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Barbara Havers hörte am Morgen um Viertel vor acht von Webberlys Unfall. Seine Sekretärin rief sie an, als sie gerade ihre Morgendusche genossen hatte und dabei war, sich abzutrocknen. Auf Anweisung Inspector Lynleys, der zum stellvertretenden Superintendent ernannt worden sei, rufe sie, erklärte Dorothea Harriman, alle Beamten an, die Webberly direkt unterstellt seien. Zum Schwatzen hatte sie keine Zeit und war darum sparsam mit Einzelheiten: Webberly liege im Charing-Cross-Krankenhaus, sein Zustand sei kritisch, er liege im Koma, nachdem er in der vergangenen Nacht, als er seinen Hund ausgeführt hatte, von einem Auto angefahren worden sei.
»Hölle und Teufel, Dee!«, rief Barbara. »Von einem
Auto angefahren? Wie denn? Wo? Kommt er…? Wird er…?«
Harrimans Stimme klang plötzlich sehr angespannt, und das verriet Barbara, welche Anstrengung es sie kostete, trotz ihrer eigenen Besorgnis um den Mann, für den sie seit beinahe einem Jahrzehnt arbeitete, professionell und sachlich zu bleiben.
»Mehr weiß ich im Moment selbst nicht, Constable. Die Dienststelle Hammersmith hat die Ermittlungen bereits eingeleitet.«
»Aber was, zum Teufel, ist denn passiert, Dee?«
»Unfall mit Fahrerflucht.«
Barbara dröhnte der Kopf. Sie spürte, wie die Hand, die den Hörer hielt, taub wurde, als gehörte sie nicht mehr zu ihrem Körper. Benommen legte sie auf. Mit noch weniger Sorge um ihr Aussehen als gewöhnlich kleidete sie sich an. Erst viel später an diesem Tag würde sie bei einem Blick in den Spiegel der Damentoilette entdecken, dass sie pinkfarbene Socken angezogen hatte, eine grüne Hose mit ausgebeulten Knien und dazu ein ausgewaschenes violettes T-Shirt mit dem Aufdruck Die Wahrheit ist nicht da draußen, sie ist hier drunter. Sie warf ein Pop-Tart in den Toaster, und während es warm wurde, trocknete sie ihr Haar und verschmierte zwei Kleckse fuchsienroten Lippenstifts auf ihren Wangen, um ihrem Gesicht etwas Farbe zu geben. Mit dem Pop-Tart in der Hand kramte sie ihre Sachen zusammen, schnappte sich ihre Autoschlüssel und rannte in den Morgen hinaus - ohne Mantel, ohne Schal und ohne den blassesten Schimmer, wohin sie eigentlich wollte.
Sechs Schritte von ihrer Haustür entfernt, brachte die eiskalte Luft sie abrupt zur Besinnung. »Moment mal, Barb«, sagte sie laut und rannte in ihren kleinen Bungalow zurück. Dort setzte sie sich an den Tisch, an dem sie zu essen, zu bügeln und zu arbeiten pflegte, zündete sich eine Zigarette an und mahnte sich energisch zur Ruhe. Wenn zwischen Webberlys Unfall und der Ermordung Eugenie Davies' eine Verbindung bestand, würde sie bei den Ermittlungen keine Hilfe sein, solange sie herumrannte wie ein kopfloses Huhn.
Und es bestand garantiert eine Verbindung zwischen den beiden Ereignissen, darauf würde sie jede Wette eingehen.
Ihr zweiter Besuch im Valley of Kings und im Comfort Inn am vergangenen Abend war wenig befriedigend verlaufen. Sie hatte nichts weiter erfahren, als dass Pitchley in beiden Etablissements Stammkunde war und so häufig aufkreuzte, dass weder die Bedienungen im Restaurant noch der Nachtportier im Hotel mit Gewissheit hatten sagen können, ob er am Abend von Eugenie Davies' Ermordung da gewesen war.
»Oh, mein Gott, ja, der Herr hat großen Erfolg bei den Damen.« Der Nachtportier hatte sich das Foto von Pitchley angesehen, während hinter ihm in einem Video einer uralten Episode von »Das Haus am Eaton Place« Major Bellamy und seine Frau sich in kultivierten Tönen stritten. Er hatte sich einen Moment lang von den dramatischen Entwicklungen auf dem Bildschirm fesseln lassen und seufzend gesagt: »Die Ehe hält bestimmt nicht«, ehe er sich Barbara zugewandt und ihr das Bild zurückgereicht hatte. »Er kommt oft mit seinen Damen hierher«, sagte er. »Er bezahlt immer bar, und die Dame wartet inzwischen da drüben im Salon. Er möchte nicht, dass ich sie sehe oder auf die Idee komme, dass sie das Zimmer nur ein paar Stunden benutzen wollen, zum Geschlechtsverkehr. Ja, der Mann kommt sehr oft hierher.«
Im Valley of Kings war es ähnlich. J.W. Pitchley hatte sich die Speisekarte hinauf und hinunter gegessen, und die Kellner konnten die Gerichte aufzählen, die er in den letzten fünf Monaten bestellt hatte. Aber was seine Begleiterinnen anging… Blonde, Brünette, Rothaarige und Grauhaarige. Natürlich immer Engländerinnen. Was war in so einer dekadenten Gesellschaft anderes zu erwarten!
Barbara hatte Eugenie Davies' Foto zusammen mit dem von J. W. Pitchley gezeigt, aber das hatte überhaupt nichts gebracht. Ah ja, auch eine Engländerin, nicht wahr?, hatten die beiden Kellner und ebenso der Nachtportier gefragt. Ja, möglich, dass sie einen Abend mit dem Herrn zusammen hier gewesen war. Vielleicht aber auch nicht. Wissen Sie, der Herr ist interessant: Wie bringt es ein so durchschnittlicher Mensch zu so außergewöhnlichen Erfolgen bei den Damen?
»In der Not frisst der Teufel Fliegen«, hatte Barbara gemurmelt. »Wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Sie hatten es nicht verstanden, und sie hatte es nicht erklärt. Sie war unverrichteter Dinge nach Hause gefahren und hatte beschlossen, sich bis zum Morgen zu gedulden, um dann in aller Frühe das Standesamt im St. Catherine's House aufzusuchen.
