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»Eine reizende junge Dame«, sagte mein Vater. »Ist es ihre Gewohnheit, auf offener Straße herumzukeifen wie ein Fischweib, oder war das heute Abend eine Sondervorstellung?«
»Sie war erregt.«
»Das war offenkundig. Wie übrigens auch ihre Einstellung zu deiner Arbeit. Darüber solltest du vielleicht einmal nachdenken, wenn du vorhast, weiter mit ihr zu verkehren.«
Ich wollte mich mit ihm nicht über Libby unterhalten. Er hat von Anfang an keinen Zweifel daran gelassen, was er von ihr hält. Es wäre sinnlose Energieverschwendung, eine Änderung seiner Meinung erreichen zu wollen.
Wir waren in der Küche, wohin wir uns begeben hatten, nachdem Libby uns auf der Treppe stehen lassen hatte. »Aus dem Weg, Richard«, hatte sie gesagt und klirrend die Pforte zu ihrer Treppe aufgestoßen. Sie war hinuntergerannt in ihre Wohnung, aus der jetzt zur Untermalung ihres inneren Aufruhrs donnernde Popmusik erklang.
»Wir waren bei Bertram Cresswell-White«, berichtete ich meinem Vater. »Erinnerst du dich an ihn?«
»Ich habe mich vorhin in deinem Garten umgesehen«, antwortete er, mit einer Kopfbewegung zum rückwärtigen Teil des Hauses. »Das Unkraut nimmt langsam Überhand, Gideon. Wenn du es nicht vernichtest, wird es bald die wenigen anderen Pflanzen, die da sind, ersticken. Du kannst doch einen Filipino engagieren, wenn du zur Gartenarbeit keine Lust hast. Hast du dir das mal überlegt?«
Aus Libbys Wohnung schallte immer noch laute Musik. Sie hatte ihre Fenster aufgemacht, und Teile des Textes waren zu verstehen. How can your man… loves y ou… slow down, bay-bee…
Ich sagte: »Dad, ich habe dich etwas -«
»Ich habe dir übrigens zwei Kamelien mitgebracht.« Er ging zum Fenster, das in den Garten führte.
… let him know… he'splayingaround!
Draußen war es dunkel, es war nichts zu sehen außer unseren Spiegelbildern im dunklen Glas. Das meines Vaters war klar; das meine geisterte umher, entweder unter dem Eindruck der Stimmung oder infolge meiner Unfähigkeit, klar in Erscheinung zu treten.
»Ich habe sie rechts und links von der Treppe eingepflanzt«, fuhr mein Vater fort. »Die Blüten sind noch nicht ganz das, was mir vorschwebt, aber es wird schon noch werden.«
»Dad, ich habe dich gefragt -«
»Ich habe aus den beiden Töpfen das Unkraut herausgezogen, aber um den Rest des Gartens musst du dich selbst kümmern.«
»Dad!«
… a chance to feel… free to… the feeling grab you, bay-bee .
»Du kannst ja deine amerikanische Freundin fragen, ob sie Lust hat, sich zur Abwechslung einmal nützlich zu machen, anstatt dich auf der Straße zu beschimpfen oder mit ihrer eigenwilligen Musikauswahl zu unterhalten.«
»Verdammt noch mal, Dad! Ich habe dich etwas gefragt.«
Er wandte sich vom Fenster ab. »Ich habe die Frage gehört. Und -«
… love him. Love him, baby. Love him.
»- wenn ich nicht mit dem Ohrenschmaus konkurrieren müsste, den deine kleine Amerikanerin uns hier serviert, würde ich sie vielleicht sogar beantworten.«
»Dann ignorier doch die Musik!«, rief ich. »Ignorier Libby. Du bist doch sonst Meister darin, alles zu ignorieren, womit du dich nicht befassen willst.«
Die Musik brach plötzlich ab, als wäre ich gehört worden. Das Schweigen, das meiner Frage folgte, schuf ein Vakuum, und ich wartete gespannt, wie es gefüllt werden würde. Einen Moment später flog Libbys Wohnungstür krachend zu. Dann sprang draußen donnernd die Suzuki an und heulte auf, als Libby wütend Vollgas gab. Sie brauste davon, und das Geräusch des Motors verklang in der Ferne.
