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J. W. Pitchley, alias Die Zunge, hatte einen höchst gelungenen Abend hinter sich. Er hatte Regel Nummer eins gebrochen - verabrede dich niemals persönlich mit einem Cybersexpartner -, aber es hatte alles bestens geklappt, und er hatte wieder einmal den Beweis dafür bekommen, dass er ein messerscharfes Gespür für den unvergleichlichen Genuss der überreifen Früchte besaß, die gerade, weil sie so lange unbeachtet am Baum gehangen hatten, umso saftiger waren.
Bescheidenheit und Ehrlichkeit zwangen ihn allerdings zu dem Eingeständnis, dass er in diesem Fall nicht viel riskiert hatte. Eine Frau, die sich Sahnehöschen nannte, ließ ja kaum Zweifel daran, was sie wollte. Und alle noch vorhandene Unsicherheit seinerseits war durch fünf Online-Rendezvous, bei denen er sich in seine Calvin- Klein-Jockeys ergossen hatte, ohne einen Finger rühren zu müssen, beseitigt worden. Im Gegensatz zu den vier anderen Cybergespielinnen, zu denen er gegenwärtig Kontakt hatte und deren orthografischen Kenntnisse bedauerlicherweise meist so beschränkt waren wie ihre Fantasie, verfügte das Sahnehöschen, wie sie sich gern nannte, über einen Einfallsreichtum und eine natürliche Fähigkeit, ihre Fantasien in Worte zu fassen, dass sich sein Schwanz wie eine Wünschelrute aufstellte, sobald sie einloggte.
Sahnehöschen hier, pflegte sie zu schreiben. R U rdy 4 it, Zungenmann?, hast du Lust?
Aber ja. Aber ja. Lust hatte er immer.
Und diesmal hatte er sogar selbst den sprichwörtlichen Sprung ins kalte Wasser gewagt und nicht erst auf die Initiative der anderen Seite gewartet. Das war total untypisch für ihn. Im Allgemeinen machte er bereitwillig jedes Spiel mit und war online stets verfügbar, wenn eine seiner Partnerinnen ein bisschen Action wünschte, aber die persönliche Begegnung anzuregen, das überließ er gewöhnlich den Damen. Diesem Prinzip treu, hatte er dafür gesorgt, dass siebenundzwanzig Super-HighwayBegegnungen zu siebenundzwanzig ungemein befriedigenden körperlichen Begegnungen im Comfort Inn in der Cromwell Road geführt hatten - in kluger Entfernung von seiner Wohnung und beobachtet einzig von einem Nachtportier asiatischer Herkunft, dessen Interesse an Gesichtern weit hinter seiner Leidenschaft für Videos alter BBC-Historienschinken zurückstand. Nur einmal war er zum Opfer eines Cyberstreichs geworden, als ihn bei einer Verabredung statt der Frau, die sich TrauDich genannt hatte, zwei pickelige Zwölfjährige, angezogen wie die Kray-Brüder, erwartet hatten. Aber kein Problem. Den beiden hatte er gründlich den Kopf gewaschen, die würden solche Dummheiten wahrscheinlich so bald nicht wieder machen.
Doch Sahnehöschen faszinierte ihn. Hast du Lust?
Sie hatte es geschafft, ihn beinahe von Anfang an neugierig zu machen. Konnte sie mit dem Körper erfüllen, was ihr Cyberego mit Worten versprach?
Das war ja immer die Frage. Und darüber zu spekulieren und zu fantasieren und sich schließlich die Antwort zu holen war Teil des Spaßes.
Er hatte hart gearbeitet, um Sahnehöschen so weit zu bringen, dass sie ein persönliches Treffen vorschlug. Er hatte neue, schwindelnde Höhen sexueller Ausschweifungen mit dieser Frau erklommen. Und um noch originellere Ideen auf dem Gebiet der Sinnenfreude entwickeln zu können, hatte er im Lauf von zwei Wochen gut sechs Stunden lang in den Utensilien der Lust herumgestöbert, die die fensterlosen Geschäfte in der Brewer Street anzubieten hatten. Als er sich dann eines Tages bewusst wurde, dass er auf der täglichen Bahnfahrt in die City anstatt die Financial Times zu lesen, die Basislektüre seiner beruflichen Laufbahn, in aufregenden Bildern ihrer beider Körper schwelgte, die sich lustgesättigt und aufs Engste ineinander verschlungen auf der hässlichen Tagesdecke eines Betts im Comfort Inn rekelten, wusste er, dass er handeln musste.
Want it 4 real? Hast du Lust auf die Realität?, hatte er ihr schließlich geschrieben. Bist du bereit, etwas zu riskieren?R Urdy 4 a rsk?
