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Yasmin Edwards stand an der Ecke Oakhill und Galveston Road, die Nummer fünfundfünfzig in ihr Hirn gebrannt. Sie fand es abscheulich, was sie hier tat, aber sie tat es trotzdem, von einer Macht gesteuert, die von außerhalb zu wirken und gleichzeitig Bestandteil ihrer selbst zu sein schien.
Ihr Gefühl sagte: Fahr nach Hause, Yasmin. Sieh zu, dass du hier wegkommst. Zurück zu deinen Perücken und zum schönen Schein.
Ihr Verstand sagte: Kommt nicht in Frage, jetzt schlägt die Stunde der Wahrheit.
Zwischen Gefühl und Verstand hin und her gerissen, kam sie sich vor wie so eine dämliche Blondine aus einem Kinothriller, die durch die Dunkelheit zu der verdächtig knarrenden Tür schleicht, während das Publikum ihr zubrüllt, sie solle sich fern halten.
Sie war noch in der Wäscherei vorbeigegangen, bevor sie aus Kennington weggefahren war. Als sie es einfach nicht mehr geschafft hatte, die Gedanken zu verdrängen, die sie seit Tagen belasteten, hatte sie den Laden abgeschlossen und den Fiesta vom Parkplatz in der Siedlung geholt, um direkt nach Wandsworth zu fahren. Aber am Ende der Braganza Street, wo sie erst den Verkehr vorbeilassen musste, ehe sie in die Kennington Park Road einbiegen konnte, flog ihr Blick flüchtig zu der Wäscherei zwischen dem Lebensmittelgeschäft und dem Elektroladen, und sie beschloss, auf einen Sprung hineinzugehen und Katja zu fragen, was sie zum Abendessen haben wollte.
Sie wusste natürlich, dass das nur ein Vorwand war, um die Freundin zu kontrollieren. Aber sie hatte Katja heute Morgen, bevor sie sich getrennt hatten, ja wirklich nicht gefragt, was sie zu Abend essen wollte. Dieser verdammte Bulle, der so unerwartet aufgekreuzt war, hatte sie beide aus dem Konzept gebracht.
Sie suchte sich also einen Parkplatz und lief in den Laden, wo sie zu ihrer Erleichterung Katja bei der Arbeit sah - hinten, über ein zischendes Dampfbügeleisen gebeugt, das sie über die mit Spitzen besetzte Bettwäsche irgendeines Kunden schob. Die Luft im Geschäft, in der sich Hitze, Feuchtigkeit und die Gerüche schmutziger Wäsche mischten, hatte tropische Qualitäten. Keine zehn Sekunden, und Yasmin fühlte sich schwindlig und war völlig durchgeschwitzt.
Sie hatte Mrs. Crushley, die Betreiberin der Wäscherei, nie persönlich kennen gelernt, aber sie erkannte sie sofort an der Art, wie sie sich an ihrer Nähmaschine in Positur setzte, als Yasmin an den Tresen trat. Sie war eine Frau aus der Generation, die ständig darauf hinwies, dass England für »euch und euresgleichen« Krieg geführt habe, eine Frau, die zu jung war, um während eines Konflikts in der jüngsten Geschichte Militärdienst geleistet zu haben, aber gerade alt genug, um sich an ein London zu erinnern, das großenteils von Bürgern angelsächsischer Herkunft bevölkert war.
»Ja? Was wollen Sie?«, fragte sie scharf und musterte Yasmin mit einem Gesicht, als stiege ihr plötzlich ein übler Geruch in die Nase. Yasmin hatte keine schmutzige Wäsche dabei, das machte sie verdächtig. Yasmin war schwarz, das machte sie obendrein gefährlich. Wie leicht konnte sie ein Messer im Rucksack haben. Oder, im wilden Haar versteckt, einen Giftpfeil, den sie von einem Stammesbruder bekommen hatte.
Yasmin sagte höflich: »Kann ich mal kurz mit Katja sprechen?«
»Katja?«, wiederholte Mrs. Crushley in einem Ton, als hätte Yasmin gefragt, ob Jesus Christus zufällig heute arbeite. »Was wollen Sie von ihr?«
»Ich möchte Sie nur mal kurz sprechen.«
»Ich glaub nicht, dass ich das erlauben muss. Die kann froh sein, dass ich sie hier arbeiten lass; für ihr Privatvergnügen bin ich nicht zuständig.« Mrs. Crushley hob das Kleidungsstück hoch, an dem sie gerade arbeitete - ein weißes Herrenhemd -, und biss mit ihren schiefen Zähnen neben dem Knopf, den sie angenäht hatte, das letzte Stück Faden ab.
Hinten im Laden hob Katja den Kopf. Aber anstatt Yasmin mit einem Lächeln zu begrüßen, blickte sie aus irgendeinem Grund an ihr vorbei zur Tür. Und erst dann sah sie Yasmin an und lächelte.
Es war nur eine Kleinigkeit, nichts Besonderes, und früher wäre es Yasmin gar nicht aufgefallen. Jetzt aber achtete sie, wie ihr bewusst wurde, mit geschärften Sinnen auf Katjas Verhalten. Alles war ein Zeichen; alles hatte eine Bedeutung. Und das war nur diesem miesen Bullen zu verdanken.
Mit einem nervösen Blick zu Mrs. Crushley sagte sie zu Katja:
»Ich hab heute Morgen vergessen zu fragen, was du zum Abendessen willst.«
Mrs. Crushley prustete spöttisch: »Ach, was die Gnädige zum Abendessen will? Zu meiner Zeit haben wir gegessen, was auf den Tisch kam.«
Katja trat näher. Yasmin sah, dass sie schweißnass war bis auf die Haut. Die himmelblaue Bluse klebte ihr am Körper, das Haar lag in feuchten Strähnen an ihrem Kopf. Aber noch nie seit sie in der Wäscherei arbeitete, war sie, wenn sie nach Hause kam, in so einer Verfassung gewesen - fertig und verschwitzt -, und sie jetzt so zu sehen, wo der Tag noch nicht einmal zur Hälfte vorbei war, bestärkte Yasmin in ihrem Argwohn. Wenn sie bisher nie so nach Hause gekommen war, hieß das, dass sie vorher immer noch irgendwo anders hinging.
Sie hatte diesen Abstecher in die Wäscherei nur gemacht, um nach Katja zu sehen und sich zu vergewissern, dass sie nicht krank gemacht hatte, weil sie damit bei ihrem Bewährungshelfer schlechte Karten hätte. Aber wie das so geht, wenn man sich einredet, man wolle lediglich seine Neugier befriedigen oder dem anderen helfen, erfuhr Yasmin mehr, als sie wissen wollte.
»Also, was ist?«, sagte sie zu Katja und verzog die Lippen zu einem Lächeln, das sich anfühlte wie eine Grimasse. »Hast du eine Idee? Ich könnte Couscous machen. Mit Lamm. Diese Eintopfgeschichte, du weißt schon.«
Katja nickte. Sie wischte sich Stirn und Oberlippe an ihrem Ärmel. »Ja«, antwortete sie, »das klingt gut. Lamm esse ich gern. Danke, Yas.«
Und dann standen sie einander gegenüber und sprachen kein Wort. Mrs. Crushley beobachtete sie über den Rand ihrer Bifokalgläser hinweg und sagte: »Na, jetzt haben Sie wohl Ihre Auskunft gekriegt, junge Frau. Dann lassen Sie Ihre Freundin mal wieder arbeiten.«
Yasmin presste die Lippen aufeinander, um nicht zu Katja zu sagen: »Wer ist es?«, oder zu Mrs. Crushley: »Scheiß auf dich, weiße Schlampe«. Statt dessen sagte Katja leise: »Ja, ich muss zurück an die Arbeit, Yas. Wir sehen uns heute Abend.«
»Okay«, antwortete Yasmin und ging, ohne Katja zu fragen, wann.
Das wäre die Falle gewesen: die Frage nach der Zeit. Sie hätte sie Katja stellen können. Es wäre ein Leichtes gewesen, im Beisein von Mrs. Crushley, die natürlich wusste, wann Katja abends Schluss machte, zu fragen, wann sie an diesem Abend nach Hause kommen würde, und dabei Mrs. Crushleys Gesichtsausdruck zu beobachten, um ihm zu entnehmen, ob die von Katja genannte Zeit mit ihrer Arbeitszeit übereinstimmte. Aber Yasmin wollte dieser widerlichen Kuh nicht die Genugtuung geben, irgendwelche Schlüsse über ihre - Yasmins - Beziehung zu Katja zu ziehen, deshalb verließ sie das Geschäft, ohne etwas zu sagen, und fuhr nach Wandsworth.
