat beobachtet, dass die Wolff sich plötzlich morgens übergab. Jeden Morgen, einen ganzen Monat lang, vor dem Tod des Kindes«, sagte er. »Sie wissen, dass sie schwanger war?«
»Ja, das hat mein Vater mir erzählt«, antwortete ich.
»Hm. Sarah-Jane Beckett konnte praktisch zusehen, wie Katja Wolffs Geduld immer brüchiger wurde. Das Kind - Ihre Schwester - holte sie jede Nacht drei-, viermal aus dem Bett. Sie war ständig übermüdet, und dieser Zustand in Verbindung mit der morgendlichen Übelkeit zermürbte sie. Immer häufiger überließ sie das Kind allzu lang sich selbst. Miss Beckett fiel das auf, weil die täglichen Unterrichtsstunden mit Ihnen in einem Raum stattfanden, der im selben Stockwerk lag wie das Kinderzimmer. Schließlich hielt sie es für unumgänglich, Ihre Eltern darauf aufmerksam zu machen, dass die Wolff ihre Pflichten vernachlässigte. Das führte zu einer Auseinandersetzung, die mit der Entlassung der Wolff endete.«
»Fristlos?«, fragte Libby.
Cresswell-White musste erst in seine Unterlagen sehen, um darauf antworten zu können. »Nein«, sagte er dann. »Man gab ihr einen Monat. In Anbetracht der Situation waren Ihre Eltern sehr großzügig, Gideon.«
»Aber Sarah-Jane hat vor Gericht nichts davon gesagt, dass sie beobachtet hätte, wie Katja Wolff meine Schwester misshandelte?«, fragte ich.
Cresswell-White klappte den Hefter zu. »Miss Beckett sagte aus, dass es zwischen Ihren Eltern und der Wolff zu einem Streit gekommen war. Sie sagte ferner aus, dass Sonia manchmal eine ganze Stunde lang in ihrem Bett lag und schrie, ohne dass die Wolff sich um sie kümmerte. Sie berichtete, am fraglichen Abend habe sie gehört, wie die Wolff das Kind badete. Aber sie hatte ihrer Aussage zufolge nie eine direkte körperliche Misshandlung beobachtet.«
»Und jemand anders?«, fragte Libby.
»Auch nicht«, erwiderte der Anwalt.
»Mein Gott«, murmelte ich.
Cresswell-White schien zu wissen, was ich dachte; er legte den Hefter auf den Tisch und begann beinahe beschwörend auf mich einzureden. »Ein Gerichtsverfahren ist wie ein Mosaik, Gideon. Wenn es für das verhandelte Verbrechen keine Augenzeugen gibt - und so war es in diesem Fall -, dann müssen sich die einzelnen Aussagen der Zeugen der Anklage zu einem Muster zusammenfügen, aus dem sich ein Gesamtbild ergibt. Erst das Gesamtbild vermag die Geschworenen von der Schuld des oder der Angeklagten zu überzeugen. So war es in Katja Wolffs Fall.«
»Weil noch andere Zeugen sie belastet haben?«, fragte Libby.
»Ganz recht.«
»Wer?« Meine Stimme war schwach - ich hörte die Schwäche, ich verabscheute sie, und es gelang mir doch nicht, sie aus meinem Ton zu tilgen.