Mein Vater stand mit verschränkten Armen und sah mich an.
Wir hatten gefährlichen Boden betreten, und ich spürte die Gefahr wie knisternde Hochspannung zwischen uns.
Doch er sagte ganz ruhig: »Ja. Ja, da hast du wohl Recht. Ich ignoriere alles Unerfreuliche, um mich im Alltagsgeschäft des Lebens nicht stören zu lassen.«
Ich ging auf die Anspielung, die in seinen Worten steckte, nicht ein, sondern sagte langsam, als spräche ich mit jemandem, der kaum Englisch verstand: »Erinnerst du dich an Cresswell-White?«
Seufzend trat er vom Fenster weg und ging ins Musikzimmer. Ich folgte ihm. Er setzte sich vor der Stereoanlage und den CD-Ständern nieder. Ich blieb an der Tür stehen.
»Was willst du wissen?«, fragte er.
Ich nahm die Frage als Bestätigung und sagte: »Ich erinnerte mich plötzlich, Katja eines Abends im Garten gesehen zu haben. Es war dunkel. Sie war dort mit einem Mann. Die beiden -« Ich zuckte die Achseln, spürte die Hitze in meinem Gesicht, war mir bewusst, wie kindisch diese Reaktion war, ohne etwas dagegen tun zu können. »Sie waren zusammen. Intim. Ich weiß nicht mehr, wer er war. Ich glaube, ich konnte ihn nicht richtig erkennen.«
»Was soll das?«
»Das weißt du doch. Wir haben das alles besprochen. Du weißt, was sie - Dr. Rose - von mir erwartet.«
»Ach, und diese besondere Erinnerung, soll die etwa in irgendeiner Weise mit deiner Fähigkeit zu musizieren zu tun haben?«
»Ich versuche einfach, mir so viel wie möglich ins Gedächtnis zu rufen. Gleichgültig, in welcher Chronologie. Wann immer es geht. Eine Erinnerung scheint den nächsten Anstoß zu geben, und wenn ich ausreichend viele von ihnen miteinander verknüpfe, gelingt es mir vielleicht, die Ursache meiner Schwierigkeiten zu spielen zu entdecken.«
»Schwierigkeiten zu spielen? Du spielst doch überhaupt nicht.«
»Warum antwortest du mir nicht einfach? Warum hilfst du mir nicht? Sag mir nur, mit wem Katja -«
»Du glaubst, dass ich das weiß?«, fragte er scharf. »Oder fragst du in Wirklichkeit, ob ich der Mann bin, der mit Katja Wolff im Garten war? Meine Beziehung zu Jill weist ja eindeutig auf eine Vorliebe für jüngere Frauen hin, nicht wahr? Und wenn ich diese Vorliebe jetzt habe, warum nicht auch schon damals?«
»Wirst du mir nun antworten?«
»Ich darf dir versichern, dass diese besondere Vorliebe von mir neueren Datums ist und sich einzig auf Jill bezieht.«
»Du warst also nicht der Mann im Garten. Der Mann, der mit Katja Wolff zusammen war.«
»Nein.«
Ich musterte ihn aufmerksam. Sagte er die Wahrheit? Ich musste an das Foto von Katja und meiner Schwester denken, an das Lächeln, mit dem Katja die Person angesehen hatte, die die Aufnahme gemacht hatte, und ich fragte mich, was dieses Lächeln zu bedeuten gehabt hatte.
Mit einer müden Geste zu den CD-Ständern neben seinem Sessel deutend, sagte er: »Ich habe mir deine CDs angesehen, während ich auf dich gewartet habe, Gideon.«
Ich schwieg, misstrauisch über den unvermittelten Themawechsel.
»Du hast eine beachtliche Sammlung. Wie viele sind das? Dreihundert? Vierhundert?«
Ich sagte noch immer nichts.