Sie war bereit gewesen.
Er schlug vor, was er immer vorschlug, wenn eine seiner Cybergespielinnen eine Zusammenkunft wünschte: Drinks im Valley of Kings, leicht zu finden, nur einen Katzensprung vom Sainsbury's in der Cromwell Road entfernt. Sie könnte mit dem eigenen Wagen kommen, per Taxi, Bus oder U-Bahn, ganz nach Belieben. Und sollte man gleich auf den ersten Blick feststellen, dass die Chemie doch nicht stimmte, so konnte man es bei einem schnellen Drink an der Bar bewenden lassen, und nichts für ungut, okay?
Das Valley of Kings hatte den gleichen unschätzbaren Vorteil zu bieten wie das Comfort Inn: Die Angestellten dort sprachen, wie die der meisten Dienstleistungsunternehmen in London, praktisch kein Englisch und waren unfähig, den einen Engländer vom anderen zu unterscheiden. Er hatte alle siebenundzwanzig seiner Cyberfreundinnen ins Valley of Kings geführt, ohne dass die Kellner oder der Barkeeper auch nur mit einem Wimpernzucken Wiedererkennen gezeigt hatten. Er war daher sicher, auch Sahnehöschen dorthin führen zu können, ohne befürchten zu müssen, von einem der Angestellten verraten zu werden.
Er erkannte sie sofort, als sie hereinkam, und fand es hoch befriedigend, wieder einmal festzustellen, dass er instinktiv gewusst hatte, wie sie sein würde. Um die fünfundfünfzig, proper, dezent parfümiert: keine dahergelaufene Schlampe, die auf Kohle aus war; keine Straßenschnepfe, die höher hinaus wollte; keine Vorstadtfotze, die in die Stadt gekommen war, weil sie hoffte, einen Kerl zu finden, der ihren Lebensstandard verbessern würde. Nein, sie war genau das, was er vermutet hatte: eine einsame geschiedene Frau, deren Kinder aus dem Haus waren und die sich damit abfinden musste, ungefähr zehn Jahre früher, als sie es sich wünschte, Oma genannt zu werden. Sie wollte sich beweisen, dass sie trotz Falten und beginnender Hamsterbäckchen noch immer einen gewissen Sexappeal besaß. Dass er seine eigenen Gründe hatte, sich für sie zu interessieren, obwohl sie gewiss ein Dutzend Jahre älter war als er, spielte keine Rolle. Er war nur zu gern bereit, ihr die Bestätigung zu liefern, die sie suchte.
Und die erhielt sie in Zimmer 109, erster Stock, nur durch eine dünne Wand vom Donnern des Straßenverkehrs getrennt. Ein Zimmer zur Straße - um das er stets mit gedämpfter Stimme bat, bevor er den Zimmerschlüssel holte - schloss von vornherein jede Möglichkeit aus, über Nacht zu bleiben. Niemand, der mit einem normalen Gehör ausgestattet war, hätte in einem der Zimmer zur Cromwell Road hinaus schlafen können, und da eine ganze Liebesnacht mit einer Cyberfrau das Letzte war, wonach ihm der Sinn stand, nutzte er nur zu gern den Straßenlärm, um irgendwann sagen zu können: »Lieber Gott, ist das ein Lärm!«, und damit einen Abgang mit Anstand einzuleiten.
Es war alles gelaufen wie geplant: Nachdem man sich mit Hilfe einiger Drinks körperlich näher gekommen war, hatte man sich ins Comfort Inn begeben und dort nach energischem Beischlaf zu beiderseitiger Befriedigung gefunden. In ihren Aktivitäten war Sahnehöschen - die es verschämt ablehnte, ihren richtigen Namen zu enthüllen - kaum weniger einfallsreich als mit Worten. Erst nachdem sie gemeinsam sämtliche Stellungen und Spielarten des Geschlechtsverkehrs gründlich erforscht hatten, ließen sie, in Schweiß und diverse andere Körperflüssigkeiten gebadet, voneinander ab. Erschöpft blieben sie auf dem Bett liegen und lauschten dem Donnern der Lastzüge, die die A4 hinauf- und hinunterbrausten.
»Mein Gott, ist das ein Lärm«, stöhnte er. »Ich hätte mir ein besseres Hotel einfallen lassen sollen. Hier werden wir nie zum Schlafen kommen.«
»Oh«, sagte sie brav wie auf Kommando, »keine Sorge! Ich kann sowieso nicht bleiben.«
»Nein?« Bedauernd.