Dahin wollte sie, das wurde ihr klar, während sie, an ihrem kleinen Tisch sitzend, rauchte und hoffte, dass das Nikotin ihre Gehirnzellen anregen würde. Bei diesem J.W. Pitchley stimmte was nicht; wenn ihr das nicht schon die Tatsache gesagt hätte, dass man seine Adresse in der Handtasche der Toten gefunden hatte, dann war es auf jeden Fall klar gewesen, als sie die beiden Typen bei ihm aus dem Küchenfenster hatte springen sehen, und den Scheck, den er ausgeschrieben hatte - garantiert für einen der Kerle.
Superintendent Webberly konnte sie nicht helfen. Aber sie konnte auf dem geplanten Weg weitergehen und versuchen, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen, das J.W. Pitchley alias James Pitchford so dringend für sich behalten wollte. Leicht möglich, dass etwas dahinter steckte, was ihn eines Mordes und der heimtückischen Attacke auf Webberly überführte. Und wenn das zutraf, dann wollte sie diejenige sein, die das Schwein festnagelte. Das wenigstens war sie dem Superintendent schuldig, dem sie so unendlich viel verdankte.
Ruhig geworden, holte sie ihre voluminöse marineblaue Jacke aus dem Schrank und wickelte sich einen karierten Schal um den Hals. Besser gerüstet für die Novemberkälte, ging sie ein zweites Mal in den klammen, grauen Morgen hinaus.
Das St. Catherine's House war noch nicht geöffnet, als sie ankam, und sie nutzte die Wartezeit, um in einem der altmodischen kleinen Cafés, die es in London bald nicht mehr geben würde, ein Sandwich mit Schinken und Pilzen zu verdrücken. Danach telefonierte sie mit dem Charing Cross Hospital und erfuhr, dass Webberlys Zustand unverändert war. Lynley erreichte sie auf seinem Handy auf der Fahrt ins Yard. Er berichtete ihr, dass er bis sechs Uhr im Krankenhaus gewesen war und aufgegeben hatte, als ihm klar geworden war, dass die Warterei auf der Intensivstation nur seine Nerven strapazierte und Webberly nicht im Geringsten half.
»Hillier ist dort«, sagte er abrupt, und die drei Worte waren Erklärung genug. AC Hillier war nicht einmal in seinen besten Momenten ein angenehmer Zeitgenosse.
»Was ist mit dem Rest der Familie?«, fragte Barbara.
»Miranda ist aus Cambridge hergefahren.«
»Und Frances?«
»Laura Hillier ist bei ihr. Zu Hause, in Stamford Brook.«
»Zu Hause?« Barbara runzelte die Stirn. »Schon ein bisschen seltsam, finden Sie nicht, Sir?«
Woraufhin Lynley sagte: »Helen hat ein paar Kleider ins Krankenhaus gebracht. Und etwas zu essen. Randie ist so überstürzt losgefahren, dass sie vergessen hat, Schuhe anzuziehen. Helen hat ihr ein Paar Turnschuhe gebracht und einen Jogginganzug, damit sie etwas zum Wechseln hat. Sie ruft mich an, wenn es eine Veränderung geben sollte. Helen, meine ich.«
»Sir…« Barbara war irritiert über seine Verschlossenheit. Da war doch was im Busch; sie war entschlossen, dahinter zu kommen, was. Ihren Argwohn gegen Pitchley für den Moment vergessend, fragte sie sich, ob Frances Webberlys Fernbleiben vom Krankenhaus nicht vielleicht auf mehr als den Schock zurückzuführen war. Sie überlegte, ob es nicht vielleicht darauf hindeutete, dass Frances von dem früheren Seitensprung ihres Mannes wusste.
»Sir«, sagte sie, »haben Sie daran gedacht, dass Frances -«
»Was haben Sie heute Morgen vor, Havers?«
»Sir…«
»Was haben Sie über Pitchley herausbekommen?«
Lynley ließ keinen Zweifel daran, dass er nicht bereit war, sich mit ihr über Frances Webberly zu unterhalten. Barbara steckte also fürs Erste ihre Neugier weg und berichtete, was sie am Vortag mit Pitchley erlebt und über ihn in Erfahrung gebracht hatte. Sie erzählte von seinem verdächtigen Verhalten, den beiden Männern, die in seinem Haus gewesen und bei ihrer Ankunft durch das Küchenfenster geflüchtet waren, dem teilweise ausgeschriebenen Scheck auf dem Esszimmertisch, ihren Gesprächen mit den Angestellten des Valley of Kingsund des Comfort lnn, die ihr bestätigt hatten, dass Pitchley in der Tat Stammgast in beiden Häusern war.
»Ich denk mir Folgendes: Wenn er einmal seinen Namen wegen eines Verbrechens geändert hat, warum dann nicht schon vorher mal wegen eines anderen?«
Lynley sagte, das halte er eher für unwahrscheinlich, aber er gab Barbara grünes Licht. Sie würden sich später im Yard treffen.
Barbara brauchte nicht lange, um die Register und Urkunden im St. Catherine's House durchzusehen, denn sie wusste ja, wonach sie suchte. Und was sie schließlich fand, veranlasste sie, auf dem schnellsten Weg nach New Scotland Yard zu fahren, wo sie sofort mit der Dienststelle Kontakt aufnahm, die für den Bezirk Tower Hamlets zuständig war. Nach einer halben Stunde hatte sie den einzigen Kollegen aufgespürt, der seine gesamte Dienstzeit dort abgesessen hatte, und führte ein aufschlussreiches Gespräch mit ihm. Dank seinem Gedächtnis für Details und seinen Aufzeichnungen, die so umfangreich waren, dass er leicht seine Memoiren hätte schreiben können, bekam Barbara Informationen, die Gold wert waren.
»Oho«, sagte er, »den Namen vergess ich nicht so leicht. Die ganze verfluchte Bande hat uns nichts als Ärger gemacht, seit es sie gibt.«
»Aber der Mann, um den es mir geht…«, sagte Barbara.
»Über den kann ich Ihnen einiges erzählen.«
Sie schrieb mit, während der Kollege berichtete, und nachdem das Gespräch beendet war, machte sie sich auf die Suche nach Lynley.
Sie fand ihn in seinem Büro, wo er mit ernster Miene am Fenster stand. Er hatte, bevor er nach seinem langen Besuch im Krankenhaus ins Yard zurückgekehrt war, offensichtlich einen Abstecher nach Hause gemacht. Er sah aus wie immer: gepflegt, gut rasiert, angemessen gekleidet. Einziges Zeichen, dass nicht alles so war wie sonst, war seine Haltung. Für gewöhnlich hielt er sich so gerade, als hätte er ein Lineal im Rücken, jetzt aber wirkte er wie unter einem Joch gebeugt.