Jetzt stand sie an der Straßenecke im kalten Wind. Sie sah sich die Gegend an und verglich sie mit der Siedlung, die dabei nicht gut abschnitt. Die Straße hier war sauber, als würde sie täglich gefegt. Nirgendwo auf den Bürgersteigen lagen Abfälle oder Laub. Die Laternenpfähle waren nicht fleckig von Hundeurin, und im Rinnstein lagen keine Hundehaufen. Die Hausmauern waren nicht beschmiert, vor den Fenstern hingen weiße Stores, es gab keine Balkone mit Leinen voll müde herabhängender Wäsche; nur eine lange Zeile Reihenhäuser, alle von ihren Bewohnern gut gepflegt.
Hier könnte man glücklich sein, dachte Yasmin. Hier könnte man sich ein besseres Leben aufbauen. Langsam begann sie, die Straße hinunterzugehen. Es war niemand unterwegs, dennoch fühlte sie sich beobachtet. Sie machte den obersten Knopf ihrer Jacke zu und zog einen Schal heraus, um ihr Haar zu bedecken. Sie wusste, dass das albern war. Sie wusste, dass es sie auffällig machte: ängstlich und besorgt, gesehen zu werden. Sie tat es trotzdem, weil sie sich sicher fühlen wollte, unbefangen und selbstbewusst, und bereit war, dieses Ziel zu erreichen.
Bei Nummer fünfundfünfzig angekommen, blieb sie vor dem Gartentörchen stehen und fragte sich in diesem letzten Moment, ob sie wirklich fähig war, bis zum Ende zu gehen; ob sie es wirklich wissen wollte.
Sie verfluchte den Schwarzen, der sie soweit gebracht hatte, voller Wut nicht nur auf ihn, sondern auch auf sich selbst - auf ihn, weil er ihr den Verdacht ins Haus getragen hatte, auf sich selbst, weil sie ihn aufgenommen hatte.
Aber sie musste Gewissheit haben. Sie hatte zu viele Fragen, die vielleicht mit einem einfachen Anklopfen beantwortet werden konnten. Sie konnte nicht wieder gehen, solange sie sich nicht den Problemen gestellt hatte, die sie so lange zu verdrängen versucht hatte.
Sie trat durch die Pforte in einen Vorgarten. Auf dem mit Platten belegten Fußweg ging sie zu der glänzenden roten Haustür mit dem Klopfer aus Messing in der Mitte. Die kahlen Äste herbstlicher Büsche reckten sich über den kleinen Vorplatz, und in einem Drahtkorb standen drei leere Milchflaschen. In einer von ihnen steckte ein zusammengerollter Zettel.
Yasmin bückte sich, um den Zettel herauszuziehen. Vielleicht würde sie im letzten Moment doch verschont bleiben und die Konfrontation vermeiden können - vielleicht würde der Zettel ihr Auskunft geben. Sie strich ihn auf ihrer offenen Hand glatt und las: »Von jetzt ab bitte täglich zwei Fettarme, eine mit Silberfoliendeckel.« Das war alles. Die Handschrift verriet nichts. Alter, Geschlecht, Rasse, Konfession. Jeder konnte die Nachricht geschrieben haben.
Sie ballte ihre Hände zu Fäusten, um sich selbst zu ermutigen, die Rechte zu heben und zum Klopfer zu greifen. Sie trat einen Schritt zurück und richtete ihren Blick auf das Erkerfenster, in der Hoffnung, dort etwas zu entdecken, was sie davor bewahren würde, das zu tun, was sie tun wollte. Aber die Vorhänge waren so dicht wie alle anderen in der Straße: breite Stoffbahnen, die ein wenig Licht ins Zimmer ließen und durch die man abends eine Silhouette erkennen konnte. Bei Tag jedoch wehrten sie die Blicke von außen ab. Es blieb Yasmin also doch nichts anderes als die Tür.
Verdammt noch mal, dachte sie. Ich habe ein Recht darauf, es zu wissen. Entschlossen ging sie zur Tür und schlug mit dem Klopfer energisch auf das Holz.
Sie wartete. Nichts. Sie drückte auf den Klingelknopf und hörte drinnen, dicht bei der Tür, so ein raffiniertes Glockenspiel, das eine Melodie abspielte. Aber das Ergebnis war das Gleiche - nichts.
Yasmin wollte nicht daran denken, dass sie die lange Fahrt von Kennington umsonst gemacht haben könnte. Sie wollte nicht daran denken, wie es sein würde, mit Katja zusammenzusein, als hätte sie keine Zweifel. Es war besser, die Wahrheit zu erfahren, ob gut oder schlecht. Dann würde sie wenigstens ganz klar spüren, was sie als Nächstes zu tun hatte.
Seine Karte lag schwer wie Blei in ihrer Tasche. Sie hatte sie sich erst gestern Abend angesehen und in den Händen gedreht, während die Stunden vergingen, ohne dass Katja nach Hause kam. Katja hatte natürlich angerufen. »Yas, ich komme später«, hatte sie gesagt und hinzugefügt: »Es ist ein bisschen schwierig am Telefon zu erklären. Ich sag's dir nachher, okay?«, als Yasmin gefragt hatte, was denn los sei. Aber es war viel später geworden, als Yasmin erwartet hatte, und nach mehreren Stunden war sie aufgestanden und ans Fenster gegangen, als könnte die Dunkelheit draußen ihr helfen zu verstehen, was vorging. Schließlich hatte sie ihre Jacke geholt und in ihrer Tasche die Karte gefunden, die er ihr im Laden hinterlassen hatte.
Sie starrte auf den Namen: Winston Nkata. Das war afrikanisch. Aber er redete, als wäre er westindischer Herkunft, außer er bemühte sich, amtlich zu sein. Links unten auf der Karte stand eine Telefonnummer, eine Nummer der Metropolitan Police, die sie bestimmt nicht anrufen würde, und gegenüber, auf der rechten Seite, war eine Piepser-Nummer. »Sie können mich jederzeit anpiepsen«, hatte er gesagt. »Rund um die Uhr.«
Hatte er das wirklich gesagt? Ach was, es spielte sowieso keine Rolle, weil es ihr nicht einfallen würde, einem Bullen ihr Herz auszuschütten. Nie im Leben. So blöd war sie nicht.
Sie hatte die Karte wieder in ihre Jackentasche geschoben, und da spürte sie sie jetzt, schwer wie ein Stück Blei, das heiß zu werden begann und immer schwerer wog, ihre rechte Schulter nach unten zog mit ihrem Gewicht und sie dazu trieb, etwas zu tun, was sie ganz bestimmt nicht tun wollte.
Sie trat von dem Haus zurück und ging auf dem Fußweg durch den Garten. Die Hände nach hinten ausgestreckt, ertastete sie die Pforte und manövrierte sich rückwärts hinaus auf die Straße. Wenn jemand auf die Idee kam, hinter diesen Vorhängen heimlich rauszuschauen, dann wollte sie sehen, wer es war. Aber nichts dergleichen geschah. Das Haus war leer.
Sie fasste einen Entschluss, als ratternd ein Lieferwagen eines Zustellungsdiensts in die Galveston Road einbog. Langsam tuckerte er durch die Straße, während der Fahrer nach der Hausnummer Ausschau hielt, die sein Ziel war. Als die richtige Adresse gefunden war, sprang der Fahrer aus dem Wagen und lief, ohne den Motor auszuschalten, zur Haustür, um das Paket abzugeben. Yasmin, die drei Häuser entfernt dastand, wartete. Er klingelte. Nach etwa zehn Sekunden wurde die Tür geöffnet. Ein kurzer höflicher Austausch, eine Unterschrift, und der Mann joggte zu seinem Fahrzeug zurück. Im Vorbeifahren streifte er Yasmin mit einem kurzen Blick, der nicht mehr registrierte als: weiblich, schwarz, kaputtes Gesicht, klasse Körper, okay für eine schnelle Nummer, Dann war er mit seinem Lieferwagen fort.
Yasmin ging auf das Haus zu, wo er sein Paket abgegeben hatte. Sie übte ihren Text. Außer Sichtweite des Fensters, das dem von Nummer fünfundfünfzig aufs Haar glich, blieb sie stehen und kritzelte die Adresse - Galveston Road 55, Wandsworth - auf die Rückseite der Karte des Bullen. Dann zog sie den Schal von ihrem Haar und schlang ihn sich wie einen Turban um den Kopf. Sie nahm ihre bunten Ohrringe ab und öffnete den obersten Knopf ihrer Jacke, um auch ihre Halskette abzulegen, die sie zusammen mit den Ohrringen in ihrer Umhängetasche verschwinden ließ. Dann knöpfte sie die Jacke wieder zu und klappte brav und bieder den Kragen herunter.