Ein Lächeln. »Nein, so weit hatte ich nicht geplant. Es hätte doch leicht sein können, dass wir beide uns persönlich nicht so gut verstehen wie im Netz. Du weißt schon.«
Und wie er das wusste! Blieb nur eine Frage, als er nach Hause fuhr: Was weiter? Zwei Stunden lang hatten sie es getrieben wie die Biber, hatten es beide ungeheuer genossen und sich mit dem Versprechen getrennt, dass man »in Verbindung« bleiben würde. Aber Sahnehöschens Abschiedsumarmung hatte unterschwellig etwas an sich gehabt, das zu ihrer zur Schau getragenen Nonchalance im Widerspruch stand und ihn warnte, lieber eine Weile Abstand zu halten.
Und nach einer langen ziellosen Fahrt durch den Regen, die er brauchte, um sich abzureagieren, beschloss er, genau das zu tun.
Gähnend lenkte er den Wagen in die Straße, in der er wohnte. Nach den körperlichen Anstrengungen des Abends würde er ausgezeichnet schlafen. Durch die Windschutzscheibe blinzelnd, halb eingeschläfert vom eintönigen Surren der Scheibenwischer, fuhr er langsam die Steigung hinauf und setzte mehr aus Gewohnheit als Notwendigkeit den Blinker zum Abbiegen in die Einfahrt zum Haus, als er neben einem Vauxhall Calibra neueren Modells ein vom Regen durchweichtes Kleiderbündel liegen sah.
Er seufzte. Die Leute sind doch wirklich Schweine, dachte er. Werfen ihr Gerümpel einfach auf die Straße, anstatt es zur Kleidersammlung zu geben. Zum Kotzen ist das.
Er wollte schon vorüberfahren, als in dem Wust klatschnasser Lumpen etwas Weißes aufleuchtete, das ihn veranlasste genauer hinzusehen. Ein Strumpf, ein zerfetzter Schal, ein Schlüpfer? Was?
Aber da erkannte er, was es war, und trat schockiert auf die Bremse.
Es war eine Hand, ein Handgelenk, ein kurzes Stück Arm, was sich von dem Schwarz eines Mantels abhob. Eine Schaufensterpuppe, sagte er sich unwirsch zur Selbstberuhigung. Ein geschmackloser Scherz, den sich irgendjemand erlaubt hat. Das Ding ist sowieso zu klein, um ein Mensch zu sein. Und Beine oder ein Kopf sind auch nicht da. Nur dieser Arm.
Aber trotz dieser beruhigenden Überlegungen ließ er sein Fenster herunter. Der Regen schlug ihm ins Gesicht, während er mit zusammengekniffenen Augen das formlose Ding auf dem Boden musterte. Und sah, was noch da war.
Beine. Und ein Kopf. Sie waren nur nicht sofort auf den ersten Blick durch das regenblinde Fenster zu erkennen gewesen, weil der Kopf wie im Gebet tief in den Mantel zurückgezogen war und die Beine bis zum Rumpf unter dem Auto lagen.
Herzinfarkt, sagte er sich, obwohl seine Augen ihm etwas ganz anderes sagten. Aneurisma. Schlaganfall.
Aber was taten die Beine unter dem Auto? Dafür gab es nur eine mögliche Erklärung…
Er griff nach seinem Handy und wählte dreimal die Neun.
Die Grippe hatte Inspector Eric Leach von der Kriminalpolizei schwer erwischt. Er konnte sich vor Gliederschmerzen kaum bewegen. Er hatte einen heißen Kopf und einen rauen Hals und Schüttelfrost. Er hätte sich gleich krank melden sollen, als er den ersten Anflug gespürt hatte, und hätte sich ins Bett legen sollen. Das wäre in zweierlei Hinsicht von Nutzen gewesen: Er hätte den Schlaf nachholen können, den er versäumt hatte, seit er versuchte, sein Leben nach der Scheidung wieder auf die Reihe zu bringen; und er hätte eine gute Entschuldigung gehabt, dem Anruf, der ihn um Mitternacht erreicht hatte, nicht Folge zu leisten. Stattdessen schleppte er sich nun zitternd und zähneklappernd aus seiner spartanisch eingerichteten neuen Wohnung in Regen und Kälte hinaus, wo er sich garantiert eine beidseitige Lungenentzündung holen würde.
Man lernt eben nie aus, dachte er verdrossen. Wenn ich das nächste Mal heirate, bleibe ich verheiratet, verdammt noch mal!
Als er die letzte Linkskurve nahm, sah er weiter vorn schon die blauen Blinklichter der Polizeifahrzeuge. Es war ungefähr zwanzig nach zwölf Uhr nachts, aber die leicht ansteigende Straße vor ihm war taghell erleuchtet von starken Flutlichtern, deren Schein bei jeder Blitzlichtaufnahme des Polizeifotografen noch an Grellheit gewann.
