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Gideon

2. November

Ich denke, die Wahrheit über James Pitchford und Katja Wolff liegt irgendwo zwischen dem, was Sarah-Jane Beckett über James' Gleichgültigkeit Frauen gegenüber und was mein Vater über James' blinde Vernarrtheit in Katja sagte. Beide hatten sie Gründe, die Tatsachen zu verdrehen. Wenn Sarah-Jane Katja nicht mochte und James für sich haben wollte, dann wird sie wohl kaum gern zugeben, dass der Untermieter sich für die Konkurrentin interessierte. Und was meinen Vater angeht… Wenn er tatsächlich derjenige war, der Katja geschwängert hat, dann würde er wohl kaum mir dieses Vergehen beichten, nicht wahr? Es ist nicht die Art von Vätern, ihren Söhnen so etwas anzuvertrauen.

Sie hören mir mit dieser Miene ruhiger Gelassenheit zu, Dr. Rose, aber gerade weil Sie so gelassen wirken, so neutral, so offen für alles, worüber ich mich hier auslasse, ist mir ziemlich klar, was Sie denken: Er klammert sich an die Geschichte von Katja Wolffs Schwangerschaft, weil sie im Moment für ihn das einzig verfügbare Mittel ist, zu vermeiden .

Was, Dr. Rose? Und was ist, wenn ich gar nichts vermeide?

Das könnte zutreffen, Gideon. Aber bedenken Sie, dass Sie schon seit einiger Zeit keine einzige Erinnerung mehr zu Tage gefördert haben, die mit Ihrer Musik zu tun hat. Sie haben nur wenige Erinnerungen an ihre Mutter zur Sprache gebracht. Der Großvater Ihrer Kindheit scheint praktisch aus Ihrem Gedächtnis gelöscht und ebenso die Großmutter. Und Raphael Robson - so wie er in Ihrer Kindheit war - haben Sie allenfalls einmal flüchtig erwähnt.

Ich kann es nicht ändern, wie mein Gehirn die Punkte miteinander verbindet.

Nein, das natürlich nicht. Aber um das assoziative Denken anzuregen, muss man sich in einen mentalen Zustand versetzen, in dem die Gedanken frei schweifen können. Das ist der Sinn der Sache, wenn man äußere und innere Ruhe sucht und sich einen platz auswählt, wo man ungestört schreiben kann. Diese aktive geistige Beschäftigung mit dem Tod Ihrer Schwester und dem nachfolgenden Gerichtsverfahren - Wie soll ich mich denn zu etwas anderem hinwenden können, wenn mein Kopf voll davon ist? Ich kann nicht einfach mein Gehirn entleeren, die ganze Geschichte vergessen und mich auf etwas anderes konzentrieren. Meine Schwester ist ermordet worden, Dr. Rose. Ich hatte vergessen, dass sie ermordet wurde. Ich hatte vergessen, dass sie existierte! Ich kann das nicht einfach wegstecken und mich hinsetzen und darüber schreiben, wie ich als Neunjähriger »ansiosamente« spielte, obwohl »animato« da stand.

Ich kann mich nicht damit auseinandersetzen, was eine solche Fehlinterpretation eines Musikstücks über den Seelenzustand des Musikers aussagt.

Aber was ist mit der blauen Tür, Gideon?, fragen Sie, immer noch die Vernunft in Person. Diese Tür hat doch in Ihrem Aufarbeitungsprozess eine wichtige Rolle gespielt. Wäre es da nicht hilfreich, wenn Sie über sie reflektierten und schrieben anstatt über das, was andere Ihnen erzählen?

Nein, Dr. Rose. Diese Tür-verzeihen Sie das Wortspiel - ist verschlossen.

Trotzdem - warum schließen Sie nicht einige Augenblicke lang die Augen und rufen sich das Bild dieser Tür ins Gedächtnis? Warum sehen Sie nicht zu, ob Sie sie vielleicht in einen anderen Zusammenhang als den mit der Wigmore Hall stellen können? So wie Sie sie beschreiben, scheint sie eine Außentür zu sein, zu einem Haus oder einer Wohnung. Wäre es möglich, dass sie mit der Konzerthalle überhaupt nichts zu tun hat? Vielleicht könnten Sie ja auch eine Zeitlang über die Farbe nachdenken und schreiben, und nicht über die Tür selbst. Vielleicht über das Vorhandensein von zwei Schlössern statt einem, über die Lampe über der Tür und das Licht an sich, was es uns bedeutet und wozu wir es brauchen.

Freud, Jung und alle möglichen anderen waren mit uns im Zimmer… Ja, ja, ja, Dr. Rose. Ich bin ein Feld, das für die Ernte reif ist.

3. November

Libby ist wieder zu Hause. Nach unserer Meinungsverschiedenheit mitten auf dem Platz war sie drei Tage weg gewesen. Ich hörte in dieser Zeit nichts von ihr. Die Stille in ihrer Wohnung war eine Anklage, ein Vorwurf gegen mich, sie durch Feigheit und Monomanie vertrieben zu haben. Das Schweigen behauptete, meine Monomanie wäre nur ein willkommener Schild, hinter dem ich mich versteckte, um nicht meinem Scheitern in der Beziehung zu Libby ins Auge blicken zu müssen, meinem Unvermögen, mit einem Menschen in Verbindung zu treten, den mir das Schicksal nur gesandt hat, um mir die Gelegenheit zu geben, eine Bindung mit ihm einzugehen.

Hier ist sie, Gideon, sagte Gott oder Fortuna oder das Karma an dem Tag zu mir, als ich mich bereit erklärte, der Kurierfahrerin mit dem Lockenkopf, die eine Zuflucht vor ihrem Ehemann brauchte, die untere Wohnung zu vermieten. Hier ist deine Chance, zu heilen, was dich quält, seit Beth aus deinem Leben verschwunden ist.

Aber ich hatte mir diese einzigartige Chance auf Erlösung entgehen lassen. Schlimmer noch, ich hatte alles getan, was in meiner Macht stand, um die Chance erst gar nicht zu bekommen.

Hätte ich mir zur Vermeidung einer intimen Beziehung zu einer Frau etwas Besseres einfallen lassen können, als meine Karriere zu sabotieren und mir so eine Möglichkeit zu schaffen, alle meine Anstrengungen auf einen zentralen Punkt von Bedeutung auszurichten? Tut mir Leid, Libby, Darling, keine Zeit, um über unsere Beziehung zu sprechen. Keine Zeit, mich mit ihrer Merkwürdigkeit auseinander zu setzen. Keine Zeit, darüber nachzudenken, wie es kommt, dass ich deinen nackten Körper in den Armen halten, deinen weichen Busen an meiner Brust, den Druck deines Schamhügels spüren kann, ohne etwas anderes zu empfinden als rasende Demütigung darüber, nichts zu empfinden.

Überhaupt keine Zeit für irgendetwas anderes als die Suche nach einer Lösung dieses ewig quälenden, mörderischen Problems mit meiner Musik, Libby.