»Die Polizeibeamten, die Katja Wolffs erste und einzige Aussage aufnahmen; der Gerichtspathologe, der die Obduktion durchführte; die Freundin, mit der die Wolff ihrer Behauptung zufolge nur eine Minute telefonierte hatte, während das Kind - Ihre Schwester - im Bad war; Ihre Mutter, Ihr Vater, Ihre Großeltern. Es geht in so einem Prozess weniger darum, einen Einzelnen zu finden, der den Angeklagten überführen kann, als vielmehr das Bild einer Situation zu zeichnen und den Geschworenen damit die Möglichkeit zu geben, ihre eigenen Schlüsse zu ziehen. Jeder hat in diesem Prozess ein Steinchen zum Mosaik beigetragen. So zeigte sich uns am Ende das Bild einer jungen Deutschen, die sich in dem Ruhm sonnte, den sie sich durch die Aufsehen erregende Flucht aus ihrer ostdeutschen Heimat erworben hatte, die dank dem Wohlwollen einer Gruppe Nonnen die Möglichkeit erhielt, nach England auszuwandern, wo allerdings der Ruhm, der ihrem Selbstgefühl so gut getan hatte, rasch verblasste, und die schließlich eine Anstellung als Kinderfrau bei einem behinderten Kind übernahm, schwanger wurde, infolge der Schwangerschaft körperlich geschwächt war, mit dem Leben und ihrer Arbeit nicht mehr zurechtkam, ihre Stellung und daraufhin völlig die Kontrolle über sich verlor.«
»Das klingt aber eher nach Totschlag als nach Mord«, stellte Libby fest.
»Und wäre wahrscheinlich auch so bewertet worden, wäre sie bereit gewesen, eine Aussage zu machen. Aber das lehnte sie ab. Mit einer bemerkenswerten Arroganz, die aber nicht weiter verwunderlich war, wenn man bedenkt, woher das Mädchen kam. Natürlich machte sie dadurch alles noch schlimmer; sie weigerte sich ja nicht nur, mit der Polizei zu sprechen - nach dieser ersten Aussage, die sie gemacht hatte -, sondern sogar mit ihrem Verteidiger.«
»Aber warum hat sie nicht geredet?«, fragte Libby.
»Das kann ich nicht sagen. Ich weiß nur, dass bei der Obduktion am Leichnam des Kindes ältere, bereits verheilte Frakturen festgestellt wurden, für die es keine Erklärung gab, Gideon, und die Tatsache, dass die Wolff es ablehnte, sich irgendwie zu äußern, nährte natürlich den Verdacht, dass sie von diesen alten Verletzungen wusste. Zwar wurden die Geschworenen - wie das damals Vorschrift war - angewiesen, das Schweigen der Angeklagten nicht gegen diese auszulegen, aber Geschworene sind auch nur Menschen. Ganz klar, dass so beharrliches Schweigen einer Angeklagten sie nicht unbeeinflusst lässt.«
»Was ich also vor der Polizei aussagte -«
Er winkte mit einer beschwichtigenden Geste ab. »Ich habe das Protokoll Ihrer Aussage damals gelesen und habe es noch einmal gelesen, als Sie mich angerufen hatten. Es war selbstverständlich Bestandteil der Klageschrift, aber niemals hätte ich allein auf Grund Ihrer Aussage Anklage erhoben.« Er lächelte. »Mein Gott, Sie waren damals acht Jahre alt, Gideon. Ich hatte einen gleichaltrigen Sohn und natürlich meine Erfahrungen mit Jungs dieses Alters. Ich musste die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass Katja Wolff in den Tagen vor dem Tod Ihrer Schwester Sie vielleicht aus irgendeinem Grund ausgeschimpft und bestraft hatte und Sie sich vielleicht etwas ausgedacht hatten, um sich an ihr zu rächen, ohne sich klar zu machen, was Ihre Aussage bei der Polizei bedeuten würde.«
»Da hast du's, Gideon«, sagte Libby.
»Sie haben keinen Grund, sich an Katja Wolffs Schicksal schuldig zu fühlen«, sagte Cresswell-White. »Sie hat sich selbst weit mehr geschadet, als Sie ihr.«
War es also Rache, oder war es wirklich Erinnerung, Dr. Rose? Und wenn es Rache war - wofür? Soweit ich mich entsinnen kann, war Raphael der Einzige, der mich je bestrafte, und dann stets damit, dass er mich dazu verdonnerte, mir ein Musikstück anzuhören, das ich nicht gut genug gespielt hatte, und das war ja eigentlich keine richtige Strafe.
War das Erzherzog-Trio eines der Stücke, die Sie sich anhören mussten?
Ich kann mich nicht erinnern. Aber andere Stücke habe ich noch im Kopf: Lalo, Kompositionen von Saint-Saéns und Bruch.