Das nächtliche Treiben vor ihren Häusern hatte die Nachbarn in Scharen ins Freie gelockt, aber weiter als bis zum Rand der Fahrbahn, die auf beiden Seiten mit gelben Plastikbändern abgesperrt war, kamen sie nicht. Hinter den Schranken, die an beiden Straßenenden aufgestellt worden waren, hatte sich bereits eine Meute Pressefotografen eingefunden, diese Geier, die ständig den Polizeifunk abhörten, in der Hoffnung zu erfahren, dass es irgendwo frisches Blut zu fotografieren gab.
Inspector Leach drückte eine Lutschtablette aus der Packung, die er vorsorglich eingesteckt hatte. Er ließ seinen Wagen hinter einem Rettungsfahrzeug stehen, dessen Besatzung in wasserdichte Regenkleidung gehüllt vorn an der Motorhaube lehnte. Die Männer tranken aus einer Thermosflasche Kaffee und taten das mit einer Gemütsruhe, die keinen Zweifel daran ließ, dass ihre Dienste nur noch für eines gebraucht wurden. Leach nickte ihnen zu, als er mit eingezogenem Kopf an ihnen vorübereilte, zeigte dem langen jungen Constable, der die Aufgabe hatte, die Presse abzuwimmeln, seinen Dienstausweis und ging an der Schranke vorbei auf die kleine Gruppe von Kollegen zu, die weiter die Straße hinauf um ein Auto herumstand.
Hier und dort fing er eine Bemerkung der Gaffer auf, als er die ansteigende Straße hinaufstapfte, meist in ehrfürchtigem Ton gemurmelte Weisheiten über die Gleichgültigkeit, mit der der Tod sich seine Opfer sucht. Aber es fiel auch diese oder jene unüberlegte Beschwerde über den Wirbel, der entstand, wenn ein plötzlicher Todesfall in der Öffentlichkeit polizeiliche Untersuchung erforderte. Und als Leach eine dieser Beschwerden hörte, in dem abfällig nörgelnden Ton gesprochen, den er hasste, machte er auf dem Absatz kehrt und marschierte schnurstracks in Richtung der protestierenden Stimme, die ihre Klage soeben mit den Worten schloss: »… dass man ohne jeden ersichtlichen Grund aus dem Schlaf gerissen wird, nur weil diese Zeitungsschmierer ihre niedrigen Instinkte befriedigen wollen.« Er fand die Nörglerin, eine Schreckschraube mit gemeißeltem Haar und einem gelifteten Gesicht, das durch die Operation nicht schöner geworden war. Sie sagte gerade: »Wenn einen die Gemeindesteuern, die man bezahlt, nicht vor derartigen Störungen schützen -«, als Leach sie mit einem lauten Ruf zum nächststehenden Constable unterbrach.
»Sorgen Sie dafür, dass diese Hexe die Klappe hält«, blaffte er.
»Drehen Sie ihr den Kragen um, wenn's nicht anders geht.« Und damit ging er weiter.
Am Unfallort beherrschte im Augenblick der Pathologe die Szene. Unter einem provisorischen Zelt aus Plastikplanen war er, in eine bizarre Kombination aus Tweedhose, Gummistiefeln und Designerregenjacke gekleidet, gerade dabei, die erste Untersuchung der Leiche abzuschließen, und soweit Leach erkennen konnte, hatten sie es entweder mit einem Transvestiten oder einer weiblichen Person unbestimmten Alters zu tun, die schwer verstümmelt war. Die Gesichtsknochen waren zertrümmert; Blut sickerte aus einem Loch, wo einmal ein Ohr gewesen war; nackte Hautstellen auf dem Kopf zeigten, wo das Haar büschelweise herausgerissen worden war; der Kopf lag in natürlichem Winkel, aber unnatürlich verdreht. Es war genau der Anblick, den man sich wünschte, wenn einem vom Fieber sowieso schon übel war.
Der Pathologe Dr. Olav Grotsin schlug sich mit beiden Händen auf die Oberschenkel und stemmte sich in die Höhe. Er zog die Latexhandschuhe aus, warf sie seiner Assistentin zu, und sein Blick fiel auf Leach, der dastand und schaute und sich bemühte, sein Unwohlsein zu ignorieren, während er versuchte, sich ein Bild von dem zu machen, was er sah.
»Sie schauen aus wie Braunbier und Spucke«, sagte Grotsin.