So verkleidet für die Rolle, die sie zu spielen gedachte, trat sie in den Garten des Hauses, wo kurz zuvor der Bote sein Paket abgeliefert hatte, und klopfte zaghaft an. Die Tür hatte einen Spion, und sie senkte den Kopf, zog ihre Tasche von der Schulter und hielt sie vor sich wie eine Handtasche. Sie bemühte sich, ihrem Gesicht einen Ausdruck zu verleihen, der zugleich Unterwürfigkeit, Ängstlichkeit, Nervosität und das eifrige Bestreben zu gefallen zeigte.
Gleich darauf hörte sie die Stimme einer Frau. »Ja? Was ist denn?« Die Frau öffnete die Tür nicht, aber die Tatsache, dass sie überhaupt auf ihr Klopfen reagiert hatte, sagte Yasmin, dass sie die erste Hürde genommen hatte.
Sie hob den Kopf. »Ach, bitte, können Sie mir vielleicht helfen?«, fragte sie. »Ich sollte bei Ihrer Nachbarin putzen, aber sie ist anscheinend nicht zu Hause. Nummer fünfundfünzig.«
»Tagsüber arbeitet sie«, rief die Frau durch die Tür.
»Aber ich versteh das nicht…« Yasmin hielt die Karte des Polizisten hoch. »Sehen Sie…?«, sagte sie. »Ihr Mann hat es mir genau aufgeschrieben.«
»Ihr Mann?« Die Frau sperrte endlich auf und öffnete. Sie war mittleren Alters und hielt eine Schere in der Hand. »Oh! Entschuldigung«, sagte sie, als sie bemerkte, dass Yasmins Blick zu der Schere huschte. »Ich habe gerade ein Paket aufgemacht. So. Lassen Sie mich doch mal sehen.«
Yasmin reichte ihr bereitwillig die Karte. Die Frau las die Adresse.
»Ja, stimmt. Hier steht tatsächlich… Aber Sie sprachen von ihrem Mann?« Und als Yasmin nickte, drehte die Frau die Karte um und las, so wie Yasmin am vergangenen Abend gelesen hatte: Winston Nkata, Detective Constable, Metropolitan Police. Dazu eine Telefon- und eine Piepsernummer. Alles absolut seriös.
»Hm, ja, wenn er natürlich bei der Polizei ist…«, sagte die Frau nachdenklich. Aber dann: »Nein. Das kann nur ein Irrtum sein, da bin ich sicher. Hier wohnt niemand namens Nkata.« Sie reichte die Karte zurück.
»Sie sind ganz sicher?« Yasmin zog die Augenbrauen zusammen und bemühte sich, so Mitleid erregend auszusehen, wie es nur ging. »Er hat gesagt, ich solle zum Putzen kommen .«
»Ja, ja, armes Kind, das glaube ich Ihnen. Aber er hat Ihnen aus irgendeinem Grund eine falsche Adresse gegeben. In diesem Haus hat nie jemand namens Nkata gewohnt. Da lebt schon seit Jahren die Familie McKay.«
»McKay?«, fragte Yasmin, und das Herz wurde ihr leichter. Denn wenn Harriet Lewis, Katjas Anwältin, wirklich eine Partnerin hatte und die in diesem Haus lebte, dann waren ihre Ängste grundlos.
»Ja, ja, McKay«, bestätigte die Frau. »Noreen McKay. Zusammen mit ihrer Nichte und ihrem Neffen. Eine sehr nette Frau, sehr angenehm, aber sie ist nicht verheiratet. War es auch nie, so viel ich weiß. Und gewiss nicht mit jemandem namens Nkata, wenn Sie verstehen, was ich meine. Nichts für ungut.«
»Ich -ja. Ja, ich verstehe schon«, flüsterte Yasmin, die kaum fähig war, noch ein Wort herauszubringen, nachdem sie den vollen Namen der Bewohnerin des Hauses Nummer fünfundfünfzig erfahren hatte. »Ich danke Ihnen sehr, Madam. Vielen Dank auch«, sagte sie, bereits zurückweichend.
Die Frau trat weiter vor. »Miss? Ist alles in Ordnung?«, fragte sie.
»Ja, ja. Es ist nur… Wenn man mit Arbeit rechnet und dann enttäuscht wird…«
»Es tut mir wirklich Leid. Wenn nicht gestern gerade meine eigene Zugehfrau hier gewesen wäre, würde ich Ihnen gern Arbeit geben. Sie machen einen angenehmen Eindruck. Würden Sie mir Ihren Namen und Ihre Telefonnummer sagen für den Fall, dass ich doch einmal jemanden brauche? Meine Zugehfrau ist Filipina, wissen Sie, und diese Leute sind ja nicht immer zuverlässig, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Yasmin hob den Kopf. Es wäre unklug gewesen, jetzt das zu sagen, was sie am liebsten gesagt hätte. Im Moment waren andere Dinge wichtiger als die Beleidigungen einer dummen Person. Darum sagte sie: »Das ist sehr freundlich von Ihnen, Madam«, und nannte sich Nora und sagte irgendeine Nummer auf, die ihr gerade in den Kopf kam. Die Frau schrieb alles eifrig auf einen Block, den sie von einem Tisch neben der Tür nahm.
»Gut«, sagte sie, nachdem sie die letzte Ziffer mit einem Schnörkel zu Papier gebracht hatte. »Vielleicht erweist sich unsere zufällige Begegnung für uns beide als nützlich.« Sie lächelte.
»Man weiß ja nie, nicht wahr?«
Allerdings, dachte Yasmin. Sie nickte, ging wieder zur Straße und kehrte noch einmal zum Haus Nummer fünfundfünzig zurück, um einen letzten Blick darauf zu werfen. Sie war wie betäubt, und einen Moment lang versuchte sie, sich einzureden, diese Gefühllosigkeit wäre ein Zeichen dafür, dass ihr das, was sie soeben erfahren hatte, gleichgültig war. Aber sie wusste, dass in Wirklichkeit der Schock alle Gefühle betäubt hatte. Und sie hoffte, wenn der Schock nachließe, würden ihr fünf Minuten bleiben, um zu überlegen, was sie tun sollte, ehe die Wut einsetzte.
Winston Nkatas Piepser meldete sich, als Lynley gerade die Tätigkeitsberichte las, die im Lauf des Morgens von Leachs Leuten eingegangen waren. Da es keine Augenzeugen gab und am Tatort, abgesehen von den Lackpartikeln, keine Spuren, konzentrierten sich die Ermittlungen des Teams auf die Suche nach dem Fahrzeug, mit dem Eugenie Davies niedergefahren und getötet worden war. Aber den Berichten zufolge war man bisher bei Karosseriewerkstätten ebenso wenig fündig geworden wie bei Ersatzteilhändlern, wo man eventuell eine alte Chromstoßstange bekommen konnte.
Lynley blickte von seiner Lektüre auf und sah, dass Nkata intensiv seinen Piepser musterte und sich dabei die Narbe im Gesicht rieb. Er nahm seine Lesebrille ab. »Was ist denn, Winnie?«, fragte er, und Nkata antwortete: »Keine Ahnung, Mann«. Aber er sagte es so bedächtig, als machte er sich seine eigenen Gedanken zu der Frage, und trat dann an den Schreibtisch einer Kollegin, die gerade am Computer arbeitete, um ihr Telefon zu benutzen.
»Ich denke, der nächste Schritt ist Swansea, Sir«, hatte Lynley zu Chief Inspector Leach gesagt, als er nach dem Gespräch mit Raphael Robson mit ihm telefoniert hatte. »Wir haben die Hauptverdächtigen beisammen. Ich schlage vor, wir lassen sie von der zentralen Zulassungsstelle überprüfen und feststellen, ob einer von ihnen neben dem Wagen, den er täglich fährt, noch ein älteres Modell in der Garage stehen hat. Fangen wir mit Robson an, mal sehen, ob sich da was findet.«
Leach hatte zugestimmt. Und mit dieser Suche war nun die junge Beamtin am Computer beschäftigt: nach Eingabe der Namen der in Frage kommenden Personen über die zentrale Zulassungsstelle nach dem Eigentümer eines Oldtimers oder einfach eines Autos alten Baujahrs zu suchen.
»Wir müssen die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass einer unserer Verdächtigen Zugang zu einer Auswahl an Fahrzeugen hat - alten wie neuen«, hatte Leach gemeint. »Er könnte, zum Beispiel, einen Sammler zum Freund haben. Oder einen Autohändler. Oder auch einen Automechaniker.«
»Und ebenso müssen wir die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass der Wagen gestohlen wurde, kürzlich von einer Privatperson erworben, aber nicht angemeldet wurde oder vom Kontinent eigens für die Tat herübergeholt und bereits wieder zurückgebracht wurde, ohne dass irgendjemand etwas gemerkt hat«, sagte Lynley. »Dann kommen wir über die Zulassungsstelle nicht weiter. Aber in Ermangelung von Alternativen .«
»Genau«, stimmte Leach zu. »Was haben wir zu verlieren?«
Bei dieser Frage musste Lynley sofort an Webberly denken, dessen Zustand sich bedenklich verschlechtert hatte.