Und haben Sie diese anderen Stücke schließlich gemeistert?, fragen Sie. Konnten Sie sie spielen, nachdem Sie sie sich angehört hatten?
Selbstverständlich. Ja. Ich habe sie alle gespielt.
Aber nicht das Erzherzog-Trio?
Ich habe das Stück nie gemocht.
Wollen wir darüber sprechen?
Worüber denn? Das Erzherzog-Trio gibt es nun mal. Ich habe es nie gut gespielt. Jetzt kann ich nicht einmal mehr das Instrument spielen. Und im Moment sieht es nicht so aus, als würde ich je wieder spielen. Hat also mein Vater Recht? Ist das hier nur Zeitverschwendung? Stecke ich lediglich in einer Nervenkrise, die mir allen Mut geraubt hat und mich veranlasst, anderswo nach einer Lösung zu suchen? Sie wissen, was ich meine: Das Problem auf die Schultern eines anderen abwälzen, damit ich mich nicht selbst damit befassen muss. Reichen wir es doch an die Psychotherapeutin weiter, mal sehen, was sie damit anfängt.
Glauben Sie das, Gideon?
Ich weiß nicht, was ich glauben soll.
Nach dem Gespräch mit Cresswell-White fuhren wir nach Hause. Ich merkte, dass Libby glaubte, alle meine Probleme wären gelöst, weil der Anwalt mir die Absolution erteilt hatte. In unbeschwertem Ton teilte sie mir mit, wie sie »Rock, diesem Fiesling, einheizen« würde, sobald er das nächste Mal ihren Lohn einbehielte, und wenn sie die Hand nicht am Schalthebel brauchte, ließ sie sie auf meinem Knie liegen. Sie hatte sich angeboten zu fahren, und ich hatte das Angebot gern angenommen. Cresswell-Whites Absolution hatte die Kopfschmerzen nicht lindern können, und in diesem Zustand gehörte ich nicht hinters Steuer.
Am Chalcot Square angekommen, parkte Libby den Wagen und wandte sich mir zu. »Hey«, sagte sie, »du weißt jetzt, was du wissen wolltest, Gideon. Keine Zweifel mehr. Komm, das müssen wir feiern.«
Sie neigte sich zu mir, zog meinen Kopf zu sich her und berührte mit ihren Lippen meinen Mund. Ich spürte ihre Zunge auf meinen Lippen und öffnete sie und ließ mich von ihr küssen.
Warum?, fragen Sie.
Weil ich glauben wollte, was sie gesagt hatte: Dass ich jetzt Gewissheit hätte.
War das der einzige Grund?
Nein. Natürlich nicht. Ich wollte normal sein.
Und?
Na schön, ich brachte so etwas wie eine Reaktion zu Stande. Es sprengte mir zwar fast den Schädel, aber ich zog Libby an mich und schob meine Finger in ihre Haare. So blieben wir, während wir mit unseren Zungen so eine Art Balztanz aufführten. Ich schmeckte den Kaffee, den sie bei Cresswell-White getrunken hatte, und sog das Aroma tief in mich ein, weil ich hoffte, dass der plötzliche Durst, den ich verspürte, zu dem Hunger führen würde, den ich seit Jahren nicht mehr erlebt hatte. Ich wünschte mir diesen Hunger, Dr. Rose. Ich meinte, ihn haben zu müssen, um zu wissen, dass ich lebendig war.
Eine Hand immer noch in ihrem Haar, drückte ich sie an mich und küsste ihr Gesicht. Ich ließ meine Hand zu ihrer Brust hinuntergleiten und spürte durch ihr T-Shirt hindurch, wie die Brustwarze hart wurde und sich aufrichtete. Ich streichelte und drückte sie, um ihr Schmerz und Lust zu bereiten, und sie stöhnte. Libby kletterte von ihrem Sitz zu mir herüber und setzte sich rittlings auf meinen Schoß. Sie küsste mich, sie strich mit beiden Händen über meine Brust, sie leckte mir den Hals. Sie nannte mich Süßer und Schatz und Gid und knöpfte mein Hemd auf, während ich drückte und streichelte. Ihr Mund lag auf meiner Brust, und ihre Lippen wanderten abwärts, und ich wünschte mir so sehr, zu fühlen, darum stöhnte ich laut auf und drückte mein Gesicht in ihr Haar.