»Dee hat mir nur gesagt, dass er im Koma liegt«, bemerkte Barbara anstelle einer Begrüßung.
Lynley erläuterte ihr das ganze Ausmaß der Verletzungen, die Webberly davongetragen hatte, und schloss mit den Worten: »Das einzig Positive ist, dass er nicht überfahren wurde. Der Wagen muss ein ziemliches Tempo gehabt haben, um ihn mit solcher Wucht gegen den Briefkasten zu schleudern. Das ist schlimm genug. Aber es hätte schlimmer kommen können.«
»Gibt es Zeugen?«
»Einen, der einen schwarzen Wagen durch die Stamford Brook Road rasen sah.«
»Wie der Wagen, der Eugenie Davies überrollte?«
»Es war ein großes Fahrzeug«, sagte Lynley. »Dem Zeugen zufolge könnte es ein Taxi gewesen sein. Er meinte, es wäre zweifarbig gewesen, schwarz mit grauem Dach. Hillier behauptet, das Grau wäre nur die Spiegelung der Straßenbeleuchtung auf dem Dach gewesen.«
»Zum Teufel mit Hillier«, versetzte Barbara geringschätzig.
»Taxis gibt's heutzutage in jeder Farbkombination. Zweifarbig, dreifarbig, rot und gelb, oder von oben bis unten mit Reklame bepflastert. Ich würde vorschlagen, wir hören auf den Zeugen. Wir haben es wieder mit einem schwarzen Fahrzeug zu tun. Ich bin sicher, es gibt da eine Verbindung, meinen Sie nicht auch?«
»Zu Eugenie Davies?« Lynley wartete nicht auf eine Antwort.
»Ja, das glaube ich auch.« Er gestikulierte mit einem Notizbuch, das er von seinem Schreibtisch genommen hatte, und setzte seine Brille auf, während er um das Möbel herumging, um sich zu setzen. Mit einem kurzen Nicken bedeutete er Barbara, das Gleiche zu tun. »Aber wir haben noch immer praktisch keine Anhaltspunkte, Havers. Ich habe meine Aufzeichnungen noch einmal genau durchgelesen, weil ich hoffte, etwas zu finden, aber ich bin nicht weit gekommen. Das Einzige, was ich zu bieten habe, sind Ungereimtheiten in den Aussagen von Richard Davies, seines Sohns Gideon und von lan Staines über Eugenie Davies' Absicht, ihren Sohn aufzusuchen. Staines behauptet, sie hätte vorgehabt, ihren Sohn um Geld zu bitten, um ihm - Staines - aus finanziellen Schwierigkeiten zu helfen, die ihn alles kosten könnten, was er hat. Er sagt aber auch, dass sie - nachdem sie ihm versprochen hatte, mit ihrem Sohn zu reden - plötzlich erklärte, es sei etwas geschehen, was es ihr unmöglich mache, Gideon um Geld zu bitten. Richard Davies wiederum behauptet, sie hätte nie den Wunsch geäußert, ihren Sohn zu sehen, vielmehr hätte er ein Zusammentreffen zwischen ihr und Gideon angeregt, weil er hoffte, sie könnte ihm helfen, sein Lampenfieber zu überwinden. Gideon bestätigt diese Behauptung im Großen und Ganzen. Er sagt, seine Mutter hätte nie verlangt, ihn zu treffen - zumindest seines Wissens nicht. Er weiß nur, dass sein Vater eine Zusammenkunft wollte, eben weil er hoffte, sie könnte ihm helfen, wieder zu seiner Musik zu finden.«
»Hat sie Geige gespielt?«, fragte Barbara. »In ihrem Haus in Henley war keine.«
»Nein, nein, Gideon meinte nicht, dass sie mit ihm üben würde oder dergleichen. Er sagte, tatsächlich hätte sie zur Lösung seines Problems nicht mehr tun können, als dass sie seinem Vater >zustimmte<.«
»Was soll das denn heißen?«
»Keine Ahnung. Aber eines kann ich Ihnen sagen: Lampenfieber ist das nicht, was der Mann hat. Meiner Meinung nach ist er ernstlich krank.«
»Vielleicht leidet er an schlechtem Gewissen? Wo war er an dem Abend vor drei Tagen, als Eugenie Davies überfahren wurde?«
»Zu Hause. Allein. Sagt er jedenfalls.« Lynley warf sein Notizbuch auf den Schreibtisch und nahm seine Brille ab. »Und damit kommen wir zu Eugenie Davies' E-Mail, Barbara.« Er berichtete ihr kurz und sagte zum Schluss: »Am Ende der Mail stand der Name Jete. Sagt Ihnen das etwas?«
»Ein Acronym?« Sie überlegte, zu welchen Wörtern diese vier Buchstaben die Initialen sein könnten. Nichts fiel ihr ein außer Ja Essen… Schließlich gab sie auf und sagte: »Könnte Pitchley dahinter stecken? Vielleicht hat er sich ja neben Die Zunge noch einen anderen Decknamen zugelegt.«
»Ach ja, was haben Sie denn über den im St. Catherine's entdeckt?«, fragte Lynley.
»Gold«, antwortete sie. »Die Bestätigung, dass er vor zwanzig Jahren James Pitchford war.«
»Und das soll Gold sein?«
»Das Gold kommt noch«, erklärte Barbara. »Bevor er nämlich Pitchford wurde, war er Pytches, Sir. Der kleine Jimmy Pytches aus Tower Hamlets. Den Namen Pitchford hat er sechs Jahre vor dem Mord am Kensington Square angenommen.«
»Interessant«, meinte Lynley, »aber doch wohl kaum belastend.«
»Für sich allein nicht, das stimmt. Aber wenn man zwei Namensänderungen innerhalb eines noch relativ kurzen Lebens mit der Tatsache in einen Topf schmeißt, dass bei ihm zwei Typen aus dem Küchenfenster geflüchtet sind, als die Polizei aufkreuzte, dann stinkt das schon ganz schön. Also hab ich die zuständigen Kollegen angerufen und gefragt, ob sich jemand an Jimmy Pytches erinnert.«
»Und?«, fragte Lynley.