Oder ist vielleicht das Nachdenken über Libby in diesem Moment auch nur ein Vorwand, um von der Frage abzulenken, wofür die blaue Tür steht? Woher, zum Teufel, soll ich das wissen?

Als Libby wieder nach Hause kam, rührte sie sich nicht. Sie klopfte nicht bei mir, und sie rief mich nicht an. Weder ließ sie draußen die Suzuki aufheulen, um auf ihre Rückkehr aufmerksam zu machen, noch legte sie drinnen donnernde Rhythmen auf. Dass sie wieder da war, merkte ich einzig daran, dass plötzlich die alten Rohre in den Mauern des Hauses zu knacken begannen. Sie nahm ein Bad.

Ich ließ ihr noch vierzig Minuten Zeit, nachdem die Rohre sich beruhigt hatten, dann ging ich hinunter, nach draußen und die Treppe zu ihrer Wohnungstür hinab. Aber ich klopfte nicht. Ich zögerte, nahe daran, den Gedanken an eine Versöhnung mit ihr aufzugeben. Aber im letzten Moment, als ich mir schon sagte, ach was, zum Teufel damit, was natürlich nichts anderes als Feigheit war, wurde mir bewusst, dass ich keinen Streit mit Libby wollte. Sie war mir eine so gute Freundin gewesen. Mir fehlte diese Freundschaft, und ich wollte sicher gehen, dass ich sie noch hatte.

Ich musste mehrmals anklopfen, um sie zu einer Reaktion zu bewegen. Und als sie sich endlich meldete, fragte sie durch die geschlossene Tür: »Wer ist da?«, obwohl sie genau wusste, dass außer mir bestimmt niemand sie am Chalcot Square aufsuchen würde. Ich übte mich in Geduld. Sie ist ärgerlich auf mich, sagte ich mir. Und alles in allem ist das ihr gutes Recht.

Als sie öffnete, hielt ich mich an die konventionellen Floskeln.

»Hallo. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Als du auf einmal verschwunden warst .«

»Lüg doch nicht«, sagte sie, aber sie sagte es nicht unfreundlich. Sie hatte Zeit gehabt, sich anzukleiden, und trug nicht die gewohnte Montur, sondern einen farbenfrohen Rock, der ihr bis zu den Waden ging, und einen schwarzen Pulli, der ihr bis zu den Hüften reichte.

Ihre Füße waren nackt. Um eine Fessel trug sie ein goldenes Kettchen. Sie sah hübsch aus.

»Das ist keine Lüge. Als du weg warst, dachte ich, du wärst zur Arbeit gefahren. Als du nicht zurückkamst… ich wusste nicht, was ich davon halten sollte.«

»Du lügst schon wieder«, sagte sie.

Ich blieb geduldig. Es ist meine Schuld, sagte ich mir, also muss ich auch die Strafe auf mich nehmen. »Darf ich reinkommen?«, fragte ich.

Mit einer Bewegung, die wie ein Achselzucken des ganzen Körpers wirkte, trat sie von der Tür zurück. Ich folgte ihr in die Wohnung. Sie hatte sich offensichtlich gerade zum Essen setzen wollen. Der Couchtisch vor dem Futon, der ihr als Sofa diente, war gedeckt, aber nicht mit dem bei ihr üblichen Restaurantessen vom Chinesen oder Inder. Sie hatte sich Hühnchenbrust mit Broccoli und einen gemischten Salat gemacht.

»Du bist beim Essen«, sagte ich. »Entschuldige. Soll ich später wiederkommen?« Mein förmlicher Ton ärgerte mich selbst.

»Nein, kein Problem, wenn es dich nicht stört, mir beim Essen zuzusehen.«

»Überhaupt nicht. Aber vielleicht macht es dir etwas aus, wenn ich zusehe?«

»Nein, das macht mir nichts aus.«

Ein höfliches Frage- und Antwortspiel. Es gab so viele Dinge, über die wir miteinander reden konnten, und so viele Dinge, die wir mieden.

»Ich möchte mich wegen neulich entschuldigen«, sagte ich.

»Was da vorgefallen ist, tut mir Leid. Zwischen uns, meine ich. Ich mache im Moment eine schlechte Phase durch. Na ja, das weißt du ja schon. Aber solange ich da nicht durch bin, werde ich für niemanden erträglich sein.«

»Warst du das denn vorher?«

Ich war konfus. »Was?«

»Erträglich für jemanden.« Sie ging zum Sofa und strich ihren Rock glatt, als sie sich setzte, eine sehr weiblich anmutende Geste, die zu ihr nicht zu passen schien.

»Ich weiß nicht, wie ich darauf ehrlich antworten und zu mir selbst ehrlich sein soll«, antwortete ich. »Eigentlich müsste ich sagen, ja, früher war ich ganz in Ordnung, und das wird auch wieder so sein. Aber in Wahrheit hat mir vielleicht immer etwas gefehlt. In Wahrheit war ich vielleicht nie erträglich für andere und werde es vielleicht auch niemals sein. Das ist alles, was ich im Moment weiß.«

Ich sah, dass sie Wasser trank und nicht Cola wie sonst. Im Wasser waren Eiswürfel und eine Scheibe Zitrone. Sie nahm das Glas, während ich sprach, und behielt mich über seinen Rand hinweg im Auge, als sie es zum Mund führte und trank. »In Ordnung«, meinte sie. »Bist du gekommen, um mir das zu erklären?«

»Ich hab doch schon gesagt, ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Wir hatten uns nicht in Freundschaft getrennt, und als du verschwunden bist und nicht wieder kamst… Ich dachte wahrscheinlich… Jedenfalls bin ich froh, dass du wieder da bist. Und dass es dir gut geht. Ja, ich bin froh, dass es dir gut geht.«

»Wieso?« fragte sie. »Was dachtest du denn, dass ich getan haben könnte? Hast du Angst gehabt, ich würde in die Themse springen oder so was?«

»Aber nein, natürlich nicht.«

»Was dann?«

Ich erkannte in diesem Moment nicht, dass dies der falsche Weg war, und folgte ihm törichterweise in der Annahme, dass er uns an das Ziel führen würde, das ich mir vorstellte. »Ich weiß, dass deine Situation hier in London prekär ist, Libby«, sagte ich.

»Ich würde es dir darum überhaupt nicht übel nehmen, wenn du… na ja, wenn du alles tätest, um dich abzusichern . Besonders nach dem Streit zwischen uns. Aber ich bin froh, dass du wieder da bist. Wahnsinnig froh. Du hast mir wirklich gefehlt.«

»Ah, schon kapiert.« Sie zwinkerte mir zu, aber sie lächelte nicht dabei. »Ich hab verstanden, Gid.«

»Was?«

Sie nahm Messer und Gabel zur Hand und schnitt in das Hühnerfleisch. Obwohl sie mittlerweile seit mehreren Jahren in England lebte, aß sie immer noch wie eine Amerikanerin mit diesem ständigen umständlichen Hin und Her von Messer und Gabel zwischen linker Hand und rechter. Während ich in Gedanken noch bei dieser Tatsache verweilte, antwortete sie mir.