»Was haben wir denn hier?«
»Weibliche Leiche. War vielleicht eine Stunde tot, als ich ankam. Höchstens zwei.«
»Sind Sie sicher?«
»Bezüglich was? Des Geschlechts oder der Zeit?«
»Bezüglich des Geschlechts.«
»Sie hat einen Busen. Verschrumpelt, aber da. Alles Weitere erfahren Sie morgen. Ich schneid sie nicht gern auf offener Straße in Stücke.«
»Was ist passiert?«
»Fahrerflucht. Schwere innere Verletzungen. Ich würde sagen, dass so ziemlich alles zerstört ist, was zerstört werden kann.«
Leach sagte: »Scheiße«, und trat an Grotsin vorbei, um neben der Toten niederzuhocken. Sie lag auf der Seite, den Rücken zur Fahrbahn, nur wenige Zentimeter von der Fahrertür des Calibra entfernt. Der eine Arm war hinter dem Körper verdreht, die Beine steckten unter dem Chassis des Vauxhall. Der Wagen war unberührt, was Leach nicht wunderte. Es war kaum anzunehmen, dass ein Fahrer auf Parkplatzsuche so weit gehen würde, einen auf der Straße liegenden Menschen kurzerhand zu überfahren, um sich einen Platz zu sichern. Er suchte auf dem Leichnam und dem dunklen Regenmantel, den die Tote anhatte, nach Reifenspuren.
»Der Arm ist ausgerenkt«, sagte Grotsin hinter ihm. »Beide Beine sind gebrochen. Und Schaum vorm Mund haben wir auch. Wenn Sie ihren Kopf drehen, sehen Sie's.«
»Der Regen hat ihn nicht weggespült?«
»Der Kopf war geschützt. Er lag unter dem Wagen.«
Geschützt, dachte Leach, ein merkwürdiges Wort in diesem Zusammenhang. Die arme Frau war tot, wer auch immer sie sein mochte. Rötlicher Schaum aus der Lunge konnte heißen, dass sie nicht auf der Stelle tot gewesen war, aber das war ihnen keine Hilfe und dem unglückseligen Unfallopfer erst recht nicht. Es sei denn, es war jemand auf sie gestoßen, solange sie noch gelebt hatte, und die Sterbende hatte ihm noch etwas sagen können.
Leach richtete sich auf und sagte: »Wer hat es gemeldet?«
»Gleich da drüben, Sir.« Grotsins Assistentin wies mit dem Kopf zur anderen Straßenseite, wo, wie Leach jetzt erst bemerkte, in zweiter Reihe ein Porsche Boxster mit blinkendem Warnlicht geparkt war. Zwei uniformierte Polizeibeamte bewachten das Fahrzeug, und nicht weit entfernt stand unter einem gestreiften Regenschirm ein Mann mittleren Alters, dessen Blick beinahe unablässig voller Nervosität zwischen dem Porsche und der einige Meter entfernt liegenden Leiche hin- und herflog.
Leach machte sich auf den Weg zu dem Sportwagen, um ihn sich näher anzusehen. Wenn der Fahrer, der Wagen und das Opfer zusammengehörten, würden sie nicht viel
Arbeit haben, aber schon auf dem Weg zum Wagen war Leach klar, dass das unwahrscheinlich war. Grotsin hatte sicher nicht unbegründet von Fahrerflucht gesprochen.
Dennoch ging Leach aufmerksam um den Porsche herum. Er kauerte vor ihm nieder und musterte prüfend die Vorderfront und die Karosserie. Er prüfte jeden einzelnen Reifen. Er ließ sich auf das regennasse Pflaster hinunter und nahm das Fahrgestell unter die Lupe. Und als er fertig war, beschlagnahmte er den Wagen zur Untersuchung durch die Spurensicherung.
»Also, hören Sie mal! Das ist doch bestimmt nicht nötig«, beschwerte sich der Porschefahrer. »Ich hab doch angehalten! Sobald ich sah - und ich habe es gemeldet. Sie müssen doch einsehen, dass -«
»Das gehört einfach zur Routine«, erklärte Leach dem Mann, dem ein Constable einen Becher Kaffee anbot. »Sie bekommen den Wagen so bald wie möglich wieder zurück. Darf ich um Ihren Namen bitten?«
»Pitchley«, antwortete der Mann. »J. W. Pitchley. Aber im Ernst, das ist ein stinkteurer Wagen, und ich seh keinen Grund - lieber Gott, wenn ich sie angefahren hätte, würde man doch Spuren am Auto sehen.«
»Sie wissen also, dass es sich um eine Frau handelt?«
Pitchley schien verwirrt. »Ich - ich hab's wohl einfach angenommen - ich bin hingegangen - zu ihr, meine ich. Nachdem ich angerufen hatte. Ich bin ausgestiegen und bin hingegangen, weil ich sehen wollte, ob ich was für sie tun kann. Es hätte ja sein können, dass sie noch lebt.«
»Aber sie war tot?«
»Das weiß ich nicht genau. Sie war jedenfalls nicht - ich meine, ich hab gesehen, dass sie bewusstlos war. Sie hat keinen Laut von sich gegeben. Kann sein, dass sie geatmet hat. Aber ich wusste, dass es besser ist, sie nicht anzurühren…« Er trank von seinem Kaffee. Dampf stieg aus dem Becher in die kalte Nachtluft.