»Bingo. Die ganze Familie machte nichts als Ärger. Das war damals so, das ist jetzt auch noch so. Und als Pitchley noch Jimmy Pytches war, starb ein kleines Kind, auf das er aufpassen sollte. Er war damals ein Teenager, und man konnte ihm nichts nachweisen. Bei der Leichenschau hieß es: plötzlicher Kindstod, aber erst, nachdem Jimmy achtundvierzig Stunden in Gewahrsam gewesen und als Hauptverdächtiger befragt worden war. Hier, schauen Sie sich meine Notizen an, wenn Sie wollen.«
Lynley setzte seine Brille wieder auf.
»Ein paar Jahre später starb wieder ein Kind praktisch unter seinen Augen«, fuhr Barbara fort, während Lynley ihre Aufzeichnungen durchsah. »Das hört sich nicht sehr gut an, hm?«
»Wenn er tatsächlich Sonia Davies getötet hat«, begann Lynley, »und Katja Wolff für ihn den Kopf hingehalten -«
»Vielleicht«, fiel Barbara ihm ins Wort, »hat sie deshalb kein Wort mehr gesagt, nachdem sie festgenommen worden war, Sir. Angenommen, sie und Pitchford hatten was am Laufen - ich meine, sie war ja schwanger -, dann war den beiden bei Sonias Tod doch klar, dass die Polizei Pitchford sehr genau unter die Lupe nehmen würde, sobald sie rausgekriegt hätte, wer er wirklich war und dass er schon einmal in den Tod eines Kindes verwickelt war. Also beschlossen sie, Sonia Davies' Tod als Unfall hinzustellen, als Folge einer Unachtsamkeit -«
»Aber warum hätte Pitchford die kleine Davies ertränken sollen?«
»Neid auf alles, was diese Familie hatte und er nicht. Wut darüber, wie sie seine Geliebte behandelten. Er möchte sie aus der Situation befreien, oder er will sich an Leuten rächen, denen das Schicksal alles gegeben hat, was er niemals bekommen wird. Also bringt er das Kind um. Und Katja springt für ihn in die Bresche, weil sie seine Vergangenheit kennt und glaubt, dass sie selbst höchstens ein, zwei Jahre wegen Fahrlässigkeit bekommen wird, während man ihn wahrscheinlich wegen vorsätzlichen Mordes zu lebenslänglicher Haft verurteilen würde. Sie denkt keinen Moment darüber nach, wie die Geschworenen auf ihr stures Schweigen zum Tod eines behinderten Kleinkindes reagieren werden. Überlegen Sie bloß mal, was denen wahrscheinlich durch den Kopf gegangen ist, Sir: Erinnerungen an Mengele und Konsorten, und diese Person weigert sich, darüber Auskunft zu geben, was geschehen ist. Also gibt der Richter ihr die Höchststrafe und brummt ihr zwanzig Jahre auf. Pitchford setzt sich ab und lässt sie im Knast schmoren, während er sich in Pitchley verwandelt und in der City absahnt.«
»Und weiter?«, fragte Lynley. »Sie wird aus dem Gefängnis entlassen, und wie geht es dann weiter, Havers?«
»Sie erzählt Eugenie Davies, wie es wirklich war, wer das Kind in Wirklichkeit getötet hat. Eugenie heftet sich Pitchley an die Fersen und stöbert ihn auf, so wie ich Pytches aufgestöbert habe. Sie fährt zu ihm, um ihn zu stellen, aber dazu kommt es nicht.«
»Weil?«
»Weil sie auf der Straße getötet wird.«
»Das weiß ich. Aber von wem, Barbara?«
»Ich denke, Leach ist auf der richtigen Spur, Sir.«
»Von Pitchley? Aber warum?«
»Katja Wolff will Gerechtigkeit. Eugenie Davies ebenfalls. Der einzige Weg zur Gerechtigkeit führt über eine Verurteilung Pitchleys. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er damit einverstanden gewesen wäre.«
Lynley schüttelte den Kopf. »Wie erklären Sie dann den Anschlag auf Webberly?«
»Ich denke, die Antwort darauf wissen Sie schon.«
»Die Briefe, meinen Sie?«
»Es ist Zeit, sie auszuhändigen, Sir. Sie müssen doch einsehen, dass sie von großer Bedeutung sind.«
»Barbara, sie sind mehr als zehn Jahre alt! Sie zählen hier nicht.«
»Falsch, falsch, falsch.« Barbara zerrte frustriert an ihren sandblonden Stirnfransen. »Sagen wir, Pitchley und die Davies hatten was miteinander. Sagen wir, das war der Grund, weshalb sie neulich Abend in seiner Straße war. Sagen wir, er hat sich des öfteren heimlich in Henley mit ihr getroffen und ist bei einem dieser Rendezvous auf die Briefe gestoßen. Er rastet aus vor Eifersucht, bringt erst sie um und versucht's dann bei dem Superintendent.«
Lynley schüttelte den Kopf. »Barbara, Sie können nicht dies und das zugleich haben. Sie verbiegen die Fakten, um sie einer Theorie anzupassen. Aber sie passen nicht, und die Theorie passt auch nicht.«
»Wieso nicht?«
»Weil sie zu vieles unerklärt lässt.« Lynley hakte die einzelnen Punkte ab. »Wie hätte Pitchley eine Liebesbeziehung zu Eugenie Davies unterhalten können, ohne dass Ted Wiley das gemerkt hätte? Wiley hat doch, wie wir wissen, genau beobachtet, was in Eugenie Davies' Haus vorging. Was hatte Eugenie Wiley zu beichten, und warum starb sie genau in der Nacht, bevor sie ihre Beichte ablegen wollte? Wer ist Jete? Mit wem hat sich Eugenie Davies in all diesen Pubs und Hotels getroffen? Und was fangen wir mit dem seltsamen Zusammentreffen an, dass genau in der Zeit, als Katja Wolff aus dem Gefängnis entlassen wird, Anschläge auf zwei Personen verübt werden, die in dem Mordfall, der zu ihrer Verurteilung führte, eine wichtige Rolle spielten?«
Barbara seufzte und ließ einen Moment den Kopf hängen.