»Du glaubst, ich war bei Rock, stimmt's?«

»Ich hab mir eigentlich keine näheren - na ja, du arbeitest schließlich bei ihm. Und nach dem Krach neulich… Mir ist klar, dass es da nur normal wäre…« Ich wusste nicht recht, wie ich den Gedanken zu Ende bringen sollte. Sie kaute bedächtig ihr Fleisch und ließ mich zappeln. Erst nach einer Weile sagte sie endlich:

»Du hast geglaubt, ich wär zu Rock zurückgekrochen und würde total nach seiner Pfeife tanzen. Das heißt, mit ihm vögeln, wann immer er Bock hat, und keinen Piep sagen, wenn er jede andere vögelt, die ihm übern Weg läuft. Richtig?«

»Ich weiß, dass er dich in der Hand hat, Libby, aber in der Zeit, als du jetzt weg warst, habe ich mir überlegt, dass du doch mal zu einem Anwalt gehen könntest, der sich im Einwanderungsrecht auskennt .«

»Ach, hör auf, das stimmt doch gar nicht«, sagte sie zornig.

»Hör mir zu. Wenn dein Mann dir weiterhin damit droht, zum Innenministerium zu gehen, können wir -«

»Du glaubst es tatsächlich!« Sie legte die Gabel aus der Hand.

»Ich war nicht bei Rock Peters, Gideon. Ich kann mir schon vorstellen, dass es dir schwer fällt, das zu glauben. Ich meine, warum sollte ich nicht reumütig zu irgendeinem totalen Arschloch zurückrennen, wo das doch gewissermaßen mein typisches Muster ist? Warum zieh ich eigentlich nicht gleich wieder bei ihm ein und tu mir den Kerl mit seiner ganzen Scheiße noch mal an? Wo ich doch durch dich sowieso schon in Übung bin.«

»Du bist mir immer noch böse.« Ich seufzte, enttäuscht darüber, dass ich offenbar nicht fähig war, mit irgendjemandem zu kommunizieren. Ich wünschte mir sehr, wir würden dies hinter uns lassen, aber ich wusste nicht, was ich mir danach für uns vorstellte. Ich konnte Libby nicht geben, was sie seit Monaten ganz unverblümt wollte, und ich wusste nicht, was ich ihr sonst geben könnte, das genügen würde, nicht nur im Augenblick, sondern auch in Zukunft. »Libby, mit mir ist etwas nicht in Ordnung«, sagte ich. »Du hast es selbst gesehen. Du weißt es. Über das Schlimmste, was mir fehlt, haben wir nicht gesprochen, aber du weißt es, weil du es erfahren hast . Du hast erlebt . Du warst mit mir zusammen in der Nacht…« Es war eine Qual, es auszusprechen.

Ich hatte mich nicht gesetzt, nachdem ich gekommen war, und jetzt lief ich ziemlich verzweifelt zwischen Küche und Wohnzimmer hin und her. Ich wartete darauf, dass sie mich retten würde.

Haben das früher andere getan?, fragen Sie mich.

Was?

Sie gerettet, Gideon. Haben früher andere Sie gerettet? Sehen Sie, wir erwarten häufig etwas, das wir von anderen Menschen gewöhnt sind. Bei uns entwickelt sich die Erwartung, dass ein bestimmter Mensch uns geben wird, was wir gewöhnlich von anderen erhalten haben.

Es hat kaum andere gegeben, Dr. Rose. Beth, ja. Aber sie reagierte stets mit gekränktem Schweigen, und das erwartete ich von Libby ganz gewiss nicht.

Und was wünschten Sie sich von Libby?

Verständnis, nehme ich an. Ein Entgegenkommen, das weitere Ausführungen - ein weiter gehendes Bekenntnis - unnötig gemacht hätte. Aber stattdessen bekam ich eine Entgegnung, die mir deutlich machte, dass sie mir nichts von dem Erwünschten geben würde.

Sie sagte: »Das Leben dreht sich nicht nur um dich, Gideon.«

»Das habe ich auch nie geglaubt«, erwiderte ich.

»Aber natürlich glaubst du das«, widersprach sie. »Ich bin ganze drei Tage weg, und du nimmst sofort an, ich wär total ausgeflippt, bloß weil wir's nicht schaffen, zwischen uns was zum Laufen zu kriegen. Du denkst gleich, ich wär nur wegen dir zu Rock zurück und mit ihm in die Koje gefallen.«

»Ich würde nicht behaupten, dass du meinetwegen mit ihm geschlafen hast. Aber du musst zugeben, dass du nicht einmal daran gedacht hättest, zu ihm zurückzukehren, wenn wir nicht - wenn es sich zwischen uns anders entwickelt hätte. Zwischen dir und mir.«

»Herrgott noch mal! Du bist wohl echt taub, oder was? Hast du mir überhaupt zugehört? Natürlich nicht, es ging ja nicht um dich.«

»Das ist nicht fair, Libby. Außerdem habe ich sehr wohl zugehört.«

»Ach ja? Ich hab gesagt, ich war nicht mit Rock zusammen. Ich hab ihn natürlich gesehen. Ich bin jeden Tag zur Arbeit gegangen, da musste ich ihn sehen. Und ich hätte jederzeit zu ihm zurück gekonnt, aber ich wollte nicht, kapiert? Und wenn er das FBI anrufen will - oder wen man hier anruft -, dann muss er's eben tun, und dann war's das hier für mich: Einmal einfach nach San Francisco. Und ich kann absolut nichts dagegen machen. Null. So schaut's aus.«

»Aber es muss doch eine Einigung möglich sein. Wenn ihm wirklich so viel an dir liegt, wie es den Anschein hat, könntet ihr vielleicht zu einer Beratungsstelle gehen, um -«

»Sag mal, spinnst du eigentlich total? Oder hast du nur eine Scheißangst, ich könnte anfangen, was von dir zu wollen?«

»Ich versuche doch nur, eine Lösung für das Problem mit deiner Aufenthaltsgenehmigung zu finden. Du möchtest nicht abgeschoben werden. Offensichtlich möchte auch Rock nicht, dass du abgeschoben wirst, sonst hätte er dich längst anzeigen können - beim Innenministerium übrigens -, und man hätte dich bereits abgeholt.«

Sie hatte sich wieder ihrem Essen zugewandt und eine Gabel voll Fleisch und Gemüse zum Mund geführt. Aber die Gabel verharrte in der Luft, während ich sprach, und als ich zum Ende gekommen war, legte sie sie auf ihrem Teller ab und sah mich gut fünfzehn Sekunden lang ruhig an, ehe sie sprach. Und was sie dann sagte, klang für mich völlig unsinnig.

»Stepptanz!«

»Was?« sagte ich.