»Herzinfarkt«, hatte Hillier knapp gesagt, als er von der Intensivstation aus angerufen hatte. »Vor drei Stunden. Der Blutdruck sackte plötzlich ab, das Herz machte Schwierigkeiten, und dann - bumm! Es war ein schwerer Herzinfarkt.«
»Mein Gott!«, sagte Lynley.
»Sie haben ihn mit Elektroschocks behandelt. Zehn oder elf Mal haben sie es versucht, ehe es geklappt hat. Randie war dabei. Sie haben sie zwar rausgeschickt, aber die Alarmsignale und die ganze Panik hat sie natürlich mitbekommen… Furchtbar ist das alles.«
»Was hat man Ihnen gesagt, Sir?«
»Er wird ständig überwacht . sämtliche Funktionen. Er ist an tausend Maschinen und Geräte angeschlossen, überall Schläuche. Er hatte Kammerflimmern. Kann jederzeit wieder passieren.«
»Wie geht es Randie?«
»Sie hält sich tapfer.« Hillier ließ Lynley keine Gelegenheit zu weiteren Fragen, sondern fuhr ohne Pause zu sprechen fort, als wollte er es unbedingt vermeiden, ein Thema zur Sprache zu bringen, das er als tief bedrückend empfand. »Wie kommen Sie in der Sache voran?«, fragte er und war nicht erfreut, zu hören, dass alle Bemühungen Leachs, bei seiner dritten Sitzung mit Pitchley-Pitchford- Pytches irgendetwas Handfestes ans Licht zu bringen, erfolglos geblieben waren. Und genauso wenig freute es ihn, zu hören, dass die Arbeitsgruppen, die an den Tatorten der beiden Anschläge tätig waren, bisher keine neuen Erkenntnisse ermittelt hatten. Er war allerdings nicht unzufrieden über die Informationen aus dem Labor zu den Lackteilchen und zum Alter des Tatfahrzeugs. Aber Informationen - schön und gut, was jetzt anstehe, sei eine gottverdammte Festnahme!
»Ist das bei Ihnen angekommen, Herr AushilfsSuperintendent?«
Lynley holte einmal tief Luft und entschuldigte Hilliers besondere Bissigkeit mit seiner verständlichen Angst um Webberly. Aber natürlich sei das angekommen, versicherte er dem Assistant Commissioner ruhig und fragte dann, ob denn Miranda nichts brauche? Ob man nicht etwas für sie…? Ob Helen sie wenigstens dazu gebracht habe, etwas zu essen?
»Sie ist zu Frances rausgefahren«, sagte Hillier.
»Randie?«
»Nein, Ihre Frau. Laura hat überhaupt nichts erreicht. Sie konnte sie nicht einmal dazu bewegen, das Schlafzimmer zu verlassen. Jetzt will Helen ihr Glück versuchen. Eine tüchtige Person.« Hillier räusperte sich geräuschvoll. Lynley wusste, dass er sich niemals zu einem expliziteren Kompliment versteigen würde.
»Danke, Sir.«
»Halten Sie die Stellung. Ich bleibe hier. Ich möchte nicht, dass Randie ganz allein ist, wenn etwas… ich meine, wenn eine Entscheidung von ihr verlangt werden sollte .«
»Natürlich, Sir. Das verstehe ich.«
Jetzt beobachtete Lynley seinen Constable, der bei seinem Telefongespräch den Hörer hinter hochgezogener Schulter barg, als fürchtete er, belauscht zu werden. Er sah sich das stirnrunzelnd an und fragte, als Nkata aufgelegt hatte: »Und? Was Neues?«
Nkata rieb sich die Hände. »Ich hoffe es. Die Frau, die mit Katja Wolff zusammenlebt, möchte noch mal mit mir reden. Die war's, die mich angepiepst hat. Was meinen Sie, soll ich… ?« Er wies mit dem Kopf zur Tür, aber die Geste schien mehr eine Pflichtübung als eine Bitte um Anweisung, zumal Nkata gleichzeitig mit der Hand auf die Hosentasche klopfte, als könnte er es kaum erwarten, den Autoschlüssel herauszuholen.
Lynley ließ sich durch den Kopf gehen, was Nkata ihm über sein letztes Gespräch mit den beiden Frauen berichtet hatte. »Hat sie Ihnen gesagt, worum es geht?«
»Darüber wollte sie am Telefon nicht reden.«
»Und warum nicht?«
Nkata zuckte die Achseln und verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. »Knackis. Sie wissen doch, wie diese Leute sind, Mann. Die wollen immer selber das Sagen haben.«
Das klang überzeugend. Wenn ein Häftling sich entschlossen hatte, einen Kollegen zu verpfeifen, dann pflegte er selbst festzulegen, wie, wo und wann. Es ging dabei um eine Machtdemonstration, die dazu diente, sein Gewissen zu beschwichtigen, wenn er den Beweis lieferte, dass es unter Gaunern keine Ehre gab. Aber solche Leute hatten für die Polizei wenig übrig, und man war als Polizeibeamter gut beraten, nicht zu vergessen, dass sie einem nur allzu gern Knüppel zwischen die Beine warfen, meist von einer Größe, die in direktem Verhältnis zum Ausmaß ihres Verrats stand.
Er sagte: »Wie heißt sie gleich wieder, Winnie?«
»Wer?«
»Die Frau, die Sie angepiepst hat. Wolffs Wohngenossin.« Und als Nkata es ihm sagte, fragte Lynley, welches Verbrechen Yasmin Edwards ins Gefängnis gebracht hatte.
»Sie hat ihren Ehemann erstochen«, antwortete Nkata. »Mit dem Messer. Dafür hat sie fünf Jahre gesessen. Aber ich hab den Eindruck, dass er sie geprügelt hat. Ihr Gesicht schaut schlimm aus, Inspector. Voller Narben. Sie und die Wolff leben mit ihrem Sohn zusammen. Daniel. Er ist elf oder zwölf. Ein netter kleiner Bursche. Soll ich…« Wieder die eifrige Kopfbewegung zur Tür.
Lynley überlegte, ob es klug sei, Nkata schon wieder allein zur South Side hinüberzuschicken. Gerade sein brennender Eifer stimmte Lynley bedenklich. Einerseits lag Nkata natürlich daran, seine schlechte Arbeit wieder gutzumachen, andererseits war er ziemlich unerfahren, und die Ungeduld, mit der er dem nächsten Gespräch mit Yasmin Edwards entgegenstrebte, ließ befürchten, dass die Objektivität auf der Strecke bleiben würde. Wie damals bei Webberly, dachte Lynley.
Immer kamen sie auf diesen alten Mordfall zurück. Dafür musste es einen Grund geben.
Er sagte: »Kann es sein, dass sie noch eine Rechnung offen hat, diese Yasmin Edwards?«
»Mit mir, meinen Sie?«
»Mit der Polizei im Allgemeinen.«
»Ja, kann schon sein.«
»Dann seien Sie vorsichtig.«
»In Ordnung«, versprach Nkata und eilte, die Autoschlüssel schon in der Hand, aus dem Besprechungsraum.
Als Nkata weg war, setzte sich Lynley an einen Schreibtisch und schob seine Lesebrille auf die Nase. Die Situation, in der sie sich befanden, war zum Wahnsinnigwerden. Er hatte bereits früher mit diesem oder jenen Fall zu tun gehabt, wo sie Berge von Beweismaterial gehabt hatten, aber keinen Täter, dem sie es zuordnen konnten. Er hatte mit Fällen zu tun gehabt, wo man sämtlichen Verdächtigen, die sie befragt hatten, die schönsten Motive hatte nachweisen können, aber nicht einen einzigen Beweis gegen irgendjemanden in der Hand gehabt hatte. Und er hatte mit Fällen zu tun gehabt, wo es bei keinem Verdächtigen an Mittel und Gelegenheit zum Mord gemangelt hatte, aber eben leider an einem klaren Motiv. Diese Sache hier jedoch…
Wie war es möglich, dass zwei Menschen auf belebten Straßen von einem Auto angefahren und einfach liegen gelassen wurden, ohne dass jemand mehr bemerkt hatte als ein schwarzes Fahrzeug?, fragte sich Lynley. Und wie war es möglich, dass das erste Opfer nach dem »Unfall« quer über die Straße geschleppt worden war, ohne dass ein Mensch aufmerksam geworden war?