Da nahm ich den Duft wahr: frische Minze, von ihrem Shampoo wahrscheinlich. Ich war auf einmal nicht mehr im Auto. Ich war hinten im Garten unseres Hauses in Kensington. Es war Sommer, und es war Nacht. Ich habe ein paar Minzblätter gepflückt und rolle sie zwischen meinen Händen, um den Duft freizusetzen. Ich höre die Geräusche, bevor ich die Menschen sehe. Es klingt wie das Schmatzen zufriedener Esser. Genau dafür hielt ich es, bis ich die beiden in der Dunkelheit am Ende des Gartens erkennen kann. Ein heller Schimmer, das Blond ihres Haares, zieht meine Aufmerksamkeit auf sich.
Sie stehen an den Backsteinschuppen gelehnt, in dem die Gartengeräte untergebracht sind. Er steht mit dem Rücken zu mir. Ihre Hände umfassen seinen Kopf. Eines ihrer Beine ist erhoben und umschlingt seine Hüfte, während sie sich in rhythmischen Zuckungen bewegen. Sie hat den Kopf zurückgeworfen, und er küsst ihren Hals. Ich kann nicht erkennen, wer er ist, aber sie erkenne ich. Es ist Katja, die Kinderfrau meiner kleinen Schwester. Er ist einer der Männer aus dem Haus.
Nicht ein anderer Bekannter von Katja?, fragen Sie. Nicht vielleicht ein Fremder von außerhalb?
Wer denn? Katja hat keine Bekannten, Dr. Rose. Sie verkehrt mit niemandem außer der Nonne aus dem Kloster und einer jungen Frau, die sie hin und wieder besucht. Sie heißt Katie. Und das da draußen in der Dunkelheit ist nicht Katie. Ich erinnere mich nämlich an Katie, großer Gott, ich erinnere mich tatsächlich! Sie ist dick und witzig, und sie kleidet sich fantasievoll. Sie steht in der Küche und erzählt, während Katja Sonia füttert, und sagt, Katjas Flucht aus Ostberlin wäre eine Metapher für einen Organismus, nur sagte sie nicht Organismus, sondern Orgasmus, sowieso das Einzige, wovon sie ständig spricht.
Gideon, sagen Sie mir, wer war der Mann? Sehen Sie sich seine Figur an, sehen Sie sich sein Haar an.
Ihre Hände umschließen seinen Kopf. Und er ist vornübergebeugt. Ich kann sein Haar nicht erkennen.
Sie können nicht? Oder wollen Sie nicht? Wie ist es, Gideon?, können Sie nicht oder wollen Sie nicht?
Ich kann nicht. Ich kann nicht.
Haben Sie den Untermieter gesehen? Ihren Vater? Ihren Großvater? Raphael Robson? Wer ist der Mann, Gideon?
Ich weiß es nicht!
Dann zog Libby mich noch fester an sich, und griff mit beiden Händen zu, um das zu tun, was jede normale Frau tut, wenn sie erregt ist und ihre Erregung teilen möchte. Sie lachte, so ein atemloses Lachen, und sagte: »Ich kann nicht glauben, dass wir das in deinem Auto tun.« Dann schob sie meinen Gürtel aus der Schließe, öffnete ihn, öffnete die Knöpfe am Bund meiner Hose, griff zum Reißverschluss und hob ihren Mund wieder zu meinem.
Und ich empfand nichts, Dr. Rose, keinen Hunger, keinen Durst, keine Hitze, kein Verlangen. Keine Wallung des Bluts, die meine Lust geweckt hätte.