»Sie ist arg mitgenommen. Unser Pathologe hat anhand des Busens festgestellt, dass es sich um eine Frau handelt. Wie haben Sie's gemacht?«
Pitchley schien entsetzt über die Unterstellung. Er warf einen Blick über seine Schulter zum Bürgersteig, als fürchtete er, die Gaffer, die immer noch dort standen, könnten sein Gespräch mit dem Polizeibeamten hören und falsche Schlüsse daraus ziehen.
»Ich hab überhaupt nichts gemacht!«, sagte er leise. »Mein Gott, was denken Sie denn? Ich hab natürlich gesehen, dass sie unter dem Mantel einen Rock anhatte.
Und ihr Haar war länger, als Männer es gewöhnlich tragen -«
»Da, wo's ihr nicht ausgerissen worden ist.«
Pitchley zuckte zusammen, sprach aber weiter. »Als ich den Rock sah, hab ich einfach angenommen, dass es eine Frau ist.«
»Und sie hat dort gelegen, wo sie jetzt liegt? Direkt neben dem Vauxhall?«
»Ja. Genau da. Ich hab sie nicht angerührt.«
»Haben Sie auf der Straße jemanden gesehen? Auf dem Bürgersteig? Vor einer Haustür? An einem Fenster? Ganz gleich, wo.«
»Nein, keine Menschenseele. Ich bin ganz normal hier entlanggefahren, und es war alles menschenleer. Die Frau hätte ich auch nicht gesehen, wenn mir nicht ihre Hand - oder ihr Arm, was Weißes jedenfalls - aufgefallen wäre.«
»Waren Sie allein im Wagen?«
»Ja. Ja, natürlich war ich allein. Ich lebe allein. Da drüben. Ein Stück weiter oben.«
Leach machte sich seine Gedanken angesichts der ungefragt erteilten Auskünfte. »Woher kamen Sie, Mr. Pitchley?«
»Aus South Kensington. Ich habe - ich war dort mit einer Freundin beim Essen.«
»Würden Sie mir den Namen der Freundin nennen?«
»Moment mal, stehe ich hier unter Anklage oder was?« Pitchleys Stimme drückte mehr Empörung als Besorgnis aus. »Wenn man sich nämlich dadurch verdächtig macht, dass man brav die Polizei ruft, wenn man eine Leiche findet, rede ich nur noch mit einem Anwalt an meiner Seite. Hallo, Sie da - seien Sie doch so nett und bleiben Sie von meinem Wagen weg!« Dies war an einen dunkelhäutigen Constable gerichtet, der zusammen mit einigen Kollegen Straße und Bürgersteige absuchte.
Aus der Gruppe, die in der Nähe von Pitchley und Leach arbeitete, kam eine Beamtin mit einer Damenhandtasche in den latexgeschützten Händen im Laufschritt auf Leach zu. Der zog selbst Handschuhe über und entfernte sich von Pitchley, nachdem er ihn angewiesen hatte, einem der Beamten, die seinen Wagen bewachten, seine Adresse und Telefonnummer zu hinterlassen. Er traf in der Mitte der Straße mit der Beamtin zusammen und nahm die Handtasche entgegen.
»Wo haben Sie sie gefunden?«
»Da hinten, ungefähr zehn Meter zurück. Unter dem Auto da, dem Montego. Schlüssel und Geldbörse sind drin. Ausweis auch, und Führerschein.«
»Ist sie von hier?«
»Aus Henley«, antwortete die Beamtin.
Leach öffnete die Handtasche, kramte den Schlüsselbund heraus und reichte ihn der Beamtin. »Prüfen Sie mal, ob einer davon zu einem Auto hier in der Gegend passt«, sagte er kurz, und während sie sich auf den Weg machte, um dem Befehl nachzukommen, nahm er die Geldtasche heraus und klappte sie auf, um sich den Ausweis anzusehen.
Nichts rührte sich bei ihm, als er den Namen las. Später fragte er sich, wieso es nicht augenblicklich gefunkt hatte. Aber er fühlte sich zu diesem Zeitpunkt so zerschlagen, dass er sich erst noch die Organspendekarte ansehen und den Namen auf den Schecks lesen musste, bevor er begriff, wer die Frau war.