»Stepptanz, Gideon. Dorthin bin ich gegangen, als ich hier weg bin. Ich nehme Unterricht. Im Steppen. Ich bin nicht besonders gut, aber das macht nichts, weil ich's deswegen nicht mache, ich meine, um gut zu sein. Ich mach's, weil ich dabei so richtig ins Schwitzen komme und einen Riesenspaß hab und mich hinterher immer total gut fühle.«

»Ah ja, ich verstehe«, sagte ich, obwohl ich in Wirklichkeit nichts verstand. Wir hatten über ihre Ehe gesprochen, wir hatten über ihre unsichere Situation hier in England gesprochen, wir hatten über unsere Schwierigkeiten miteinander gesprochen - oder hatten jedenfalls versucht, darüber zu sprechen -, und was Stepptanz mit all dem zu tun hatte, war mir völlig unklar.

»Bei mir im Kurs ist ein echt nettes Mädchen, eine Inderin, die heimlich Unterricht nimmt. Sie hat mich zu sich nach Hause eingeladen, zu ihrer Familie. Und da war ich. Bei ihr. Bei dieser indischen Familie. Ich war nicht bei Rock. Ich hab nicht mal daran gedacht, zu ihm zu gehen. Ich hab mir nur überlegt, was für mich das Beste wäre. Und das hab ich dann getan, Gid. Einfach so.«

»Ja. Hm, Ich verstehe.« Ich hörte mich an wie eine Schallplatte mit Sprung. Ich spürte ihren Ärger, aber ich wusste nicht, was ich damit anfangen sollte.

»Nein. Du verstehst eben nicht. Jeder in deiner engen kleinen Welt lebt und atmet nur für dich, und das ist immer so gewesen. Alles dreht sich um dich. Und du bildest dir ein, bei mir war's genauso. Du kriegst keinen hoch, wenn wir zusammen sind, folglich bin ich so total gefrustet, dass mir nichts Besseres einfällt, als zum größten Arsch von London zu rennen und mit ihm in die Kiste zu springen. Nur wegen dir, Gid. Du bildest dir ein, ich denk, Gid will mich nicht haben, aber der gute alte Rock ist ganz scharf auf mich, und wenn irgendein blödes Arschloch scharf auf mich ist, dann heißt das, dass ich okay bin, dass ich real bin, dass ich wirklich existiere.«

»Libby, ich sage nichts dergleichen.«

»Das brauchst du auch gar nicht. So lebst du, und darum glaubst du, dass alle anderen auch so leben. Aber du lebst in deiner Welt nur für diese dämliche Geige statt für einen anderen Menschen, und wenn die Geige nichts von dir wissen will oder so was, dann weißt du nicht mehr, wer du bist. Genau so läuft's, Gideon. Aber du bist nicht mein Leben. Und die Geige ist nicht deines.«

Ich fragte mich, wie wir soweit gekommen waren. Mir fiel keine klare Antwort ein. Und in meinem Kopf hörte ich nur meinen Vater, der mir vorhielt, dass das dabei herauskommt, wenn man sich mit Amerikanern zusammentut, und von allen Amerikanern sind die schlimmsten die aus Kalifornien. Die führen keine Dialoge, die psychologisieren.

Ich sagte: »Ich bin Musiker, Libby.«

»Nein. Du bist ein Mensch. So wie ich ein Mensch bin.«

»Außerhalb dessen, was er tut, existiert der Mensch nicht.«

»Aber natürlich! Die meisten Menschen existieren ganz prima. Nur die Menschen, die kein Innenleben haben - die, die sich nie die Zeit genommen haben, herauszufinden, wer sie wirklich sind -, die brechen total zusammen, wenn nicht alles so läuft, wie sie sich's vorstellen.«

»Du kannst doch gar nicht wissen, wie dieses - diese Situation - zwischen uns - was für einen Ausgang sie nehmen wird. Ich habe gesagt, dass ich mich in einer schlechten Phase befinde, aber ich bin dabei, sie zu überwinden. Ich arbeite jeden Tag daran.«

»Mensch, du hörst mir echt überhaupt nicht zu.« Sie warf die Gabel hin. Sie hatte nicht einmal die Hälfte ihrer Mahlzeit gegessen, aber sie trug ihren Teller in die Küche, kippte Hühnchen und Broccoli in einen Plastikbeutel und warf ihn in den Kühlschrank. »Du hast nichts, wenn deine Musik dich im Stich lässt. Und du glaubst, dass ich auch nichts habe, wenn's zwischen dir und mir oder Rock und mir oder mir und weiß der Himmel wem nicht klappt. Aber ich bin nicht du. Ich hab mein eigenes Leben. Du bist derjenige, der keines hat.«

»Und genau darum versuche ich, mir mein Leben zurückzuholen. Denn solange mir das nicht gelingt, bin ich weder für mich selbst noch für irgendeinen anderen Menschen gut.«

»Falsch. Du hast nie ein eigenes Leben gehabt. Du hattest immer nur die Geige. Das Geigenspiel, das warst doch nie du! Aber du hast es zu deinem einzigen Lebensinhalt gemacht, und darum bist du jetzt nichts!«

Gewäsch, konnte ich meinen Vater verächtlich sagen hören. Noch einen Monat in der Gesellschaft dieser Person, und das bisschen Verstand, das dir geblieben ist, wird Matsch sein. Das ist das Resultat des regelmäßigen Genusses von Talkshows und Selbsthilfebüchern.

So zwischen meinem Vater und Libby hin und her gerissen, hatte ich keine Chance. Der einzige Ausweg schien mir ein würdevoller Abgang. Ich versuchte, ihn zu bewerkstelligen, indem ich erklärte: »Ich denke, wir haben alles gesagt, was es zu dem Thema zu sagen gibt. Mit Sicherheit lässt sich jedenfalls feststellen, das dies nun mal ein Gebiet ist, auf dem wir unterschiedlicher Meinung sind.«

»Ach ja, achten wir doch darauf, immer nur das zu sagen, was sich mit Sicherheit sagen lässt«, entgegnete Libby. »Denn wir könnten ja tatsächlich imstande sein, uns zu verändern, wenn uns die Lage zu brenzlig wird und wir Angst bekommen.«

Ich war schon an der Tür, aber diese letzte spitze Bemerkung von ihr lag so weit daneben, dass ich sie korrigieren musste. Ich sagte: »Manche Menschen brauchen sich nicht zu verändern, Libby. Sie müssen vielleicht verstehen, was mit ihnen geschieht, aber sie brauchen sich nicht zu verändern.«

Ich ging, bevor sie antworten konnte. Es schien mir von größter Wichtigkeit, das letzte Wort zu haben. Aber als ich die Tür hinter mir schloss - ich tat es sehr behutsam, um ja durch nichts den Eindruck einer feindseligen Reaktion zu erwecken -, hörte ich sie dennoch sagen: »Ja, klar, Gideon.« Und dann schrammte etwas krachend über den Fußboden, so als hätte sie dem Couchtisch einen wütenden Tritt versetzt.