Die Verlagerung der Leiche von einem Ort an einen anderen war ein wichtiges Detail. Lynley holte sich den letzten Bericht der Gerichtsmedizin, um nachzusehen, was man dort mit den Spuren hatte anfangen können, die an Eugenie Davies' Leichnam gesichert worden waren. Der Pathologe würde die Leiche mit aller Gründlichkeit untersucht und geprüft haben, und wenn - nach dem Regen in der Nacht - auch nur noch der Hauch einer Spur vorhanden gewesen war, dann würde er ihn gefunden haben.
Lynley blätterte in den Unterlagen. Keinerlei Spuren waren unter ihren Fingernägeln; alles Blut an ihrem Körper war ihr eigenes; aus dem Reifenprofil herausgefallene Erdreste zeigten keine verräterischen Merkmale wie etwa Mineralspuren, die für einen bestimmten Teil des Landes typisch waren; Schmutz- und Staubkörnchen in ihrem Haar waren denen auf der Straße ähnlich; zwei einzelne Haare an ihrem Körper - das eine grau, das andere braun -, deren Analyse .
Lynleys Interesse wurde wach. Zwei einzelne Haare, zwei unterschiedliche Farbtöne, eine Analyse. Das klang doch vielversprechend. Stirnrunzelnd las er den Bericht, kämpfte sich durch Beschreibungen von Oberhäutchen, Rindenschicht und Markschicht, die in der Schlussfolgerung kulminierten, dass die beiden Haare von einem Säugetier stammten.
Aber als er weitersuchte und sich durch ein Gewirr aus Fachausdrücken von der »makrofibrillären Ultrastruktur der Medullärzellen« bis zu den »elektrophoretischen Varianten der Proteinbausteine« arbeitete, erfuhr er am Ende lediglich, dass die gerichtsmedizinische Untersuchung der Haare kein schlüssiges Ergebnis zu Tage gefördert hatte. Wie, zum Teufel, war das nun möglich?
Er griff zum Telefon und tippte die Nummer des Labors drüben am anderen Themseufer ein. Nachdem er mit drei Technikern und einer Sekretärin gesprochen hatte, gelang es ihm endlich, jemanden aufzutreiben, der ihm erklärte, wie es möglich war, dass in dieser Hochzeit wissenschaftlichen Fortschritts, wo man mit Hilfe eines mikroskopisch kleinen Hautpartikelchens einen Mörder identifizieren konnte, eine Haaranalyse ohne schlüssiges Ergebnis blieb.
»Wir können nicht einmal sagen, ob die Haare überhaupt vom Täter stammen, Inspector«, erklärte Dr. Claudia Knowles. »Sie könnten ebenso gut von der Toten sein.«
»Wieso denn das?«
»Erstens, weil an keinem von beiden Kopfhaut haftete. Zweitens - und das ist das Gemeine -, weil selbst die Haare, die von ein und derselben Person stammen, keineswegs alle gleich sind, sondern in ihren Merkmalen sehr unterschiedlich sein können. Wir könnten Dutzende von den Haaren des Opfers nehmen und kein einziges Haar finden, das den zwei an dem Körper gefundenen entspricht. Und trotzdem könnten es ihre Haare sein, wegen der möglichen Variationen. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Aber was ist mit einem DNS-Test? Wozu überhaupt nach Haaren suchen, wenn wir sie nicht gebrauchen können -«
»Das stimmt ja nicht. Natürlich können wir sie gebrauchen«, unterbrach ihn Dr. Knowles. »Und wir werden sie gebrauchen. Aber selbst dann werden wir lediglich erfahren - und das geht nicht über Nacht, wie Sie sicherlich wissen -, ob das Haar tatsächlich von Ihrem Opfer stammt. Was natürlich eine Hilfe sein wird. Wenn aber die Haare nicht von der Toten sind, werden Sie nach der Analyse nichts weiter wissen, als dass jemand ihr entweder vor oder nach ihrem Tod nahe genug gekommen ist, um ein oder zwei Haare auf ihrem Körper hinterlassen zu haben.«
»Können es auch zwei Personen gewesen sein, die ihr nahe genug kamen, um je ein Haar auf ihrem Körper zu hinterlassen? Ich meine, da ja das eine grau und das andere braun ist.«
»Ja, sicher, so könnte es gewesen sein. Aber selbst dann ist die Möglichkeit nicht auszuschließen, dass vor ihrem Tod jemand sie ganz einfach umarmte und dabei in aller Unschuld ein Haar auf ihrer Kleidung zurückließ. Und selbst wenn wir das Ergebnis der DNS-Untersuchung vor uns haben und dieses beweist, dass das Haar nicht von einer Person stammt, die ihr zu ihren Lebzeiten innig genug verbunden war, um sie zu umarmen, was fangen wir dann mit diesem Ergebnis an, Inspector, solange wir keine Vergleichsproben haben?«
Ja, natürlich. Das war das Problem. Und dieses Problem würde es immer geben. Lynley dankte Dr. Knowles, legte auf und schob ungeduldig den Bericht zur Seite. Sie brauchten endlich ein wenig Glück.
Noch einmal las er die Aufzeichnungen der Gespräche durch, die er geführt hatte: was Wiley gesagt hatte, was Staines, was Davies, was Robson und der jüngere Davies gesagt hatten. Da musste es doch etwas geben, was er bisher übersehen hatte. Aber bei dem, was er sich aufgeschrieben hatte, fand er es nicht.
Na schön, dachte er. Versuchen wir es eben anders.
Er fuhr kurz entschlossen nach West Hampstead. Crediton Hill war nicht weit von der Finchley Road. Er parkte am oberen Ende, stieg aus dem Wagen und begann langsam loszugehen. Geparkte Autos standen zu beiden Seiten der Fahrbahn, und die Straße wirkte so verlassen und tot wie jede Gegend, deren Bewohner sich tagsüber an ihren Arbeitsplätzen aufhalten und erst abends nach Hause zurückkehren.
Kreidespuren auf dem Asphalt markierten die Stelle, wo die tote Eugenie Davies gelegen hatte. Lynley stellte sich genau dorthin und blickte die Straße entlang in die Richtung, aus der das todbringende Fahrzeug gekommen sein musste. Sie war angefahren und dann mehrmals überrollt worden, was darauf hinzudeuten schien, dass sie entweder nicht weggeschleudert worden war wie Webberly oder aber unmittelbar vor dem Wagen hingefallen war, was es dem Fahrer leicht gemacht hatte, mehrmals über sie hinwegzurollen. Danach hatte er sie an den Fahrbahnrand geschleift und unter einen dort geparkten Pkw, einen Vauxhall, geschoben.
Aber warum? Warum hatte der Mörder es riskiert, beobachtet zu werden? Warum hatte er sie nicht einfach auf der Straße liegen lassen und war schnellstens davongefahren? Es war natürlich möglich, dass er sie an den Straßenrand geschleppt hatte, um dafür zu sorgen, dass sie nicht sofort entdeckt wurde, und auf diese Weise sicher zu stellen, dass sie tot wäre, wenn sie schließlich gefunden würde. Aber überhaupt aus dem Wagen zu steigen war doch recht riskant gewesen! Es sei denn, der Killer hatte triftige Gründe gehabt, das Wagnis einzugehen…
Vielleicht war er ausgestiegen, weil er hier in der Gegend wohnte. Ja, das war möglich.
Aber sonst?
Lynley ging auf dem Bürgersteig weiter und drehte und wendete in Gedanken die Frage nach allen Seiten. Aber das Einzige, was ihm als Erklärung für die Risikobereitschaft des Mörders einfiel, war Eugenie Davies' Handtasche: Etwas, das sie in der Handtasche bei sich gehabt hatte; etwas, von dem der Killer gewusst hatte, dass sie es bei sich trug, und das er unbedingt haben wollte.
Aber die Tasche war unter einem anderen Auto auf der Straße gefunden worden, an einer Stelle, wo der Killer - in Eile und durch die Dunkelheit behindert - sie wahrscheinlich nicht gesehen hatte. Und so weit feststellbar war, fehlte nichts aus der Tasche. Es konnte allerdings sein, dass der Mörder nur einen einzigen Gegenstand herausgenommen - einen Brief vielleicht? - und die Tasche dann unter das Auto geworfen hatte, wo sie schließlich entdeckt worden war.
Lynley ging bedächtigen Schritts weiter und dachte über diese Frage nach und hatte das Gefühl, ein altgriechischer Chor hätte sich in seinem Kopf niedergelassen und deklamierte nun nicht nur sämtliche Möglichkeiten, sondern auch die Folgen, mit denen er zu rechnen hatte, wenn er sich für eine von ihnen entschied und auch nur ein Quäntchen Glauben in sie investierte. Er marschierte mehrere Meter an einigen Häusern vorüber und an den herbstlich gefärbten Hecken entlang, die ihre Gärten umschlossen. Gerade wollte er umkehren und zu seinem Wagen zurückgehen, da stach ihm etwas Glitzerndes auf dem Bürgersteig ins Auge. Es lag ziemlich dicht an einer Eibenhecke, die noch nicht das ehrwürdige Alter der anderen Hecken in der Straße zu haben schien.