»Eine Anzahl von Stücken mehrfach, von verschiedenen Musikern interpretiert.«
»Du willst doch sicher auf etwas Bestimmtes hinaus«, sagte ich endlich.
»Aber du hast nicht eine Aufnahme des Erherzog-Trios. Wie kommt das? Das interessiert mich wirklich.«
»Ich habe dieses Stück nie geliebt.«
»Warum wolltest du es dann in der Wigmore Hall spielen?«
»Beth hatte den Vorschlag gemacht. Und Sherill fand ihn gut. Ich hatte eigentlich nichts dagegen -«
»- ein Stück zu spielen, das du nicht liebst?«, fiel er mir ins Wort. »Was, zum Teufel, hast du dir dabei gedacht? Den Namen hast doch du, Gideon, nicht Beth und nicht Sherill. Du bestimmst das Programm eines Konzerts, nicht sie.«
»Ich will jetzt nicht über das Konzert sprechen.«
»Das weiß ich. O ja, das weiß ich nur zu gut. Du hattest von Anfang an keine Lust, über das Konzert zu sprechen. Tatsache ist, dass du nur zu dieser verwünschten Psychiaterin gehst, weil du nicht über das Konzert sprechen willst.«
»Das stimmt nicht.«
»Joanne wurde heute aus Philadelphia angerufen. Die wollten wissen, ob du dein Engagement dort einhalten kannst. Die Gerüchte sind mittlerweile bis nach Amerika gedrungen, Gideon. Was meinst du, wie lange du dir die Welt noch vom Leib halten kannst?«
»Ich bemühe mich, dieser Sache auf den Grund zu gehen. Und ich weiß keinen anderen Weg.«
»>Ich bemühe mich, dieser Sache auf den Grund zu gehen<«, spottete er. »Soll ich dir sagen, was du tust? Du gehst den Weg der Feigheit, sonst nichts, und das hätte ich wahrhaftig nicht für möglich gehalten. Ich danke Gott, dass dein Großvater diesen Tag nicht mehr erleben musste.«
»Dankst du ihm um deinet- oder um meinetwillen?«
Er holte einmal tief und langsam Luft. Eine Hand ballte sich zur Faust, die andere schloss sich um sie. »Was, bitte, soll das heißen?«
Ich war beinahe schon zu weit gegangen. Wir hatten eine Grenze erreicht. Jeder Schritt weiter konnte irreparablen Schaden anrichten. Was hätte es gebracht, wenn ich es weitergetrieben hätte? Was wäre gewesen, wenn ich meinen Vater gezwungen hätte, den Spiegel statt auf mich auf seine eigene Kindheit, auf sein Leben als Erwachsener zu richten, auf alles, was er getan und versucht hatte, um von dem Mann, der ihn adoptiert hatte, akzeptiert zu werden?
Krüppel, lauter Krüppel, hatte Großvater den Sohn angeschrien, der drei von ihnen gezeugt hatte. Denn auch ich bin ein Krüppel, bin immer einer gewesen, Dr. Rose. Ein seelischer Krüppel.
Ich sagte: »Cresswell-White hat erzählt, alle hätten gegen Katja ausgesagt. Alle, die zum Haus gehörten.«
Mein Vater fixierte mich mit zusammengekniffenen Augen, bevor er etwas erwiderte. Ich konnte nicht erkennen, ob sein Zögern mit meinen Worten zu tun hatte oder mit meiner Weigerung, seine Frage zu beantworten. »Das sollte dich bei einem Mordprozess kaum überraschen«, bemerkte er schließlich.
»Er sagte mir, dass ich nicht als Zeuge gehört wurde.«
»Richtig, ja.«
»Aber ich erinnere mich, dass ich von der Polizei vernommen wurde. Ich erinnere mich, dass du und Mutter deswegen miteinander gestritten habt. Ich weiß auch noch, dass man mir eine Reihe von Fragen über die Beziehung zwischen Sarah-Jane Beckett und James, dem Untermieter, stellte.«
»Pitchford.« Die Stimme meines Vaters war dumpfer geworden, klang müde. »Er hieß James Pitchford.«
»Pitchford. Genau. Ja. James Pitchford.« Ich hatte die ganze Zeit gestanden, jetzt ergriff ich einen Stuhl und trug ihn zu meinem Vater hinüber. Ich stellte ihn vor ihm ab und setzte mich.