4. November

Ich bin die Musik. Ich bin das Instrument. Sie sieht das als falsch an. Ich nicht. Was ich sehe, ist der Unterschied zwischen uns, der Unterschied, auf den mein Vater mich von dem Moment an aufmerksam zu machen versuchte, als er Libby das erste Mal begegnete. Libby hat nie eine berufliche Ausbildung genossen, auf der sie dann eine Karriere aufzubauen versuchte, und sie ist keine Künstlerin. Sie kann leicht sagen, dass ich nicht meine Geige bin, sie hat ja nie erfahren, was es heißt, ein Leben zu führen, das mit dem Künstlertum untrennbar verbunden und verstrickt ist. Sie hat bisher immer nur »gejobbt«, das heißt, sie ist morgens zur Arbeit gegangen und hat sie am Ende des Tages hinter sich gelassen. So leben Künstler nicht. Wenn jemand annimmt, sie täten oder könnten es, zeigt das eine Ignoranz, vor der man innehalten und überlegen muss.

Was denn überlegen?, fragen Sie.

Was für Möglichkeiten es überhaupt für uns gibt. Für Libby und mich. Ich hatte nämlich eine Zeitlang geglaubt… Ja, es fühlte sich richtig an, dass wir einander begegnet waren. Es schien mir ein ganz entscheidender Vorteil zu sein, dass Libby nicht wusste, wer ich bin, dass sie meinen Namen nicht kannte, als sie ihn auf ihrer Kuriersendung sah, dass sie von meiner Karriere keine Ahnung hatte und es ihr egal war, ob ich Geige spielte oder Drachen baute und diese auf dem Markt in Camden verhökerte. Das gefiel mir an ihr. Aber jetzt wird mir klar, dass ich, wenn ich mein Leben leben will, mit jemandem zusammen sein muss, der es versteht.

Dieser Wunsch nach Verständnis gab mir den Anstoß, mich auf die Suche nach Katie Waddington zu machen, dem Mädchen aus dem Kloster, an die ich mich gut erinnerte, weil sie so oft bei uns am Kensington Square in der Küche gesessen hatte.

Katja Wolff, erzählte mir Katie, als ich sie aufgestöbert hatte, war die eine Hälfte der beiden KWs gewesen. Manchmal, sagte sie, wenn einen mit jemandem eine enge Freundschaft verbinde, mache man den Fehler, anzunehmen, sie werde ewig bestehen, unverändert und bereichernd. Aber das sei nur selten so.

Es war nicht schwierig, Katie Waddington ausfindig zu machen. Und ich war auch nicht weiter überrascht, zu erfahren, dass sie einen beruflichen Weg eingeschlagen hatte, der ganz dem entsprach, was sie zwei Jahrzehnte zuvor stets als ihre Lebensaufgabe bezeichnet hatte. Ich fand sie über die Telefonauskunft und erreichte sie in ihrem Institut in Maida Vale. Das Institut trägt den Namen »Harmonie von Körper und Seele«, und ich vermute, er soll verschleiern, was das Institut vor allem anbietet: Sexualtherapie. Natürlich spricht dort keiner rundheraus von Sexualtherapie. Das würde die meisten Leute abschrecken. Stattdessen reden sie von »Beziehungstherapie«; und die Unfähigkeit, den Geschlechtsverkehr auszuüben, wird »Beziehungsstörung« genannt.

»Sie würden sich wundern, wie viele Menschen sexuelle Probleme haben«, teilte mir Katie auf eine Art mit, die geeignet war, auf den alten Bekannten offen und freundlich, auf den eventuellen Ratsuchenden beruhigend zu wirken. »Wir bekommen täglich mindestens drei Anfragen. Manche unserer Klienten haben Probleme auf Grund von körperlichen Beschwerden - Diabetes, Herzkrankheiten, postoperatives Trauma und Ähnliches. Aber auf jeden Klienten mit einem körperlichen Problem kommen mindestens neun oder zehn mit psychischen Schwierigkeiten. Und das ist ja genau besehen auch kein Wunder - die ganze Nation ist besessen vom Sex, aber alle versuchen ständig, so zu tun, als wäre das nicht wahr. Dabei braucht man sich nur die Boulevardblätter und die Illustrierten anzusehen, da kann man doch den Pegel des sexuellen Interesses genau ablesen. Mich wundert es nur, dass nicht mehr Leute in Therapie kommen. Sie können es mir glauben, ich bin nie jemandem begegnet, der nicht irgendwelche sexuellen Schwierigkeiten hatte. Die Gesunden sind diejenigen, die damit umzugehen lernen.«

Sie führte mich durch einen Korridor, der in warmen Erdfarben gestrichen war, in ihren Arbeitsraum. Ein großer, üppig bewachsener Balkon bildete einen grünen Hintergrund zu einem behaglichen Zimmer mit komfortablen Polstermöbeln und Kissen, einer Sammlung von Keramiken (»Südamerikanisch«, erklärte sie mir) und Körben (»Nordamerikanisch… sind sie nicht wunderschön? Die sind meine verbotene Schwäche. Ich kann sie mir nicht leisten, aber ich kaufe sie trotzdem. Na ja, es gibt sicher schlimmere Laster im Leben.«).

Wir setzten uns und nahmen uns einen Moment Zeit, um uns gegenseitig zu mustern. Im selben warmen, persönlichen und zugleich beruhigenden professionellen Ton sagte Katie: »Also. Was kann ich für Sie tun, Gideon?«

Ich begriff, dass sie glaubte, ich wäre gekommen, um ihren Rat einzuholen, und beeilte mich, sie zu belehren. Zum Glück brauche ich ihr Spezialistenwissen nicht, versicherte ich mit herzlicher Munterkeit. Nein, ich sei gekommen, um sie ein wenig über Katja Wolff auszufragen, wenn sie nichts dagegen habe. Ich würde den Zeitaufwand selbstverständlich bezahlen, da ich ja wohl mit meinem Anliegen einem Klienten die Stunde wegnähme. Aber - hm, Schwierigkeiten der Art, wie sie ihr täglich Brot waren…? Ha, ha, kicher, kicher. Nun, im Augenblick gebe es keinerlei Anlass für eine Intervention dieser Art.

»Na wunderbar. Freut mich, das zu hören!«, sagte Katie und setzte sich bequemer in ihren Lehnsessel, dessen Bezug in Herbstfarben gehalten war, jenen Tönen ähnlich, in denen das Wartezimmer und der Korridor ausgestattet waren. Es war ein äußerst stabiles Möbel, was angesichts von Katies Leibesumfang zweifellos notwendig war. Die fünfundzwanzigjährige Studentin, die früher so oft bei uns zu Hause in der Küche gesessen hatte, war pummelig gewesen, jetzt aber war Katie Waddington schlicht fett, so unförmig, dass sie in keinen Kino- oder Flugzeugsitz mehr passte. Aber sie kleidete sich immer noch in Farben, die ihr schmeichelten, und der Schmuck, den sie trug, war geschmackvoll und sah teuer aus. Dennoch hatte ich Mühe, mir vorzustellen, wie sie es schaffte, sich durch die Stadt zu bewegen. Und noch weniger konnte ich mir vorstellen, dass irgendjemand ihr seine tiefsten libidinösen Geheimnisse anvertrauen würde. Aber es war offensichtlich, dass meine Aversion nicht von allen geteilt wurde.

Das Institut sah nach einem florierenden Unternehmen aus, und mir war es nur deshalb gelungen, zu Katie vorzudringen, weil ein Klient kurz zuvor seine Sitzung abgesagt hatte.