Ich packte Libbys Hände. Ich musste keine Ausrede erfinden, ich mußte überhaupt nichts sagen. Sie ist zwar Amerikanerin - ein wenig laut manchmal, ein wenig ordinär, eine Spur zu locker, zu umgänglich und zu freimütig -, aber sie ist nicht dumm.
Sie wandte sich von mir ab und setzte sich wieder in ihren Sitz.
»Es liegt an mir, stimmt's?«, sagte sie. »Ich bin dir zu fett.«
»Sei nicht blöd.«
»Nenn mich nicht blöd.«
»Dann benimm dich nicht so.«
Sie drehte sich zum Fenster. Die Scheibe war beschlagen. Von draußen fiel gedämpftes Licht auf ihre Wange. Eine runde Wange, sanft gerötet wie ein reifender Pfirsich. In meiner Verzweiflung - über mich, über sie, über uns beide - sprach ich weiter. »Du bist völlig in Ordnung, Libby, hundert Prozent. Du bist perfekt. An dir liegt es nicht.«
»Woran dann? An Rock? Genau, es liegt an Rock! Daran, dass wir noch verheiratet sind. Daran, dass du weißt, was er mit mir macht, stimmt's? Du kannst es dir denken.«
Ich wusste nicht, wovon sie sprach, und wollte es auch nicht wissen. »Libby«, sagte ich, »wenn du bis jetzt nicht gemerkt hast, dass bei mir etwas nicht stimmt - dass ich eine schwere…«
Sie sprang aus dem Wagen. Sie riss die Tür auf und knallte sie zu. Sie tat etwas, was sie nie tut. Sie brüllte. »So ein Quatsch! Was, zum Teufel, soll bei dir nicht stimmen, Gideon? Bei dir stimmt alles, verdammt noch mal! Hast du mich verstanden?«
Ich stieg ebenfalls aus, und über die Motorhaube des Wagens hinweg starrten wir einander an. Ich sagte: »Du weißt doch, dass du dir da etwas vormachst.«
»Ich weiß, was ich vor mir sehe. Und vor mir sehe ich dich.«
»Du hast erlebt, wie ich spielen wollte. Du hast in deiner Wohnung gesessen und mich gehört. Du weißt Bescheid.«
»Ist das denn alles, worum es geht, Gid? Diese Scheißgeige?«
Sie schlug mit ihrer Faust auf die Motorhaube, dass ich zusammenfuhr. »Du bist doch nicht die Geige«, schrie sie. »Geige spielen ist etwas, was du tust. Aber doch nicht das, was du bist!«
»Und wenn ich nicht spielen kann? Was geschieht dann?«
»Dann lebst du, Herrgott noch mal! Du fängst an zu leben. Ist das nicht eine Erleuchtung?«
»Du verstehst es nicht.«
»Ich verstehe eine Menge, mein Lieber. Ich verstehe, dass du dich total mit deiner Geige identifizierst. Du hast so viele Jahre immer nur auf dem verdammten Ding rumgeschrubbt, dass dir der Rest deiner Persönlichkeit verloren gegangen ist. Warum tust du das? Was willst du damit beweisen? Meinst du, dein Dad wird dich endlich lieben, wie du's verdienst, wenn du dir die Finger blutig geigst?« Mit einer heftigen Bewegung wandte sie sich ab.
»Wieso kümmere ich mich überhaupt, hm, Gideon?«
Sie eilte mit großen Schritten zum Haus. Ich folgte ihr, und erst da sah ich, dass die Haustür offen war und jemand vorn auf der Treppe stand, wahrscheinlich schon dort stand, seit Libby den Wagen auf dem Platz angehalten hatte. Sie bemerkte ihn im gleichen Moment wie ich, und zum ersten Mal nahm ich in ihrem Gesicht einen Ausdruck wahr, der mir verriet, dass ihre Abneigung gegen meinen Vater wahrscheinlich ebenso stark, wenn nicht stärker war, als seine gegen sie.
»Vielleicht wäre es an der Zeit, dass Sie aufhören, sich zu kümmern«, sagte mein Vater. Sein Ton war durchaus freundlich, aber sein Blick war eisig.