»Okay«, sagte sie dann. »Wo ist Winston? Was hat er über Katja Wolff zu berichten?«
Lynley brachte sie über Nkatas Unternehmungen am vergangenen Abend aufs Laufende und schloss mit den Worten: »Er ist überzeugt, dass sowohl Yasmin Edwards als auch Katja Wolff etwas verheimlichen. Als er von Webberlys Unfall hörte, sagte er, er wolle noch einmal mit den beiden Frauen sprechen.«
»Er glaubt also auch, dass zwischen den beiden Fahrerfluchtfällen eine Verbindung besteht.«
»Richtig. Und ich bin seiner Meinung. Es gibt da ganz sicher eine Verbindung, Havers. Wir sehen sie nur noch nicht.« Lynley stand auf, gab Barbara ihre Aufzeichnungen zurück und begann, Unterlagen von seinem Schreibtisch zu nehmen. »Fahren wir nach Hampstead«, sagte er. »Leachs Leute müssen inzwischen doch irgendwas haben, womit wir arbeiten können.«
Winston Nkata blieb gut fünf Minuten in seinem Wagen vor der Polizeidienststelle Hampstead sitzen, ehe er ausstieg. Wegen einer Massenkarambolage in dem Kreisverkehr kurz vor der Vauxhall-Brücke hatte er für die Fahrt aus Süd-London hier herüber fast zwei Stunden gebraucht. Der Aufschub war ihm willkommen gewesen. Während er, im Auto sitzend, zugesehen hatte, wie Feuerwehrleute, Sanitäter und Verkehrspolizisten sich bemühten, das Chaos aus verletzten Menschen und schrottreifen Fahrzeugen zu lichten, hatte er Zeit gehabt, sich mit der unerfreulichen Tatsache auseinander zu setzen, dass er das Gespräch mit Katja Wolff und Yasmin Edwards total in den Sand gesetzt hatte.
Ja, er hatte Mist gebaut. Er hatte sich in die Karten schauen lassen. Blind wie ein gereizter Stier war er genau siebenundsechzig Minuten, nachdem er zu Hause in seinem Bett erwacht war, nach Kennington gestürmt und schnaubend und Füße scharrend in dem knarrenden alten Aufzug aufwärts gefahren, die Hörner schon zur Attacke gesenkt, überzeugt, dass er den Fall binnen fünf Minuten gelöst hätte. Mit Gewalt hatte er sich einzureden versucht, dass einzig der Fall ihn nach Kennington geführt hätte. Denn wenn Katja Wolff fremdging und Yasmin Edwards nichts davon wusste und wenn es ihm gelang, die Sache mit dem kleinen Seitensprung so anzubringen, dass ein Riss in der Beziehung der beiden Frauen entstand, was sollte Yasmin Edwards dann daran hindern, endlich den Mund aufzumachen und ihm zu bestätigen, was er instinktiv längst wusste: dass Katja Wolff am Abend der Ermordung von Eugenie Davies nicht zu Hause gewesen war?
Mehr wollte er nicht, so versicherte er sich selbst. Er war nichts weiter als ein schlichter Bulle, der seine Pflicht tat. Ihr Körper bedeutete ihm nichts: glatt und straff, von der Farbe frisch gepresster Pennystücke, gertenschlank mit schmaler Taille, die in einladende Hüften überging. Ihre Augen waren nur Fenster: dunkel wie Schatten, bemüht, zu verbergen, was sie nicht verbergen konnten, nämlich Zorn und Furcht. Und diesen Zorn und diese Furcht musste man sich zunutze machen, musste er sich zunutze machen, dem sie nichts bedeutete, nur eine lesbische Knastschwester, die eines Abends ihren Alten umgebracht und sich mit einer Kindsmörderin zusammengetan hatte.
Er wusste, dass es nicht seine Sache war, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, warum Yasmin Edwards sich ohne Rücksicht auf ihren kleinen Sohn, der mit ihr zusammenlebte, eine Kindsmörlerin ins Haus geholt hatte. Trotzdem sagte er sich, dass es, ganz abgesehen vom Nutzen für ihre Ermittlungen, das Beste wäre, wenn das Misstrauen, das er vielleicht in die Beziehung der beiden Frauen würde hineintragen können, zum Bruch führte, durch den der kleine Daniel dem Einfluss einer verurteilten Mörderin entkommen würde.
Er wehrte den Gedanken ab, dass ja die Mutter des Jungen ebenfalls eine verurteilte Mörderin war. Sie hatte es schließlich mit einem Erwachsenen aufgenommen. Nichts in ihrer Geschichte ließ darauf schließen, dass sie es auf Kinder abgesehen hatte.
Ganz von selbstgerechtem Eifer erfüllt, hatte er also bei Yasmin Edwards geklingelt. Dass sie nicht sofort reagierte, spornte ihn nur an in seinem Tun, und er klingelte immer wieder, bis er endlich eine Reaktion erzwungen hatte.
Er war selbst sein Leben lang immer wieder Vorurteilen und Hass begegnet. Man konnte in England nicht einer ethnischen Minderheit angehören, ohne jeden Tag unzählige Feindseligkeiten mehr oder weniger subtiler Art hinnehmen zu müssen. Selbst bei der Metropolitan Police, wo er geglaubt hatte, dass Leistung mehr zählte als Hautfarbe, hatte er lernen müssen, vorsichtig zu sein. Nie hatte er andere zu nahe an sich herangelassen, nie hatte er sich ganz geöffnet; er wollte nicht hinterher dafür bezahlen müssen, dass er geglaubt hatte, vertrauter Umgang bedeute, als gleichwertig akzeptiert zu sein. So war es nicht, ganz gleich, wie die Verhältnisse sich dem uneingeweihten Beobachter darstellten. Und ein Schwarzer tat gut daran, das nicht zu vergessen.
Aufgrund dieser persönlichen Erfahrungen glaubte Nkata sich seit langem dagegen gefeit, mit anderen ähnlich umzuspringen, wie mit ihm immer wieder umgesprungen wurde. Aber nach dem morgendlichen Gespräch mit Yasmin Edwards und ihrer Freundin hatte er sich eingestehen müssen, dass er nicht besser war als alle anderen, sondern ebenso engstirnig und in seiner Engstirnigkeit ebenso fähig, sich zu vorschnellem Urteil verleiten zu lassen, wie es der ungebildetste, fanatischste Anhänger der Nationalen Front tat.
Er hatte sie zusammen gesehen. Er hatte beobachtet, wie sie einander begrüßt, wie sie miteinander gesprochen hatten und vertraut wie ein Paar miteinander die Straße hinuntergegangen waren. Er hatte gewusst, dass die Deutsche mit einer Frau zusammenlebte. Und prompt hatte er seiner Phantasie freien Lauf gelassen, als die beiden in der Galveston Road verschwunden waren und er am Fenster den Schatten zweier einander umarmender Frauen gesehen hatte. Eine Lesbe, die sich mit einer Frau traf und mit ihr in eine private Wohnung zurückzog, das konnte nur eines bedeuten, hatte er gemeint. Und er hatte sich bei seinem Gespräch mit Yasmin Edwards und Katja Wolff allein von dieser Meinung leiten lassen.