Ich erklärte ihr, ich sei gerade dabei, die Erinnerungen an meine Kindheit aufzufrischen, und da sei sie mir wieder eingefallen. Sie habe doch oft in der Küche gesessen, wenn Katja Sonia gefüttert hatte, und da ich keine Ahnung hätte, wo Katja sich derzeit aufhalte, wollte ich sie - Katie - bitten, mir zu helfen, diese oder jene Lücke in meiner Erinnerung zu füllen.

Zum Glück fragte sie nicht, wie es bei mir zu diesem plötzlichen Interesse an der Vergangenheit gekommen war. Und sie unterließ es auch, vom Gipfel ihres beruflichen Wissens herab einen Kommentar dazu abzugeben, was diese Erinnerungslücken bei mir möglicherweise bedeuten könnten. Stattdessen sagte sie: »Im Kloster haben sie uns immer nur die zwei KWs genannt. >Wo sind die KWs?<, hieß es immer. >Hol doch mal jemand die beiden KWs, damit sie sich das ansehen können.<«

»Sie waren also eng befreundet?«

»Ich war nicht die Einzige, die sich ihr näherte, als sie ins Kloster kam. Aber unsere Freundschaft… na ja, sie ging ziemlich tief. Man könnte schon sagen, dass wir damals eng befreundet waren, ja.«

Auf einem niedrigen Tisch neben ihrem wuchtigen Sessel stand ein kunstvoll gearbeiteter Vogelbauer mit zwei Wellensittichen darin, der eine leuchtend blau, der andere grün. Beim Sprechen öffnete Katie die Käfigtür, packte den blauen Vogel blitzschnell mit ihrer feisten Hand und holte ihn heraus. Er schimpfte und hackte zornig nach ihren Fingern. »Na, na, Joey«, sagte sie und griff nach einem Zungenspatel. Im ersten Moment glaubte ich erschrocken, sie wolle den Vogel damit schlagen. Aber sie strich ihm statt dessen sanft über Kopf und Hals, so dass er sich beruhigte. Ja, das Streicheln schien den Vogel förmlich zu hypnotisieren, und mir erging es nicht viel anders, während ich fasziniert beobachtete, wie die Augen des Vogels sich langsam schlossen. Katie öffnete die Faust, und das Tier sank entspannt in ihre offene Hand.

»Therapeutisch«, erklärte sie mir, während sie die Massage fortsetzte, nun mit den Fingerspitzen, da der Vogel sich beruhigt hatte. »Das senkt den Blutdruck.«

»Ich wusste gar nicht, dass Vögel an hohem Blutdruck leiden können.«

Sie lachte leise. »Nicht Joeys Blutdruck. Meinen. Ich leide, wie nicht zu übersehen, an krankhafter Fettleibigkeit. Mein Arzt prophezeit mir, dass ich keine Fünfzig werde, wenn ich nicht schleunigst mindestens sechzig Kilo abnehme. >Sie sind nicht dick auf die Welt gekommen<, sagt er immer. >Nein, aber ich bin's geworden und geblieben<, sag ich dann. Es ist eine wahnsinnige Belastung für das Herz, und der Blutdruck steigt, dass einem schwindlig werden kann. Aber irgendwas bringt uns alle früher oder später um. Ich habe selbst entschieden, was es sein soll.«

Sie strich mit einem Finger über Joeys gefaltete Schwingen, und er breitete sie aus, immer noch mit geschlossenen Augen.

»Das war es, was mir an Katja gefallen hat. Sie hat ihre eigenen Entscheidungen getroffen, und das hat mir sehr imponiert. Wahrscheinlich, weil das in meiner Familie überhaupt nicht in Frage kam; da sind alle immer nur in die Gastronomie gegangen, ohne überhaupt daran zu denken, dass die Welt noch andere Möglichkeiten bietet, sein Leben zu gestalten. Katja war ein Mensch, der das Leben beim Schopf packte und versuchte, etwas daraus zu machen. Sie hat nicht einfach hingenommen, was ihr zufiel.«

»Ah ja«, meinte ich zustimmend. »Die Flucht im Heißluftballon.«

»Genau. Das ist ein hervorragendes Beispiel. Die Flucht im Bai-Ion, und wie sie das Unternehmen organisiert hat.«

»Aber den Ballon hatte nicht sie gebaut, so viel ich weiß, nicht wahr?«

»Nein, nein. Das meinte ich auch nicht, als ich von >organisieren< sprach. Ich meinte, wie sie Hannes Hertel dazu gebracht hat, sie mitzunehmen. Sie hat ihn tatsächlich erpresst, wenn das, was sie mir erzählt hat, zutrifft, und ich glaube es ihr, denn warum sollte sie lügen? Das ist doch nun wirklich nichts Schmeichelhaftes. Aber so unschön ihre Methoden waren, ich finde, es war ungeheuer mutig von ihr, zu ihm zu gehen und ihm zu drohen. Er war ein großer, kräftiger Kerl, so um die eins achtzig, eins neunzig, nach dem, was sie mir erzählt hat, und er hätte ihr leicht etwas antun können. Er hätte sie sogar umbringen können, würde ich mal sagen, und dann über die Mauer verschwinden können. Es war von ihrer Seite aus ein kalkuliertes Risiko, und sie ist es eingegangen. So einen unbändigen Lebenswillen hatte sie.«

»Womit hat sie ihn erpresst?«

»Womit sie ihm gedroht hat, meinen Sie?« Katie bearbeitete jetzt Joeys anderen Flügel, den er so bereitwillig ausgebreitet hatte wie den ersten. Der grüne Wellensittich im Inneren des Käfigs war auf seiner Stange näher gehüpft und beobachtete die Massage mit starrem Blick. »Sie drohte ihm, ihn anzuzeigen, wenn er sie nicht mitnähme.«

»Diese Geschichte ist nie herausgekommen, nicht wahr?«, sagte ich.

»Nein, ich glaube, ich bin der einzige Mensch, dem sie das je erzählt hat, und sie weiß wahrscheinlich gar nicht, dass sie es getan hat. Wir hatten beide was getrunken, und wenn Katja betrunken war - was wirklich nur höchst selten vorkam -, neigte sie dazu, Dinge zu sagen oder zu tun, an die sie sich vierundzwanzig Stunden später nicht mehr erinnern konnte. Ich habe sie nie auf diese Sache mit Hannes angesprochen, aber ich habe sie deswegen bewundert, weil es zeigte, wie weit sie zu gehen bereit war, um das zu bekommen, was sie wollte. Und da ich ja auch ziemlich weit gehen musste« - sie umfing mit einer Handbewegung ihr Arbeitszimmer und das ganze Institut, fern der gastronomischen Familientradition - »machte uns das in gewisser Weise zu geistigen Schwestern.«