»Vor Gericht sagte jemand, du und Mutter hättet in den Tagen vor - vor Sonias Tod mit Katja Streit gehabt.«
»Sie war schwanger, Gideon. Sie war nachlässig geworden. Die Betreuung deiner Schwester wäre schon unter normalen Umständen für jeden schwierig gewesen und -«
»Warum?«
»Warum?« Er rieb sich die Stirn, als wollte er sein Gedächtnis anregen. Als er die Hand sinken ließ, sah er nicht mich an, sondern blickte zur Zimmerdecke hinauf, doch ich hatte, als er den Kopf hob, Zeit genug zu erkennen, dass seine Augen gerötet waren. Es gab mir einen Stich, aber ich hinderte ihn nicht fortzufahren. »Gideon, ich habe dir doch schon eine ganze Litanei der Leiden deiner Schwester heruntergebetet. Das Downsyndrom war nur die Spitze des Eisbergs. In den zwei Jahren ihres Lebens musste sie immer wieder ins Krankenhaus, und wenn sie zu Hause war, brauchte sie jemanden, der sich ständig um sie kümmerte. Dafür hatten wir Katja engagiert.«
»Warum habt ihr nicht eine gelernte Kinderpflegerin eingestellt?«
Er lachte bitter. »Dazu hatten wir nicht das Geld.«
»Aber der Staat -«
»Staatliche Unterstützung? Undenkbar.«
Bei diesem Ausruf hörte ich plötzlich meinen Großvater, der bei Tisch entrüstet brüllte: »Wir werden uns doch nicht dazu erniedrigen, um Almosen zu bitten, gottverdammmich! Ein richtiger Mann sorgt selbst für seine Familie, und wenn er das nicht kann, sollte er keine Kinder in die Welt setzen. Hol ihn gar nicht erst raus aus deiner gottverdammten Hose, wenn du hinterher mit den Konsequenzen nicht fertig wirst, Dick.«
»Und selbst wenn wir Unterstützung beantragt hätten«, fügte mein Vater hinzu, »was meinst du wohl, wie weit wir gekommen wären, wenn das Sozialamt oder wer immer herausbekommen hätte, was wir allein für Raphael und Sarah-Jane ausgaben? Wir hätten Einsparungen machen können. Anfangs entschieden wir uns, das nicht zu tun.«
»Wie war das mit dem Streit mit Katja?«
»Wie soll es schon gewesen sein? Wir erfuhren von Sarah-Jane, dass Katja nachlässig geworden war. Wir haben mit ihr gesprochen, und bei dem Gespräch kam heraus, dass ihr jeden Morgen übel war. Da konnten wir uns natürlich denken, was los war. Wir haben es ihr auf den Kopf zugesagt, und sie hat nicht einmal versucht, es zu bestreiten.«
»Woraufhin ihr sie hinausgeworfen habt.«
»Was hätten wir sonst tun sollen?«
»Wer hatte sie geschwängert?«
»Das sagte sie nicht. Und wir haben sie nicht entlassen, weil sie es nicht sagen wollte, damit das klar ist. Das war nicht das Entscheidende. Wir haben sie entlassen, weil sie nicht fähig war, sich angemessen um deine Schwester zu kümmern. Im Übrigen gab es auch noch andere Probleme, die wir bisher übersehen hatten, weil sie Sonia gern zu haben schien und wir darüber froh waren.«
»Was für Probleme?«
»Nun, ihre Kleidung zum Beispiel, die immer unpassend war. Wir hatten sie gebeten, entweder Tracht zu tragen oder einfach Rock und Bluse. Aber es fiel ihr nicht ein, sich nach unseren Wünschen zu richten. Die Kleidung sei Ausdruck ihrer Persönlichkeit, erklärte sie uns. Dann ihre Bekannten! Sie besuchten sie zu allen Tages- und Nachtzeiten, obwohl wir sie gebeten hatten, die Besuche einzuschränken.«