Er bückte sich, Sherlock Holmes, der seine Ehre gerettet sieht. Aber der Fund erwies sich nur als eine Glasscherbe, die zusammen mit ein paar anderen vom Bürgersteig in das Beet unter der Hecke gefegt worden war. Er nahm einen Bleistift aus seiner Jackentasche und drehte die Scherben herum, wühlte dann vorsichtig in der Erde und fand noch einige. Und weil er noch nie zuvor bei einer Untersuchung ein Gefühl solch deprimierender Aussichtslosigkeit empfunden hatte, zog er sein Taschentuch heraus und sammelte sie alle ein.
Zurück im Wagen, rief er auf der Suche nach Helen zu Hause an. Es war Stunden her, seit sie ins Charing Cross Hospital gekommen war, Stunden, seit sie zum Haus der Webberlys hinausgefahren war, um sich um Frances zu kümmern. Aber zu Hause war sie nicht, und sie war auch nicht in Chelsea bei St. James. Das war kein gutes Zeichen.
Er fuhr nach Stamford Brook.
Am Kensington Square parkte Barbara ihren Mini dort, wo sie ihn schon einmal geparkt hatte: vor der Reihe von Betonsäulen, die die Zufahrt von der Derry Street sperrten. Sie lief zum Kloster der Unbefleckten Empfängnis hinüber, aber anstatt gleich zur Pforte zu gehen und nach Schwester Cecilia Mahoney zu fragen, zündete sie sich eine Zigarette an und machte einen Abstecher zu dem eleganten Klinkerhaus mit der holländischen Fassade, in dem vor zwanzig Jahren so viel geschehen war.
Es war das höchste Haus auf seiner Straßenseite: vier Stockwerke mit einem Spitzgiebel und einem Souterrain, zu dem vom gepflasterten Vorgarten aus eine schmale Wendeltreppe hinunterführte. Zwei Backsteinsäulen, mit je einem Blätterknauf gekrönt, flankierten das schmiedeeiserne Tor. Barbara druckte es auf, trat in den Vorgarten, schloss es hinter sich und blieb stehen, in die Betrachtung des Hauses versunken.
Mit Lynn Davies' bescheidener kleiner Wohnung war dieses Haus mit den Fenstertüren und Baikonen, den Fensterrahmen aus cremefarben gestrichenem Holz, den feierlichen Ziergiebeln und Simsen, den halbmondförmigen Oberlichten und Buntglasfenstern, das in einer der besten Gegenden Londons stand, nicht zu vergleichen. Der Unterschied zu der Umgebung, in der Virginia ihr Leben verbracht hatte, hätte kaum größer sein können.
Aber neben diesem rein äußerlichen Unterschied gab es noch einen anderen, und über den dachte Barbara jetzt nach, während sie das Haus betrachtete. Dort drinnen hatte, nach Lynn Davies' Worten, ein schrecklicher Mann gelebt; ein Mann, der es nicht ertrug, wenn seine Enkelin, die in seinen Augen missraten war, sich im selben Raum aufhielt wie er. Das Kind war in diesem Haus unerwünscht gewesen, ein Objekt des Abscheus, und darum war Lynn Davies mit Virginia für immer gegangen. Und der alte Jack Davies - der schreckliche Jack Davies - war zufrieden gewesen. Ja, er hatte mit dem Ausgang der Dinge hoch zufrieden sein können, denn das nächste Enkelkind, das sich nach der Wiederverheiratung seines Sohnes einstellte, entpuppte sich als musikalisches Wunderkind.
Ungetrübtes Glück, dachte Barbara. Der Junge griff sich die nächstbeste Geige, wurde berühmt und verlieh dem Namen Davies den Glanz, den er verdiente. Aber dann folgte die Geburt des dritten Enkelkindes, und der alte Jack Davies - der schreckliche Jack Davies - musste erneut der Unzulänglichkeit ins Gesicht sehen.
Diesmal jedoch, bei diesem zweiten missratenen Kind, war die Sache für Jack etwas heikler. Wenn er nämlich mit seinen unaufhörlichen Forderungen, ihm >mit dieser Kreatur nicht unter die Augen zu kommenc, die Mutter aus dem Haus trieb, war damit zu rechnen, dass diese ihr anderes Kind mitnehmen würde. Und dann: Ade Gideon, ade aller Glanz, in dem man sich dank Gideon und den Wunderdingen, die von ihm zu erwarten waren, hätte sonnen können.
Barbara fragte sich, ob ihre Kollegen, die damals den Tod der kleinen Sonia Davies untersucht hatten, überhaupt von Virginia Davies gewusst hatten. Und wenn ja, war es der Familie dann gelungen, die Einstellung des alten Jack Davies zu diesem Kind unter Verschluss zu halten? Wahrscheinlich.
Er hatte im Krieg Entsetzliches durchgemacht, er hatte sich nie wieder davon erholt, er war ein Kriegsheld. Aber er schien auch geistig gestört gewesen zu sein, und woher sollte man wissen, wie weit ein solcher Mensch zu gehen bereit war, wenn irgendetwas nicht seinen Wünschen entsprach?
Barbara ging wieder zur Straße hinaus und zog das Tor hinter sich zu. Sie schnippte den Zigarettenstummel aufs Pflaster und machte sich auf den Weg zum Kloster.
Diesmal traf sie Schwester Cecilia Mahoney in dem großen Park hinter dem Hauptgebäude an. Zusammen mit einer anderen Nonne war sie damit beschäftigt, unter einer gewaltigen alten Platane das Laub zusammenzurechen. Farbenprächtig hoben sich die fünf Blätterhaufen, die sie bisher zusammengeschoben hatten, vom grünen Rasen ab. In der Ferne, wo eine Mauer das Klostergelände begrenzte und gegen die unablässig vorbeidonnernden Zügen der U- Bahn abschirmte, die hier oberirdisch fuhr, bewachte ein Mann in Overall und Wollmütze ein Feuer, in dem ein Teil des Laubs verbrannt wurde.
»Da müssen Sie aber sehr vorsichtig sein«, sagte Barbara zu Schwester Cecilia, nachdem sie sie begrüßt hatte. »Eine Unachtsamkeit, und ganz Kensington geht in Flammen auf. Das wollen Sie doch bestimmt nicht.«
»Und kein Christopher Wren, der ein neues erbauen könnte«, erwiderte Schwester Cecilia. »Keine Sorge, wir sind selbstverständlich sehr vorsichtig, Constable. George lässt das Feuer keinen Moment aus den Augen. Und wenn Sie mich fragen, hat er den besseren Teil gewählt. Wir sammeln hier die Früchte des Feldes, und er bringt Gott das Opfer dar, das dieser gnädig annimmt.«
»Pardon?«
»Eine kleine Anspielung auf die biblische Geschichte«, erklärte die Nonne, während sie ihren Rechen über den Rasen zog. »Kain und Abel. Der Rauch von Abels Feuer stieg zum Himmel auf.«
»Ach so, ja.«
»Sie kennen das Alte Testament nicht?«
»Nur die Stellen, wo es ums Beiwohnen, Erkennen und Zeugen geht. Da kann ich die meisten auswendig.«
Schwester Cecilia lachte und lehnte ihren Rechen an eine Bank, die ganz um den Stamm der großen Platane herumreichte.
»Ja, Beischlaf und Zeugung wurden damals sehr eifrig betrieben, nicht wahr? Aber die guten Leute mussten es ja auch anpacken, sie hatten schließlich den Befehl bekommen, die Welt zu bevölkern.«
Barbara lächelte. »Kann ich Sie kurz sprechen?«
»Gern. Aber Sie möchten sicher lieber hineingehen, nicht wahr?« Die Nonne wartete nicht auf eine Antwort, sondern sagte zu ihrer Gefährtin: »Schwester Rose, darf ich Sie eine Viertelstunde mit der Arbeit allein lassen?«, und ging, als diese nickte, Barbara voraus zu einer kurzen Betontreppe, die sie zur Hintertür des braunen Backsteingebäudes führte.
Sie schritten einen Korridor mit Linoleumboden hinunter zu einer Tür, auf der »Besucherzimmer« stand. Schwester Cecilia klopfte kurz an, und als es hinter der Tür still blieb, öffnete sie diese und sagte: »Möchten Sie vielleicht eine Tasse Tee, Constable? Oder lieber Kaffee? Ein paar Kekse sind sicher auch da.«
Barbara lehnte dankend ab. Sie wolle nur kurz mit ihr sprechen, erklärte sie der Nonne.