Hätte er nicht ohnehin gleich danach gemerkt, dass er alles vermasselt hatte, so wäre es ihm spätestens in dem Moment klar geworden, als er die Nummer auf der Geschäftskarte anrief, die Katja Wolff ihm mitgegeben hatte. Harriet Lewis bestätigte die Aussage: Ja, sie sei Katja Wolffs Rechtsanwältin. Ja, sie habe am vergangenen Abend eine Verabredung mit ihr gehabt. Ja, sie seien zusammen in der Galveston Road gewesen.
»Und Sie sind nach einer Viertelstunde wieder gegangen?«, fragte Nkata.
»Was wollen Sie eigentlich, Constable?«, erwiderte Harriet Lewis darauf.
»Was hatten Sie in der Galveston Road zu tun?«, fragte er weiter.
»Das geht Sie nun wirklich nichts an«, versetzte die Anwältin, genau wie Katja Wolff es vorausgesagt hatte.
Er versuchte es weiter. »Wie lange ist sie schon Ihre Mandantin?«
»Das Gespräch ist beendet«, sagte sie. »Ich bin für Miss Wolff tätig, nicht für Sie.«
Am Ende wusste er nur noch, dass er alles falsch gemacht hatte. Und nun würde er sich ausgerechnet vor dem Menschen rechtfertigen müssen, der sein großes Vorbild war: Inspector Thomas Lynley. Als der Verkehr vor der Vauxhall-Brücke zum Stillstand kam, während rundherum Sirenen heulten und Blaulichter blinkten, war er nicht nur für die Ablenkung dankbar, die so ein Verkehrschaos bot, sondern auch für die Frist, die ihm so geschenkt wurde, darüber nachzudenken, wie er die Geschichte seines Versagens präsentieren sollte.
Jetzt blickte er an der Fassade der Polizeidienststelle Hampstead empor und stieg widerwillig aus seinem Wagen. Er ging ins Haus, zeigte seinen Dienstausweis und trat den Bußgang an, den er sich durch sein Handeln selbst auferlegt hatte.
Sie waren im Besprechungsraum, wo man gerade zum Ende der morgendlichen Lage kam. Auf der Porzellantafel waren die Aufgaben für den Tag aufgeführt sowie die Namen der Männer und Frauen, denen sie zugeteilt waren. Das bedrückte Schweigen unter den Beamten, als sie aufbrachen, verriet Nkata, dass sie gehört hatten, was Webberly zugestoßen war.
Lynley und Barbara Havers blieben zurück. Sie waren dabei, irgendwelche Computerausdrucke zu vergleichen, als Nkata zu ihnen trat.
»Tut mir Leid«, sagte er. »Ich hab vor der Vauxhall- Brücke ewig im Stau gestanden.«
Lynley blickte ihn über die Ränder seiner Brillengläser an. »Ah, Winston! Wie ist es denn gelaufen?«
»Nichts zu machen, Sir. Die sind beide bei ihren Aussagen geblieben.«
»Mist!«, knurrte Barbara.
»Haben Sie mit der Edwards allein gesprochen?«, fragte Lynley.
»Das war gar nicht nötig. Die Frau, mit der die Wolff sich gestern Abend getroffen hat, war ihre Anwältin, Inspector. Die Anwältin hat es bestätigt, als ich sie angerufen hab.« Seine Miene verriet wohl etwas von seiner Bekümmerung, denn Lynley musterte ihn einen Moment lang sehr aufmerksam, und er fühlte sich dabei so elend wie ein Kind, das den geliebten Vater enttäuscht hat.
»Aber Sie schienen ganz sicher zu sein, als wir miteinander sprachen«, bemerkte Lynley, »und im Allgemeinen trügt Ihr Gefühl Sie doch nicht. Wissen Sie genau, dass Sie mit der Anwältin gesprochen haben, Winston? Die Wolff kann Ihnen ja auch die Nummer einer Freundin angedreht haben, die Ihnen dann etwas vorgespielt hat.«
»Sie hat mir die Visitenkarte der Anwältin gegeben«, erklärte Nkata. »Und kennen Sie einen Anwalt, der für seinen Mandanten lügen würde, wenn die Polizei auf ihre Frage nur ein Ja oder Nein hören will? Aber ich bin trotzdem überzeugt, dass die beiden Frauen etwas verheimlichen. Ich hab nur nicht die richtige Taktik angewendet, um es rauszukriegen.« Und weil seine Bewunderung für Lynley immer stärker sein würde als sein Wunsch, in den Augen seines Vorbilds gut dazustehen, fügte er hinzu: »Ich hab's völlig falsch angepackt und total vermasselt. Das nächste Mal sollte besser jemand anders mit ihnen reden.«
Barbara sagte mitfühlend: »Mensch, Winnie, so was hab ich mehr als einmal geschafft«, und Nkata warf ihr einen dankbaren Blick zu. Sie hatte tatsächlich vor noch gar nicht langer Zeit so gründlich gepatzt, dass sie vorübergehend vom Dienst suspendiert und danach zurückgestuft worden war und nun wahrscheinlich jede Chance zum Aufstieg bei der Metropolitan Police verloren hatte. Aber sie hatte in dem ganzen Schlamassel wenigstens einen Killer gestellt, während er selbst nur zusätzlich Sand ins Getriebe gestreut hatte.
»Gott, ja«, sagte Lynley. »Das kennen wir doch alle. Lassen Sie sich deswegen keine grauen Haare wachsen, Winston. Das bekommen wir schon hin.« Aber Nkata hörte doch, dass er enttäuscht war, wenn auch vielleicht nicht halb so enttäuscht wie seine Mutter es sein würde, wenn er ihr berichtete, was geschehen war.
»Aber mein Junge«, würde sie sagen, »was hattest du denn da im Kopf?«
Und genau diese Frage wollte er lieber nicht beantworten.
Er versuchte, sich auf die Zusammenfassung der morgendlichen Lagebesprechung, die er versäumt hatte, zu konzentrieren. Man wusste mittlerweile die Namen sämtlicher Personen, mit denen Eugenie Davies den Unterlagen der Telefongesellschaft zufolge telefoniert hatte. Ebenso waren die Anrufer identifiziert, die Nachrichten auf ihrem Anrufbeantworter hinterlassen hatten. Die Frau, die sich Lynn genannt hatte, hatte sich als eine gewisse Lynn Davies entpuppt.