»Was waren das für Leute?«
»Ich kann mich nicht an sie erinnern. Guter Gott, das ist mehr als zwanzig Jahre her.«
»Katie?«
»Wie bitte?«
»Eine Frau namens Katie? Sie war dick und trug teure Klamotten. Ich erinnere mich an sie.«
»Vielleicht war eine Katie dabei. Ich weiß es nicht. Sie kamen aus dem Kloster, saßen in der Küche herum, tranken Kaffee, rauchten und schwatzten. Und wenn Katja an ihren freien Abenden mit ihnen ausging, kam sie mehr als einmal angetrunken nach Hause und verschlief am nächsten Morgen. Mit anderen Worten, es gab bereits Probleme mit ihr, bevor ihre Schwangerschaft alles durcheinander brachte, Gideon. Die Schwangerschaft - und das Unwohlsein - war lediglich der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.«
»Aber du und Mutter habt mit Katja gestritten, als ihr sie gefeuert habt.«
Er stand auf und ging quer durch das Zimmer, wo er stehen blieb und zu meinem Geigenkasten hinuntersah. Ich hatte ihn seit Tagen nicht mehr geöffnet, weil ich mich nicht vom Anblick der Guarneri quälen lassen wollte.
»Sie wollte die Anstellung natürlich behalten. Sie war schwanger und konnte nicht damit rechnen, dass sie so schnell etwas anderes finden würde. Darum fing sie an, mit uns zu debattieren. Sie wollte, dass wir sie behalten.«
»Warum hat sie nicht abgetrieben? Auch damals gab es schon Ärzte - Kliniken…«
»Das war für sie keine Alternative. Warum, kann ich dir nicht sagen.«
Er kauerte nieder und öffnete die Metallschließen des Geigenkastens. Er klappte den Deckel auf. Die Guarneri schimmerte im Licht, und der goldene Glanz des Holzes schien mir wie eine Anklage, auf die ich nichts zu entgegnen hatte. »Es kam zum Streit. Zu einem Streit zwischen uns dreien. Und als Sonia das nächste Mal Schwierigkeiten machte - am folgenden Tag -, da erledigte Katja das Problem ein für alle Mal.« Er hob die Geige aus dem Kasten und nahm den Bogen aus seiner Halterung. »Jetzt weißt du die Wahrheit«, sagte er. Seine Stimme war nicht unfreundlich, und die Augen waren stärker gerötet als zuvor. »Spielst du für mich, mein Junge?«
Ich hätte es wirklich gern getan, Dr. Rose. Aber ich wusste, dass in mir nichts war, nichts von dem, was früher die Musik aus meiner Seele durch meinen Körper in meine Arme und Finger getrieben hat. Das ist mein Fluch, auch jetzt noch.
Ich sagte: »Ich erinnere mich an Menschen im Haus in der Nacht, als - als Sonia… Ich erinnere mich an die Stimmen und Schritte vieler Menschen und dass Mutter nach dir rief.«
»Wir waren in Panik. Alle. Es waren Sanitäter da. Feuerwehrleute. Deine Großeltern. Pitchford. Raphael.«
»Raphael war auch da?«
»Ja.«
»Wieso? Was hatte er bei uns zu tun?«
»Ich weiß es nicht mehr. Vielleicht telefonierte er mit der Juilliard School. Er versuchte seit Monaten, uns davon zu überzeugen, dass es für dich irgendwie möglich sein müsste, dort Unterricht zu bekommen. Er war ganz versessen darauf, mehr noch als du.«
»Das passierte also alles zu der Zeit, als ich die Einladung nach New York bekam?«
Mein Vater, der mir die ganze Zeit die Guarneri dargeboten hatte, ließ die Arme sinken. Die Geige hing in der einen Hand, der Bogen in der anderen, beide verwaist wegen meines Versagens.