»Sie haben nichts dagegen, wenn ich…?« Schwester Cecilia wies auf einen elektrischen Wasserkocher, der neben einer Dose Earl-Grey-Tee und diversen, bunt zusammengewürfelten Tassen und Untertassen auf einem zerkratzten Plastiktablett stand. Sie schaltete den Wasserkocher ein und nahm aus der obersten Schublade einer kleinen Kommode eine Schachtel Würfelzucker, gab drei Stück in eine Tasse und sagte zu Barbara: »Ich habe eine Schwäche für Süßigkeiten. Aber Gott vergibt uns allen unsere kleinen Laster. Ich muss allerdings sagen, dass ich ein weniger schlechtes Gewissen hätte, wenn Sie wenigstens einen Keks nähmen. Es sind kalorienarme - oh, damit will ich natürlich keinesfalls sagen, dass Sie es nötig haben -«
»Ist schon in Ordnung«, unterbrach Barbara. »Ich nehme gern einen Keks.«
Schwester Cecilia lachte spitzbübisch. »Aber es gibt immer nur zwei in einem Päckchen, Constable.«
»Dann geben Sie mal her. Ich werd das schon schaffen.«
Als der Tee fertig war, gesellte sich Schwester Cecilia mit ihrer Tasse und einer Untertasse, auf der ihre Keksration lag, zu Barbara. Sie setzten sich in zwei Kunstledersessel an ein Fenster mit Blick in den Garten, wo Schwester Rose immer noch fleißig arbeitete. Zwischen ihnen stand ein niedriger Tisch, auf dem verschiedene religiöse Zeitschriften und eine sehr abgegriffene Elle lagen.
Barbara berichtete der Nonne von ihrem Gespräch mit Lynn Davies und fragte, ob sie von dieser früheren Ehe und dem ersten Kind von Richard Davies gewusst habe.
Ja, bestätigte Schwester Cecilia, davon habe sie seit langem gewusst; sie habe kurz nach Gideons Geburt durch Eugenie von Lynn und »diesem armen kleinen Seelchen« gehört. »Für Eugenie war es natürlich ein Schock, Constable. Sie hatte bis dahin nicht einmal gewusst, dass Richard Davies geschieden war. Sie hat sehr viel über die Bedeutung der Tatsache nachgedacht, dass er nicht vor der Heirat mit ihr über seine erste Ehe gesprochen hatte.«
»Sie muss sich doch betrogen gefühlt haben.«
»Ach Gott, der persönliche Aspekt der Unterlassung kümmerte sie weniger. Jedenfalls hat sie mit mir darüber nicht gesprochen. Es waren die kirchlichen und religiösen Aspekte, mit denen Eugenie in den ersten Jahren nach Gideons Geburt rang.«
»Was für Aspekte waren denn das?«
»Nun, die Kirche betrachtet die Ehe als einen unauflösbaren Bund zwischen einem Mann und einer Frau.«
»Und hatte Mrs. Davies Angst, die Ehe ihres Mannes mit ihr - seine zweite Ehe! - könnte in den Augen der Kirche ungültig sein? Und die Kinder aus dieser Ehe würden nicht als eheliche Kinder anerkannt werden?«
Schwester Cecilia trank einen Schluck Tee. »Ja und nein«, antwortete sie. »Die Situation wurde durch die Tatsache verkompliziert, dass Richard Davies nicht katholisch war. Er gehörte gar keinem Glauben an, der arme Mensch. Er hatte sich auch nicht kirchlich trauen lassen, darum lautete Eugenies eigentliche Frage, ob er nicht mit seiner ersten Frau Lynn in Sünde zusammengelebt hatte und ob nicht das Kind aus dieser Verbindung - das dann ja in Sünde gezeugt worden wäre - vom Gericht Gottes gezeichnet sei. Und daraus folgend fragte sie sich natürlich als Nächstes, ob sie selbst nicht auch das Gericht Gottes fürchten müsse.«
»Weil sie einen Mann geheiratet hatte, der >in Sünde< gelebt hatte?«
»Nein, nein. Weil ihre Ehe mit ihm nicht in der Kirche geschlossen worden war.«
»Hat die Kirche es nicht gestattet?«
»Es ging nie darum, ob die Kirche es gestattet oder nicht. Richard Davies wollte einfach keine kirchliche Trauung, also fand auch keine statt. Die beiden haben nur standesamtlich geheiratet.«
»Aber hat denn Mrs. Davies als Katholikin nicht auch eine kirchliche Trauung gewünscht? Hätte sie sich nicht kirchlich trauen lassen müssen? Ich meine, damit Gott und der Papst mit ihr einverstanden gewesen wären.«
»Das ist schon richtig, Constable. Aber Eugenie Davies war eine Katholikin nach eigener Fasson.«
»Und was heißt das?«
»Das heißt, dass sie einige Sakramente empfing und andere nicht; einige Lehren akzeptierte und andere nicht.«
»Aber muss man denn beim Eintritt in die Kirche nicht auf die Bibel schwören, dass man sich an die Regeln halten wird oder so was? Ich meine, wir wissen, dass sie nicht katholisch erzogen wurde - nimmt denn die Kirche Mitglieder auf, die sich an einige Regeln halten und an andere nicht?«
»Sie dürfen nicht vergessen, dass die Kirche nicht über eine Geheimpolizei verfügt, die ihre Mitglieder überwacht, Constable«, antwortete die Nonne. »Gott hat jedem von uns ein Gewissen gegeben, damit wir unser Verhalten überprüfen können. Es ist eine Tatsache, dass es viele Themen gibt, zu denen einzelne Katholiken eine andere Meinung haben als die heilige Mutter Kirche, aber ob deshalb ihr Seelenheil gefährdet ist, das könnte nur Gott selbst uns sagen.«
»Mrs. Davies hat aber offenbar geglaubt, dass Gott die Sünder schon zu ihren Lebzeiten straft, sonst wäre sie doch nicht auf die Idee gekommen, Virginia könnte Richard und Lynn von Gott als Strafe gesandt worden sein.«
»Nun, wir wissen doch, dass es von den Leuten häufig so interpretiert wird, wenn jemanden ein Schicksalsschlag trifft. Aber denken Sie an Hiob. Welche Sünde hatte er begangen, dass er von Gott so schwer geprüft wurde?« »Beischlaf zur Linken?«, meinte Barbara. »Ich kann mich nicht erinnern.«
»Sie können sich nicht erinnern, weil es keine Sünde gab. Nur die grausamen Prüfungen seines Glaubens an Gott.« Schwester Cecilia wischte sich die Kekskrümel an den Fingern am groben Stoff ihres Rocks ab und griff nach ihrer Teetasse.
»Haben Sie das damals Mrs. Davies so erklärt?«
»Ich sagte ihr, wenn Gott sie strafen wollte, hätte er ihr sicher nicht als erste Frucht ihrer Ehe mit Richard Davies Gideon gegeben, ein kerngesundes Kind.«
»Und wie war es mit Sonia?«
»Sie meinen, ob sie das Kind als die Strafe Gottes für ihre Sünden betrachtete? Gesagt hat sie es nie, aber ihrer Reaktion nach zu urteilen, als sie von der Krankheit der Kleinen erfuhr… Und als sie dann nach dem Tod des Kindes überhaupt nicht mehr zur Kirche kam…« Schwester Cecilia hob seufzend ihre Tasse zum Mund und hielt nachdenklich inne. Schließlich sagte sie: »Wir können nur Mutmaßungen anstellen, Constable. Wir können nur aus den Fragen, die sie in Bezug auf Lynn und Virginia gestellt hat, zu schließen versuchen, wie es ihr selbst erging und was sie möglicherweise glaubte, als ihr eine ähnliche Prüfung auferlegt wurde.«
»Was war mit den anderen?«
»Mit welchen anderen?«
»Den übrigen Mitgliedern der Familie. Hat sie darüber gesprochen, wie sie reagierten? Auf die Sache mit Sonia, als sie davon erfuhren…?«
»Nein, darüber hat sie nie etwas gesagt.«
»Lynn Davies hat mir erzählt, dass sie auch wegen Richard Davies' Vater gegangen ist. Bei dem waren angeblich mehrere Schrauben locker, aber wiederum nicht so locker, dass er ihr und dem Kind das Leben nicht zur Hölle machen konnte.«
»Eugenie hat nie über die Familie gesprochen.«
»Sie hat nie erwähnt, dass es Leute gab, die Sonia nicht haben wollten? Wie, zum Beispiel, Richard oder sein Vater oder sonst jemand?«
Schwester Cecilias blaue Augen weiteten sich. »Heilige Maria und Josef«, sagte sie. »Nein. Aber nein! In diesem Haus lebten keine bösen Menschen. Menschen mit Sorgen, ja. So wie wir alle von Zeit zu Zeit unsere Sorgen haben. Aber ein kleines unschuldiges Kind nicht haben zu wollen, so dass vielleicht einer von ihnen… ? Nein. Das kann ich von keinem von ihnen glauben.«
»Aber jemand hat die Kleine getötet, und Sie selbst sagten mir gestern, Sie glaubten nicht, dass es Katja Wolff war.«
»Ich glaubte es damals nicht, und ich glaube es heute nicht«, erklärte die Nonne.