»Eine Verwandte?«, fragte Nkata.
»Das müssen wir noch feststellen.«
Sie wohnte in der Nähe von Dulwich.
»Havers wird sich mit der Dame unterhalten«, sagte Lynley und berichtete weiter, dass der unbekannte Mann, der über den Anrufbeantworter so zornig gefordert hatte, Eugenie Davies möge endlich den Hörer abheben, ein gewisser Raphael Robson war, der, in Gospel Oak wohnhaft, näher an dem Schauplatz des Mordes lebte als jeder andere, ausgenommen natürlich J. W. Pitchley.
»Ich werde mir Robson vorknöpfen«, schloss Lynley und fügte hinzu, »und ich möchte Sie dabei haben, Winston«, als wusste er schon, dass Nkata mit seinem angeschlagenen Selbstwertgefühl jetzt Ermutigung brauchte.
»In Ordnung«, sagte Nkata, während Lynley bereits mit seinem zusammenfassenden Bericht fortfuhr. Die Unterlagen der British Telephone Company hatten Richard Davies' Aussage über mehr oder weniger regelmäßige Telefongespräche mit seiner geschiedenen Frau in den letzten Monaten bestätigt. Das erste Gespräch hatte Anfang August stattgefunden, etwa zu der Zeit, als der gemeinsame Sohn das Konzert in der Wigmore Hall hatte platzen lassen, und das letzte am Morgen vor Eugenie Davies' Tod, als Richard Davies sie kurz angerufen hatte. Ebenso bestätigten die Unterlagen häufige Anrufe von Ian Staines, sagte Lynley gerade abschließend, als die drei in ihrer kleinen Privatkonferenz gestört wurden.
»Kann ich Sie drei mal kurz sprechen?«, erklang es von der Tür, und als sie sich herumdrehten, sahen sie, dass Leach noch einmal in den Besprechungsraum zurückgekehrt war. Er hielt einen Zettel in der Hand, den er in Richtung Korridor schwenkte, als er sagte: »In meinem Büro, wenn es Ihnen recht ist.« Danach verschwand er einfach, überzeugt, dass sie ihm folgen würden.
»Wie kommen Sie mit den Nachforschungen über das Kind voran, das die Wolff im Gefängnis zur Welt gebracht hat?«, fragte er Barbara Havers, als sie bei ihm im Büro angekommen waren.
»Im Moment hatte ich dafür keine Zeit, weil ich mich mit Pitchley befasst habe«, antwortete Barbara. »Aber ich werde mich heute darum kümmern. Es gibt allerdings keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Wolff überhaupt wissen will, was aus ihrem Kind geworden ist, Sir. Wenn sie den Jungen finden wollte, hätte sie garantiert als Erstes mit der Nonne im Kloster der Unbefleckten Empfängnis gesprochen. Aber das hat sie nicht getan.«
Leach knurrte etwas Unverständliches. »Gehen Sie der Sache trotzdem nach.«
»In Ordnung«, sagte Barbara. »Hat das Priorität vor einem Gespräch mit Lynn Davies?«
»Ist mir egal. Machen Sie's, wie Sie's für richtig halten, Constable«, antwortete Leach ungeduldig. »Wir haben übrigens einen Laborbefund. Die Lackteilchen, die an der Leiche gefunden wurden, sind analysiert.«
»Und?«, fragte Lynley.
»Wir werden umdenken müssen. SO7 berichtet, dass der Lack eine Mischung aus Zellulose und Verdünnungsmitteln aufweist. Seit vierzig Jahren wird bei Autos kein Lack dieser Art mehr verwendet. Die Splitter stammen von einem alten Fahrzeug - spätestens Fünfzigerjahre, sagen die vom Labor.«
»Fünfzigerjahre?«, wiederholte Barbara ungläubig.
»Darum meinte der Zeuge von gestern Nacht, es könnte eine Limousine gewesen sein«, sagte Lynley. »Die Autos in den Fünfzigern waren ja ungeheuer massiv. Jaguar, Rolls-Royce, Bentley, das waren alles Riesenschlitten.«
»Also hat jemand sie in seinem Oldtimer überfahren?«, fragte Barbara. »Na, da scheint ja einer vor nichts zurückzuschrecken.«
»Es könnte ein Taxi sein«, warf Nkata ein. »Ein ausrangiertes Taxi, das an jemanden verkauft worden ist, der es hergerichtet hat und jetzt damit rumkutschiert.«
»Ob Taxi oder Oldtimer«, sagte Barbara, »alle, die wir im Auge haben, sind aus dem Rennen.«
»Es sei denn, einer von ihnen hat sich den Wagen geliehen«, bemerkte Lynley.
»Richtig, diese Möglichkeit können wir nicht ausschließen«, stimmte Leach zu.
»Heißt das, dass wir wieder am Ausgangspunkt angelangt sind?«, fragte Barbara.
»Ich setze sofort jemanden darauf an. Und auf alle Werkstätten, die auf alte Autos spezialisiert sind. Obwohl bei einem Wagen aus den Fünfzigern nicht mit größeren Karosserieschäden zu rechnen ist. Das waren ja damals die reinsten Panzer.«
»Aber sie hatten Stoßstangen aus massivem Chrom«, stellte Nkata fest. »So eine könnte bei dem Unfall verbogen worden sein.«
»Das heißt, wir müssen auch alle Händler überprüfen, die alte Zubehörteile vertreiben.« Leach machte sich eine Notiz. »Es ist einfacher, so was zu ersetzen, als zu reparieren, besonders wenn man weiß, dass die Bullen sich dafür interessieren.« Er rief im Besprechungsraum an, um seine Anweisungen zu geben, dann legte er auf und sagte zu Lynley: »Und es könnte trotzdem nichts weiter als ein verrückter Zufall sein.«
»Glauben Sie das wirklich, Sir?«, erwiderte Lynley in so vielsagendem Ton, dass Nkata sofort wusste, der Inspector erwartete, aus Leachs Antwort, wie immer sie ausfallen würde, etwas heraushören zu können.