»Wohin führt uns das, Gideon?«, sagte er. »Was, zum Teufel, hat das alles mit deinem Spiel zu tun? Ich bemühe mich weiß Gott, dir zu helfen, aber du gibst mir absolut keine Möglichkeit, mir ein Urteil zu bilden.«
»Ein Urteil worüber?«
»Woher soll ich wissen, ob es Fortschritte gibt? Woher weißt du es?«
Darauf konnte ich nicht antworten, Dr. Rose. Denn die Wahrheit ist das, was er fürchtet und wovor ich Angst habe: Ich kann nicht erkennen, ob diese Prozedur Sinn hat, ob der Weg, den ich eingeschlagen habe, wirklich der ist, der mich in das Leben zurückführen wird, das ich einmal kannte und das mir so viel bedeutete.
Ich sagte: »An dem Abend, als es geschah - da war ich in meinem Zimmer. Daran erinnere ich mich. Ich erinnere mich an das Rufen und Schreien und an die Sanitäter - mehr an ihre Stimmen als an einzelne Personen -, und ich entsinne mich jetzt, dass Sarah-Jane, die mit mir in meinem Zimmer war, an der Tür stand und lauschte und dann sagte, dass sie nun doch nicht weggehen würde. Aber ich erinnere mich nicht, vor Sonias Tod davon gehört zu haben, dass sie gehen wollte.«
Die rechte Hand meines Vaters, die um den Hals der Guarneri lag, verkrampfte sich. Nein, das war natürlich nicht die Reaktion, die er sich erhofft hatte, als er das Instrument aus dem Kasten genommen hatte.
»Eine Geige wie diese muss gespielt werden«, sagte er. »Und sie muss ordentlich aufbewahrt werden. Sieh dir den Bogen an. Sieh dir den Zustand des Bezugs an. Wann hast du das letzte Mal einen Bogen weggelegt, ohne ihn zu lockern? Oder denkst du an solche Kleinigkeiten gar nicht mehr, seit du deine ganze Energie auf die Erforschung der Vergangenheit konzentrierst?«
Ich dachte an den Tag, an dem ich zu spielen versucht und an dem Libby mich gehört hatte, an dem mir zur Gewissheit geworden war, was ich bis dahin nur geahnt hatte: dass mir die Musik genommen war, für immer.
Mein Vater sagte: »So was hast du sonst nie getan. Nie hast du diese Geige einfach auf dem Fußboden liegen lassen. Sie wurde immer so aufbewahrt, dass sie weder Hitze noch Kälte ausgesetzt war, nie in der Nähe eines Heizkörpers oder eines offenen Fensters.«
»Wenn Sarah-Jane vor diesem schrecklichen Abend eigentlich gehen wollte, warum ist sie dann doch nicht gegangen?«, fragte ich.
»Die Saiten sind seit dem Abend in der Wigmore Hall nicht mehr gereinigt worden, richtig? Ich kann mich nicht erinnern, dass du irgendwann einmal nach einem Konzert vergessen hast, die Saiten zu reinigen, Gideon.«
»Es hat kein Konzert stattgefunden. Ich habe nicht gespielt.«
»Nein. Und du hast auch seither nicht einen Ton gespielt. Du hast überhaupt nicht daran gedacht zu spielen. Du hast nicht den Mut gefunden, zu -«
»Sag mir, wie das mit Sarah-Jane Beckett war.« »Verdammt noch mal, es geht hier nicht um Sarah-Jane Beckett.«
»Warum antwortest du mir dann nicht?«
»Weil es nichts zu sagen gibt. Sie wurde gefeuert. Okay? Auch Sarah Jane Beckett wurde gefeuert.«
Diese Antwort hatte ich nicht erwartet. Ich hatte gedacht, er würde mir sagen, dass sie sich verlobt oder eine bessere Stellung gefunden oder beschlossen hatte, beruflich andere Wege zu gehen. Aber dass auch sie, genau wie Katja Wolff, entlassen worden war - diese Möglichkeit hatte ich überhaupt nicht in Betracht gezogen.