»Sie lebten damals auch im Kloster der Unbefleckten Empfängnis?«

»Guter Gott, nein. Katja war dort untergekommen. Sie arbeitete bei den Nonnen, in der Küche, glaube ich, um für ihr Zimmer zu bezahlen, während sie Englischunterricht nahm. Ich wohnte in dem Studentenheim hinter dem Kloster, am anderen Ende des Geländes. Es lag direkt an der U-Bahn, und Sie können sich wahrscheinlich vorstellen, was da für ein Lärm war. Aber die Miete war billig und die Lage gut, Schulen und Colleges in der Nähe. Damals wohnten dort mehrere hundert Studenten, und die meisten von uns hatten natürlich von Katja gehört.« Sie lächelte. »Und hätten wir nicht von ihr gehört gehabt, so wäre sie uns auf jeden Fall früher oder später aufgefallen. Was diese Frau mit einem Pulli, einer langen Hose und ein paar Schals anstellen konnte, war toll. Sie war unheimlich kreativ in dieser Richtung. Das wollte sie übrigens irgendwann auch beruflich machen: Mode. Und sie hätte es sicher geschafft, wenn die Geschichte damals nicht so böse ausgegangen wäre für sie.«

Genau dahin wollte ich: zum bösen Ausgang, den die Dinge für Katja Wolff genommen hatten, und zu der Frage, wie es soweit gekommen war.

»Sie hatte gar nicht die Voraussetzungen zur Betreuung meiner Schwester, nicht wahr?«, fragte ich.

Katie streichelte jetzt die Schwanzfedern des Vogels, und er breitete sie so bereitwillig aus wie vorher seine Flügel, die er immer noch nicht wieder gefaltet hatte. Er schien in der Tat wie hypnotisiert von der Berührung.

»Sie hat alles für Ihre Schwester getan«, sagte Katie. »Sie hat die Kleine geliebt. Es war wunderbar, zu beobachten, wie sie auf sie einging. Ich habe sie nie anders als unglaublich zart und behutsam im Umgang mit Sonia erlebt. Sie war ein Geschenk des Himmels für Ihre Familie, Gideon.«

Das hatte ich nun überhaupt nicht zu hören erwartet. Ich schloss die Augen und suchte in meinem Gedächtnis nach einem Bild, das mir Katja und Sonia zusammen zeigte. Ich wollte ein Bild haben, das bestätigte, was ich dem rothaarigen Polizeibeamten gesagt hatte, und nicht das, was Katie behauptete.

Ich sagte: »Aber Sie haben sie wahrscheinlich vor allem in der Küche zusammen gesehen, wenn sie Sonia fütterte«, und hielt dabei die Augen geschlossen, um wenigstens dieses Bild heraufzubeschwören: die roten und schwarzen Quadrate des alten Linoleums auf dem Fußboden, den Tisch mit den ringförmigen Spuren, die feuchte Tassen und Gläser auf dem unbearbeiteten Holz hinterlassen hatten, die beiden Erdgeschossfenster mit dem Gitter davor. Ich konnte mich seltsamerweise genau an den Blick auf Beine erinnern, die oben auf dem Bürgersteig an diesen Küchenfenstern vorübergingen, aber es kam kein Bild einer Szene, die bestätigt hätte, was ich später bei der Polizei ausgesagt hatte.

»Das ist richtig«, sagte Katie, »ich habe die beiden in der Küche gesehen. Aber ich habe sie auch im Kloster gesehen. Und draußen auf dem Platz. Und an anderen Orten. Es gehörte ja zu Katjas Aufgaben, Sonias sinnliche Wahrnehmungsfähigkeit zu stimulieren und . « Sie brach ab, hörte auf, den Vogel zu streicheln, und sagte: »Aber das wissen Sie ja alles.«

»Wie ich schon sagte, meine Erinnerungen . «, murmelte ich unbestimmt.

Das reichte schon. Sie fuhr ohne weitere Unterbrechung fort zu erzählen. »Alle Kinder, ob behindert oder nicht, profitieren von sensorischer Stimulation, und Katja achtete darauf, dass Sonia vielfältige Erfahrungen machte. Sie arbeitete mit ihr an der Entwicklung ihrer Motorik und sorgte dafür, dass sie immer auch Eindrücken außerhalb der häuslichen Umgebung ausgesetzt war. Natürlich waren die Möglichkeiten durch die Krankheit ihrer Schwester beschränkt, aber soweit ihr Befinden es zuließ, zog Katja mit ihr durch die Gegend. Und wenn ich freie Zeit hatte, kam ich oft mit. Ich habe sie also zwar nicht jeden Tag, aber doch mehrmals in der Woche mit Ihrer Schwester zusammen gesehen, solange Ihre Schwester am Leben war. Und Katja war rührend zu der Kleinen. Darum konnte ich das Ganze damals überhaupt nicht begreifen - es fällt mir noch heute schwer, es zu verstehen.«

Dieser Bericht unterschied sich so grundlegend von allem, was ich gehört oder in den Zeitungen gelesen hatte, dass ich mich zu einem Frontalangriff genötigt fühlte. »Das deckt sich aber in keiner Hinsicht mit dem, was mir erzählt wurde.«

»Von wem?«

»Von Sarah-Jane Beckett, zum Beispiel.«

»Das überrascht mich nicht«, sagte Katie. »Was SarahJane Beckett erzählt, muss man immer mit Vorbehalt betrachten. Die beiden waren wie Feuer und Wasser, Katja und Sarah-Jane, meine ich. Außerdem spielte auch noch James eine Rolle. Er war ganz verrückt nach Katja und ist jedesmal dahingeschmolzen, wenn sie ihn nur angeschaut hat. Sarah-Jane passte das gar nicht. Es war deutlich zu sehen, dass sie James schon für sich reserviert hatte.«

Das reinste Verwirrspiel, Dr. Rose, diese Geschichten über James, den Untermieter. Ganz gleich, mit wem ich über ihn spreche, immer nimmt die Fabel eine neue Färbung an. Auf ganz subtile Weise, nur eine kleine Abweichung hier und eine kleine Wendung dort - aber es reicht, um mich aus dem Konzept zu bringen und mich zu der Frage zu veranlassen, wem ich nun eigentlich glauben kann.

Vielleicht niemandem, erwidern Sie. Jeder Mensch sieht die Dinge mit seinen eigenen Augen, Gideon. Jeder Mensch legt sich eine Version vergangener Ereignisse zurecht, mit der er leben kann, und diese Version wird für ihn zur Wahrheit.

Ja, aber womit muss Katie Waddington zwanzig Jahre nach dem Verbrechen zu leben versuchen? Ich kann verstehen, womit mein Vater zu leben versucht. Ich kann mir auch vorstellen, womit Sarah-Jane Beckett zurechtzukommen versucht. Aber Katie…? Sie gehörte nicht zum Haus. Ihr einziges Interesse galt der Freundschaft mit Katja Wolff.