»Aber jemand muss es getan haben! Oder wollen Sie mir sagen, das die Hand Gottes herabstieß und das Kind unter Wasser drückte? Wer war es also? Eugenie selbst? Richard? Der Großvater? Der Untermieter? Gideon?«
»Er war acht Jahre alt!«
»Und vielleicht eifersüchtig, dass plötzlich ein zweites Kind da war und ihm die Schau stahl.«
»Also, das konnte Sonia nun wirklich nicht tun.«
»Aber sie konnte ihm die allgemeine Aufmerksamkeit rauben. Sie beanspruchte eine Menge Zeit. Und eine Menge Geld. Vielleicht so viel, dass irgendwann nichts mehr dagewesen wäre. Und was wäre dann aus Gideon geworden?«
»Ein Achtjähriger denkt nicht so weit voraus.«
»Aber jemand anders hat es vielleicht getan, jemand, der ein maßgebliches Interesse daran hatte, dass Gideon weiterhin im Mittelpunkt des Familieninteresses stand.«
»Ja. Hm. Ich wüsste nicht, wer das gewesen sein soll.«
Barbara schwieg, während die Nonne einen halben Keks auf ihre Untertasse legte. Sie schwieg weiter, als Schwester Cecilia zum Wasserkocher ging und ihn einschaltete, um sich eine zweite Tasse Tee zu machen. Bemüht, ihre Vorurteile gegenüber Nonnen zu vergessen, dachte sie über die Auskünfte nach, die sie von dieser Frau hier erhalten hatte, und über die Art, wie sie ihr gegeben worden waren, und gelangte zu dem Schluss, dass die Nonne absolut offen mit ihr war und ihr alles sagte, was sie wusste. Sie hatte berichtet, dass Eugenie Davies nach dem Tod ihrer kleinen Tochter Sonia nicht mehr zur Kirche gekommen war. Und wahrscheinlich hatte sich danach keine Gelegenheit mehr zu den vertrauten Gesprächen geboten, bei denen Eugenie Davies ihr ihr Herz ausgeschüttet und wichtige Dinge mitgeteilt hatte. Sie sagte: »Was ist aus dem anderen Kind geworden?«
»Welches meinen Sie? -Ach so, Sie sprechen von Katjas Kind?«
»Mein Chef hat mich beauftragt, es ausfindig zu machen.«
»Der Junge ist in Australien, Constable. Schon seit seinem zwölften Lebensjahr. Und wie ich Ihnen bereits sagte, als wir uns das erste Mal miteinander unterhielten - wenn Katja den Wunsch hätte, etwas über ihn zu erfahren, wäre sie gleich nach ihrer Freilassung zu mir gekommen. Das müssen Sie mir glauben. Der Adoptionsvertrag macht es den Adoptiveltern zur Auflage jährlich über das Kind zu berichten, ich habe daher stets gewusst, wo er ist, und ich hätte Katja jederzeit alle Auskünfte gegeben, wenn sie darum gebeten hätte.«
»Aber sie hat es nicht getan?«
»Nein.« Schwester Cecilia ging zur Tür. »Bitte entschuldigen Sie mich einen Moment. Ich hole nur rasch etwas, das Sie vielleicht interessieren wird.«
Als die Nonne die Tür hinter sich schloss, begann dass Wasser im Elektrokocher zu sprudeln, und das Gerät schaltete sich aus. Barbara stand auf und goss Schwester Cecilia eine zweite Tasse Earl Grey auf und nahm sich selbst noch ein Päckchen Kekse. Sie hatte drei Stück Zucker in den Tee gegeben und die Kekse hinuntergeschlungen, als Schwester Cecilia mit einem braunen Umschlag in der Hand zurückkehrte.
Sie setzte sich, Füße und Knie aneinander gedrückt, und breitete den Inhalt des Umschlags auf ihrem Schoß aus. Es waren Briefe und Fotografien, sowohl Momentaufnahmen als auch Atelierporträts.
»Der Junge heißt Jeremy«, sagte Schwester Cecilia. »Er wird im Februar zwanzig Jahre alt. Er wurde von einer Familie Watts adoptiert, zusammen mit drei weiteren Kindern. Sie leben jetzt alle in Adelaide. Ich finde, er hat große Ähnlichkeit mit seiner Mutter.«
Barbara nahm die Fotos, die Schwester Cecilia ihr hinhielt, alle zusammen so etwas wie eine Lebensgeschichte des Jungen in Bildern. Jeremy war blond und blauäugig, wenn auch das helle Blond der Kindheit in der Adoleszenz dunkler geworden war. Etwa zu der Zeit, als die Adoptiveltern mit ihm und seinen Geschwistern nach Australien ausgewandert waren, hatte er eine pummelige Phase durchgemacht, sich dann aber zu einem gutaussehenden Jungen entwickelt - gerade Nase, kantiges Kinn, dicht am Kopf anliegende Ohren, ein guter Arier, dachte Barbara.
Sie sagte: »Und Katja Wolff weiß nicht, dass Sie die hier haben?«
»Ich habe es Ihnen ja schon erklärt, sie war kein einziges Mal bei mir. Nicht einmal, als Jeremys Adoption vorbereitet werden musste, wollte sie mit mir sprechen. Es lief alles über die Gefängnisverwaltung. Die Aufsichtsbeamtin teilte mir mit, dass Katja eine Adoption wünschte, und sie benachrichtigte mich, als es soweit war. Ich weiß nicht, ob Katja das Kind je gesehen hat. Ich weiß nur, dass sie den Jungen sofort bei einer Familie untergebracht haben wollte, und ich sollte dafür sorgen, dass das klappte.«
Barbara reichte ihr die Bilder zurück. »Und sie wollte nicht, dass sein Vater ihn zu sich nimmt?«
»Sie wünschte eine Adoption.«
»Wer war der Vater?«
»Darüber haben wir nicht gesprochen. Ich -«
»Hab schon verstanden. Ich weiß. Aber Sie kannten Katja, und sie kannten die anderen. Sie müssen doch einen Verdacht gehabt haben. Es waren drei Männer im Haus: der Großvater, Richard Davies und der Untermieter, ein Mann namens James Pitchford. Wenn man noch Raphael Robson dazunimmt, den Geigenlehrer, waren es vier. Fünf, wenn man Gideon mitzählen will und annimmt, dass Katja sie so jung mochte. Er war in einer Hinsicht frühreif, warum nicht auch in einer weiteren?«
Schwester Cecilia machte ein pikiertes Gesicht. »Katja hat doch keine kleinen Kinder belästigt.«
»Vielleicht hat sie es nicht als Belästigung gesehen. Frauen betrachten das anders, wenn sie einen jungen Mann die Liebe lehren. Es gibt Stämme, wo es Sitte ist, dass die älteren Frauen den Knaben beibringen, was Sache ist.«
»Meinetwegen, aber die Familie Davies war kein Stamm. Und ganz gewiss ist Gideon nicht der Vater dieses Kindes. Ich bezweifle« - die Nonne errötete - »dass er überhaupt fähig gewesen wäre, den Akt auszuüben.«
»Wer auch immer es war, er scheint Grund gehabt zu haben, es zu verheimlichen. Sonst hätte er sich melden und auf das Kind Anspruch erheben können - als Katja zu zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Es sei denn, er wollte nicht als der Mann bekannt werden, der eine Mörderin geschwängert hat.«
»Warum muss es überhaupt jemand aus dem Haus gewesen sein?«, fragte Schwester Cecilia. »Und warum ist es so wichtig, zu wissen, wer es war?«
»Ich weiß nicht, ob es wichtig ist«, gab Barbara zu. »Aber wenn der Vater des Kindes irgendwie in all das verstrickt ist, was Katja Wolff geschehen ist, dann ist er jetzt vielleicht in Gefahr. Vorausgesetzt, sie steckt hinter diesen zwei Anschlägen.«
»Zwei…?«
»Der Kollege, der die Ermittlungen über Sonia Davies' Tod leitete, ist gestern Abend angefahren worden. Er liegt im Koma.«
Schwester Cecilia griff zu dem Kruzifix, das sie an einer Kette um den Hals trug. Sie krümmte ihre Finger darum und hielt es fest. »Ich kann nicht glauben, dass Katja irgendetwas damit zu tun hat.«
»Gut«, sagte Barbara. »Aber manchmal kommt es eben vor, dass wir etwas glauben müssen, was wir nicht glauben wollen. So ist das Leben, Schwester.«
»Nicht mein Leben«, widersprach die Nonne.