»Ich würde es gern glauben. Aber mir ist schon klar, dass man sich in so einer Situation gern Scheuklappen aufsetzt.« Leach starrte auf sein Telefon, als wollte er es mit reiner Willenskraft zum Klingeln zwingen. Die anderen sagten nichts. Schließlich murmelte er: »Er ist ein guter Mann. Er hat vielleicht hin und wieder einen Fehler begangen, aber wer von uns hat das nicht getan? Das schmälert sein Format nicht.« Er sah Lynley an, und zwischen den beiden schien ein Austausch stattzufinden, von dem Nkata nichts verstand. Dann sagte Leach kurz: »Packen Sie's an«, und sie gingen.
Draußen sagte Barbara zum Inspector: »Er weiß es, Inspector.«
»Wer weiß was?«, fragte Nkata.
»Leach«, antwortete Barbara. »Er weiß, dass es zwischen Webberly und der Davies eine Verbindung gibt -«
»Aber natürlich weiß er das. Sie haben den Fall damals gemeinsam bearbeitet. Das ist nichts Neues. Das wussten wir auch schon.«
»Okay. Aber wir wussten nicht -«
»Das reicht, Havers«, unterbrach Lynley. Die beiden tauschten einen langen Blick, ehe Barbara betont lässig sagte: »Na gut. Dann bin ich jetzt weg.« Mit einem freundlichen Nicken zu Nkata ging sie zu ihrem Wagen.
Nach diesem kurzen Wortwechsel glaubte Nkata deutlich den unausgesprochenen Tadel zu hören, der in Lynleys Entscheidung lag, ihn über eine offensichtlich neue Erkenntnis, die er und Barbara gesichert hatten, im Unklaren zu lassen. Er sah ein, dass er es nicht anders verdient hatte - er hatte ja weiß Gott bewiesen, dass er nicht über den Sachverstand und die Kompetenz verfügte, um mit wichtigen neuen Erkenntnissen richtig umzugehen -, aber er hatte doch geglaubt, bei seinem Bericht über das schief gelaufene Gespräch vorsichtig genug gewesen zu sein, um nicht als kompletter Versager dazustehen. Doch da hatte er sich offenbar geirrt.
Zutiefst niedergeschlagen sagte er: »Inspector, wollen Sie, dass ich abgebe?«
»Abgeben? Was denn, Winston?«
»Na, den Fall. Sie wissen schon. Wenn ich nicht mal eine simple Befragung durchführen kann, ohne alles zu verpfuschen…«
Lynley sah ihn so verdutzt an, dass Nkata klar war, er würde das eingestehen müssen, was er lieber für sich behalten hätte. Den Blick auf Barbara gerichtet, die in ihre kleine Rostlaube geklettert war und jetzt den müden alten Motor des Mini hochjagte, sagte er: »Ich meine, Sie finden ja vielleicht, wenn ich nicht mit den Fakten umgehen kann, die ich habe, ist es besser, mir gar nicht erst alles zu sagen. Aber dann wäre ich natürlich nur lückenhaft informiert, und meiner Arbeit täte das bestimmt nicht gut. Womit ich nicht sagen will, dass ich mich heute Morgen mit Ruhm bekleckert hätte… Also, mit anderen Worten… Wenn's Ihnen lieber ist, lass ich die Finger von dem Fall… Ich will nur sagen, dass ich das verstehen kann. Ich hätte sehen müssen, wie man diese beiden Frauen anpackt. Statt mir einzubilden, ich wüsste schon alles, hätte ich daran denken müssen, dass es vielleicht etwas gibt, das ich nicht sehe. Aber das hab ich nicht getan. Und drum hab ich die Sache in den Sand gesetzt und -«
»Winston«, unterbrach Lynley ihn mit Entschiedenheit.
»Asche aufs Haupt ist in Ordnung, aber die neunschwänzige Katze können Sie im Schrank lassen.«
»Was?«
Lynley lächelte. »Sie haben eine glänzende Karriere vor sich, Winston. Keine Flecken auf der weißen Weste wie wir anderen. Ich möchte gern dafür sorgen, dass es so bleibt. Verstehen Sie mich?«
»Wie? Sie meinen, wenn ich noch mal pfusche, käme es zu einer förmlichen -«
»Nein, aber nein. Ich möchte einfach, dass Sie sauber bleiben, Winston. Für den Fall, dass…« Lynley schien nach einer Wendung zu suchen, die erklären würde, ohne zu enthüllen. Schließlich sagte er: »Falls man unser Vorgehen später kritisch überprüfen sollte, möchte ich allein dafür verantwortlich sein«, und er sagte es so vorsichtig, dass Nkata hörte, wie heikel die Angelegenheit war, und nur noch Lynleys Worte mit Barbaras unbedachter Bemerkung in Verbindung zu bringen brauchte, um zu begreifen.
»Heiliger Strohsack!«, rief er ungläubig. »Sie wissen was und rücken nicht raus damit?«
»Gute Arbeit, Winston«, sagte Lynley trocken. »Von mir haben Sie das aber nicht gehört.«
»Weiß Barb Bescheid?«
»Nur weil sie dabei war. Die Verantwortung trage ich, Winston. Und ich möchte gern, dass es so bleibt.«
»Könnte es eine Spur zum Killer sein?«
»Ich glaube es nicht. Aber ja, möglich wäre es.«
»Ist es Beweismaterial?«
»Darüber wollen wir lieber nicht sprechen.«
Nkata traute seinen Ohren nicht. »Dann müssen Sie es weitergeben, Inspector! Es ist doch Teil der Beweiskette! Sie können es nicht einfach unterschlagen, weil Sie glauben - was glauben Sie überhaupt?«
»Dass die beiden Fahrerfluchtfälle in einem Zusammenhang stehen. Aber ich muss genau wissen, welcher Art der Zusammenhang ist, bevor ich etwas unternehme, das womöglich das Leben eines Menschen zerstören könnte. Genauer: das, was davon geblieben ist. Es ist meine Entscheidung, Winston. Und in Ihrem eigenen Interesse sollten Sie jetzt keine weiteren Fragen stellen.«
Nkata starrte seinen Helden immer noch fassungslos an. Dass ausgerechnet Lynley sich auf so zweifelhaftes Terrain begab! Er wusste, dass er nur beharrlich genug bohren müsste, um ebenfalls dort zu landen, aber er war zu ehrgeizig, um den klugen Rat des Inspectors einfach in den Wind zu schlagen. Trotzdem sagte er:
»So sollten Sie das nicht angehen.«
»Einspruch zur Kenntnis genommen«, entgegnete Lynley.