Er sah von der Handtasche in seinen Händen zu dem zerschundenen Leichnam hinunter, der wie ein Bündel weggeworfener Lumpen auf der Straße lag, und sagte erschüttert: »Mein Gott, Eugenie! Es ist Eugenie.«
Am anderen Ende der Stadt stimmte Constable Barbara Havers tapfer in den Jubelgesang der anderen Partygäste ein und fragte sich, wie viele solcher Hymnen sie noch würde über sich ergehen lassen müssen, ehe sie sich mit Anstand aus dem Staub machen konnte. Die nächtliche Stunde war es nicht, die ihr zu schaffen machte. Zwar würde es ihren Schönheitsschlaf kritisch verkürzen, wenn sie nicht bald ins Bett kam, da aber selbst ein Dornröschenschlaf an ihrer äußeren Erscheinung nichts hätte retten können, lebte sie ganz gut in dem Wissen, dass sie von Glück sagen konnte, wenn sie vier Stunden Schlaf bekam. Nein, was ihr zu schaffen machte, war die Frage, warum man sie und ihre Kollegen von New Scotland Yard in diesem überheizten Haus in Stamford Brook zusammengepfercht hatte und seit nunmehr fünf Stunden hier festhielt.
Natürlich war der fünfundzwanzigste Hochzeitstag ein Grund zum Feiern. Die Paare ihrer Bekanntschaft, die diesen Meilenstein auf dem holprigen Weg der Ehe erreicht hatten, konnte sie an den Fingern einer Hand abzählen. Aber das Paar, um das es hier ging, erschien ihr irgendwie seltsam, als wäre etwas nicht echt. Vom ersten Moment an, als sie das Wohnzimmer betreten hatte, wo gelbes Krepppapier und grüne Ballons nur notdürftig eine Schäbigkeit vertuschten, die mehr mit Gleichgültigkeit als mit Armut zu tun hatte, war sie den Eindruck nicht losgeworden, dass das Jubelpaar und die versammelten Gäste alle in einem Familiendrama mitspielten, für das man ihr - Barbara - keinen Text gegeben hatte.
Anfangs redete sie sich ein, dieses Außenseitergefühl rühre daher, dass sie ungewohnterweise zusammen mit ihren Vorgesetzten feierte, von denen einer sie vor knapp drei Monaten vor dem beruflichen Absturz gerettet hatte, während der andere ihr am liebsten höchstpersönlich den tödlichen Tritt gegeben hätte. Später sagte sie sich, ihr Unbehagen sei darauf zurückzuführen, dass sie wie immer ohne Begleitung auf der Party erschienen war, während alle anderen jemanden mitgebracht hatten. Selbst Constable Winston Nkata, der ihr unter den Kollegen der Liebste war, war mit seiner Mutter gekommen, einer großen imposanten Frau, die in den lebhaften Farben ihrer karibischen Heimat gekleidet war. Am Ende diagnostizierte sie die simple Tatsache, dass andere einen Partner hatten, mit dem sie den Hochzeitstag feiern konnten, und sie nicht, als Quelle ihres Missbefindens und schimpfte sich angewidert einen gemeinen Neidhammel.
Aber nicht einmal diese Erklärung hielt genauerer Prüfung stand. Normalerweise fiel es Barbara nicht ein, Energie an Gefühle wie Neid und Eifersucht zu verschwenden. Zwar wären solche negativen Regungen gerade an diesem Abend verständlich gewesen: Auf allen Seiten umgaben sie heiter schwatzende Paare und Grüppchen - Ehepaare, Eltern mit ihren Kindern, Freundescliquen, Liebespaare -, während sie selbst ohne Kind und Kegel dastand und nicht hoffen konnte, dass sich an dieser Situation etwas ändern würde. Aber nachdem sie sich in bewährter Reaktion auf diese Lage der Dinge mit Köstlichkeiten vom Büfett abgelenkt hatte, war sie sehr schnell dazu übergegangen, mit Dankbarkeit die vielen Freiheiten zu bedenken, die sie sich, ungebunden wie sie war, erlauben konnte, und alle beunruhigenden Gefühle, die ihren Seelenfrieden zu stören drohten, rigoros zu verscheuchen.