Und doch hatte sie mit ihrer Aussage beim Prozess wesentlich dazu beigetragen, Katja Wolffs Schicksal zu besiegeln. Ich hatte das den Zeitungsausschnitten unter der Schlagzeile »Falschaussage des Kindermädchens vor der Polizei« entnommen. Bei ihrem einzigen Gespräch mit den Ermittlern hatte Katja Wolff behauptet, ein Anruf von Katie Waddington hätte sie an dem Abend, an dem Sonia umkam, veranlasst, das Badezimmer zu verlassen, jedoch höchstens eine Minute lang gedauert. Aber Katie Waddington hatte unter Eid ausgesagt, dass sie zu dem Zeitpunkt des angeblichen Telefongesprächs in einem Abendkurs gesessen hatte. Die Aussage des zuständigen Lehrers hatte ihre Aussage bestätigt. Für Katja Wolff, deren Verteidigung ohnehin auf schwachen Füßen stand, war dies ein schwerer Schlag gewesen.

Aber Moment mal! Du lieber Gott, hatte vielleicht auch Katie Waddington ein Auge auf James, den Untermieter, geworfen gehabt? Hatte sie die Ereignisse vielleicht gar irgendwie inszeniert, um Katja Wolff als Konkurrentin aus dem Weg zu räumen?

Als spürte sie, was da in meinen Gedanken schwärte, führte Katie das Thema, das sie zur Sprache gebracht hatte, weiter aus.

»Katja interessierte sich nicht für James. Für sie war er nur jemand, der ihr mit der Sprache weiterhelfen konnte, und ich denke, wenn man es genau nimmt, hat sie ihn benützt. Sie merkte natürlich, dass er sich wünschte, sie würde ihre freie Zeit mit ihm verbringen, und sie tat es gern, solange sie in dieser freien Zeit Sprachunterricht erhielt. James war damit zufrieden. Ich vermute, er hoffte, sie würde sich irgendwann in ihn verlieben, wenn er nur nett genug zu ihr wäre.«

»Er könnte also der Mann sein, der sie damals geschwängert hat?«

»Als Bezahlung für die Englischstunden, meinen Sie? Das bezweifle ich. Sex als Gegenleistung für irgendetwas, das wäre nicht Katjas Stil gewesen. Dann hätte sie ja auch Hannes Hertel Sex anbieten können, damit er sie in seinem Ballon mitnimmt. Aber sie wählte einen ganz anderen Weg, einen gefährlichen Weg, der sie leicht ins Verderben hätte führen können.« Katie, die aufgehört hatte, den blauen Wellensittich zu streicheln, beobachtete den Vogel, der langsam wieder munter wurde. Zuerst glätteten sich die gespreizten Schwanzfedern, dann legte er die Flügel an, und zuletzt öffnete er die Augen und zwinkerte verwundert.

Ich sagte: »Dann hat sie jemand anderen geliebt. Sie müssen doch wissen, wer es war.«

»Ich weiß nichts davon, dass sie irgendjemanden geliebt hat.«

»Aber wenn sie schwanger war -«

»Seien Sie doch nicht naiv, Gideon. Ein Frau braucht nicht verliebt zu sein, um schwanger zu werden. Sie braucht nicht einmal willens zu sein.« Sie setzte den blauen Vogel wieder in den Käfig.

»Wollen Sie sagen -« Ich konnte es nicht einmal aussprechen, so entsetzt war ich bei der Vorstellung, was Katja Wolff widerfahren sein könnte und durch wen.

»Nein, nein«, beschwor Katie hastig. »Sie wurde nicht vergewaltigt. Das hätte sie mir gesagt. Davon bin ich überzeugt. Ich meinte etwas anderes mit meiner Bemerkung…« Sie zögerte und nahm sich einen Moment Zeit, um den grünen Vogel aus dem Käfig zu holen und bei ihm die gleiche Behandlung zu beginnnen, die soeben der blaue erhalten hatte. »Wie ich vorhin schon sagte, sie hat ab und zu ganz gern mal was getrunken. Nicht viel und nicht oft. Aber wenn sie getrunken hat… na ja sie wusste häufig hinterher nicht mehr, was vorgefallen war. Es ist also gut möglich, dass sie selbst keine Ahnung hatte… Das ist die einzige Erklärung, auf die ich gekommen bin.«

»Erklärung wofür?«

»Dass ich von ihrer Schwangerschaft nichts wusste«, antwortete Katie. »Wir haben einander immer alles erzählt. Für mich ist die Tatsache, dass sie zu mir nie ein Wort von ihrer Schwangerschaft gesagt hat, ein Beweis dafür, dass sie selbst keine Ahnung hatte. Es sei denn, sie wollte geheim halten, wer der Vater war.«

In diese Richtung wollte ich nicht weiter vordringen, darum sagte ich: »Wenn sie an ihrem freien Abend getrunken hat und sich in betrunkenem Zustand einmal mit einem Mann einließ, den sie nicht kannte, wollte sie vielleicht nicht, dass das herauskommt. Sie hätte ja dann nur noch schlechter dagestanden, nicht wahr? Besonders beim Prozess. Denn es wurde ja über ihre Persönlichkeit gesprochen, wie ich hörte.« Oder zumindest Sarah-Jane Beckett hatte das getan.

»Ja, und ich hätte mich gern als Leumundszeugin zur Verfügung gestellt«. Katie hörte einen Moment auf, den Kopf des grünen Wellensittichs zu streicheln. »Ich dachte, das wenigstens könnte ich für sie tun, trotz ihrer Lüge wegen des Anrufs. Aber dazu kam es nicht. Ihr Anwalt weigerte sich, mich in den Zeugenstand zu rufen. Und als der Ankläger hörte, dass ich nicht einmal von ihrer Schwangerschaft gewusst hatte… Sie können sich vorstellen, wie er das ausgeschlachtet hat, als er mich ins Verhör nahm: Wie ich dazu käme, mich als Katja Wolffs beste Freundin zu bezeichnen, als die Vertraute, die genau wisse, wozu sie fähig sei und wozu nicht, wenn sie mir nicht einmal genug Vertrauen geschenkt habe, um mich darüber aufzuklären, dass sie schwanger war?«

»Ah, ich verstehe, wie es gelaufen ist.«

»Auf Mord ist es hinausgelaufen. Ich glaubte, ich könnte ihr helfen. Ich wollte ihr helfen. Aber als sie mich bat, in Bezug auf diesen Anruf zu lügen -«

»Sie hat Sie gebeten zu lügen?«

»Ja, ganz recht. Sie hat mich darum gebeten. Aber ich konnte es nicht. Nicht vor Gericht. Für niemanden hätte ich das gekonnt. An dieser Stelle musste ich die Grenze ziehen, und das war das Ende unserer Freundschaft.«

Sie senkte den Blick zu dem Vogel in ihrer Hand, der jetzt den rechten Flügel gespreizt hatte, um ihre Berührung zu spüren. Intelligentes kleines Geschöpf, dachte ich. Sie hatte den Vogel noch nicht mit ihrer Liebkosung gebannt, aber er war schon bereit.

»Merkwürdig, nicht?«, sagte sie zu mir. »Man kann allen Ernstes überzeugt sein, man sei einem anderen Menschen durch eine Freundschaft ganz besonderer Art verbunden, bis man eines Tages erfahren muss, dass es nie das war, wofür man es gehalten hat.«

»Ja«, sagte ich. »Das ist sehr merkwürdig.«