»Wir mussten versuchen zu sparen«, sagte mein Vater. »Wir konnten es uns nicht leisten, Sarah-Jane Beckett, Raphael Robson und eine Kinderfrau für Sonia zu bezahlen. Deshalb hatten wir Sarah-Jane gekündigt, mit einer Frist von zwei Monaten.«
»Wann?«
»Kurz bevor wir uns klarmachten, dass wir Katja Wolff würden entlassen müssen.«
»Und als dann Sonia starb und Katja weg war -«
»- konnte Sarah-Jane bleiben.« Er drehte sich um und legte die Guarneri wieder in den Kasten. Seine Bewegungen waren langsam; durch die Skoliose behindert, wirkte er wie ein Greis.
Ich sagte: »Dann könnte ja auch Sarah-Jane -«
»Sie war mit Pitchford zusammen, als deine Schwester getötet wurde, Gideon. Sie schwor einen Eid darauf, und Pitchford bestätigte es.«
Mein Vater richtete sich auf und wandte sich mir wieder zu. Er sah todmüde aus. Es bereitete mir tiefes Unbehagen und Schuldgefühle, ihn zu zwingen, Dingen ins Auge zu sehen, die er vor Jahren zusammen mit meiner Schwester begraben hatte. Aber ich musste weitermachen. Zum ersten Mal seit der Episode in der Wigmore Hall - ja, ich gebrauche dieses Wort so bewusst wie Sie zuvor, Dr. Rose - hatte ich den Eindruck, dass wir Fortschritte machten, und da konnte ich nicht einfach aufgeben.
»Warum hat sie nicht geredet?«, fragte ich.
»Ich sagte doch eben -«
»Katja Wolff, meine ich, nicht Sarah-Jane Beckett. Cresswell-White erzählte mir, dass sie nur ein einziges Mal gesprochen hat - mit der Polizei -, und dann nie wieder. Weder mit der Polizei noch mit sonst jemandem. Über das Verbrechen, meine ich. Über Sonia.«
»Die Frage kann ich dir nicht beantworten. Ich weiß die Antwort nicht. Es ist mir auch egal. Und -« Er nahm die Noten zur Hand, die ich auf dem Ständer zurückgelassen hatte, als ich mir vorgenommen hatte, zu spielen. Er klappte langsam das Heft zu, als beendete er etwas, das keiner von uns beiden beim Namen nennen wollte. »Ich verstehe einfach nicht, warum du auf dieser Geschichte herumreiten musst. Hat Katja Wolff nicht genug Zerstörung in unser aller Leben angerichtet?«
»Es geht nicht um Katja Wolff«, entgegnete ich. »Es geht darum, was geschehen ist.«
»Du weißt, was geschehen ist.«
»Ich weiß nicht alles.«
»Aber genug.«
»Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, wenn ich über es schreibe oder spreche, kann ich mich nur an die Zeiten genau erinnern, die mit der Musik zu tun haben: Wie ich zur Musik kam, wie ich diesen Weg weiterging, mit was für Übungen Raphael mich schulte, die Konzerte, die ich gab, die Orchester, mit denen ich gespielt habe, Dirigenten, Konzertmeister, Journalisten, die mich interviewten. Plattenaufnahmen, die ich gemacht habe.«
»Das ist dein Leben. Das macht deine Persönlichkeit aus.«
Libby war da anderer Meinung. Ich hatte ihre zornige Stimme noch im Ohr. Ich spürte ihre Frustration. Ich hätte in ihrer wütenden Verzweiflung ertrinken können.
Man hat mir die Wurzeln abgeschnitten, Dr. Rose. Ich bin plötzlich ein Heimatloser. Einst lebte ich in einer Welt, die ich kannte und in der ich mich zu Hause fühlte, in einer Welt mit klaren Grenzen, von Menschen bevölkert, die eine Sprache sprachen, die ich verstand. Diese Welt ist mir entfremdet, aber ebenso fremd ist mir das Land, das ich jetzt durchschreite, ohne Führer und ohne Karte, nur Ihren Anweisungen folgend.