Dennoch war sie längst nicht so guter Dinge, wie sie auf so einer Party hätte sein können, und als das Jubelpaar mit vereinten Händen ein Riesenmesser ergriff und einer Torte zu Leibe rückte, die mit Marzipanrosen und Zuckerherzen und den Worten Viel Glück, Malcolm undFrances verziert war, sah Barbara verstohlen in die Runde, um festzustellen, ob außer ihr noch jemand sich mehr für die Uhrzeit interessierte als für die Feier. Nein. Die Aufmerksamkeit aller Gäste war auf Superintendent Malcolm Webberly und seine Ehefrau Frances gerichtet.
Barbara war Webberlys Frau vor diesem Abend nie begegnet, und während sie jetzt zusah, wie diese ihrem Mann einen Bissen Torte in den Mund schob und dann lachend einen von ihm entgegennahm, wurde ihr bewusst, dass sie den ganzen Abend lang jeden Kontakt zu Frances Webberly gemieden hatte. Miranda, die Tochter des Hauses, die für diesen Abend in die Rolle der Gastgeberin geschlüpft war, hatte sie miteinander bekannt gemacht, und sie hatten ein paar höfliche Worte gewechselt, wie das die Form gebot. Wie lange arbeiten Sie schon mit meinem Mann zusammen? undFinden Sie die Arbeit in einem Beruf, wo man rundherum mit Männern in Konkurrenz ist, nicht schwierig? und Was hat Sie denn bewogen, zur Mordkommission zu gehen? Während des ganzen Gesprächs hatte Barbara nur gewünscht, Frances entkommen zu können, obwohl diese durchaus freundlich gewesen war und sie mit ihren vergissmeinnichtblauen Augen herzlich angestrahlt hatte.
Aber vielleicht war es gerade der Blick dieser Augen, der bei ihr Unbehagen hervorrief, der Blick und das, was sich hinter ihm verbarg: ein Gefühl, eine Unruhe, etwas, das spürbar nicht so war, wie es sein sollte.
Aber was genau dieses Etwas war, hätte Barbara nicht sagen können. Sie widmete sich also den, wie sie aus tiefstem Herzen hoffte, letzten Momenten der Party und applaudierte mit den anderen, nachdem die letzten Takte der Gratulationshymne verklungen waren.
»Jetzt verratet uns mal, wie ihr es geschafft habt!«, rief jemand aus der Menge, als Miranda Webberly herankam, um ihre Eltern beim Tortenschneiden abzulösen.
»Indem wir keine großen Erwartungen hatten«, antwortete Frances Webberly prompt und umfasste mit beiden Händen den Arm ihres Mannes. »Das musste ich schon zeitig lernen, nicht wahr, Schatz? Nichts zu erwarten, meine ich. Und es war gut so. Das Einzige, was ich nämlich durch diese Ehe gewonnen habe - abgesehen von meinem Malcolm natürlich -, sind die fünf Kilo, die ich nach der Schwangerschaft mit Randie nie wieder losgeworden bin.«
Die Gästen stimmten in ihr herzliches Gelächter ein. Miranda senkte nur den Kopf und fuhr fort, die Torte aufzuschneiden.
»Das scheint mir doch ein gutes Geschäft gewesen zu sein«, bemerkte Helen Lynley, die Frau von Barbaras direktem Vorgesetzten, Inspector Thomas Lynley. Sie hatte eben einen Teller mit Torte von Miranda entgegengenommen und tätschelte dem jungen Mädchen liebevoll die Schulter.
»Sie sagen es«, stimmte Superintendent Webberly zu. »Wir haben die beste Tochter der Welt.«
»Sie haben natürlich ganz Recht«, sagte Frances mit einem Lächeln zu Helen. »Ohne Randie wäre ich verloren. Aber warten Sie nur, Gräfin, wenn erst für Sie die Zeit kommt, wo Sie dick und schwerfällig werden, dann werden Sie wissen, wovon ich spreche. Lady Hillier, ein Stück Torte?«
Das ist es, dachte Barbara. Das ist es, was nicht stimmt. Gräfin und Lady! Total daneben von Frances Webberly, mit diesen Titeln um sich zu werfen! Helen Lynley machte von ihrem Titel niemals Gebrauch und hätte sich genau wie ihr Mann, der nicht nur Inspector der Kriminalpolizei bei New Scotland Yard war, sondern auch ein waschechter Graf alten Geschlechts, lieber die Zunge abgebissen, als auf ihre adelige Abstammung hinzuweisen. Und Lady Hillier war zwar die Ehefrau von Assistant Commissioner Sir David Hillier - der wiederum keine Gelegenheit ausließ, um jeden, der es hören wollte, wissen zu lassen, dass er geadelt worden war -, aber sie war außerdem Frances Webberlys leibliche Schwester, und wenn Frances sie so förmlich anredete, wie sie es den ganzen Abend getan hatte, dann erschien das beinahe wie ein bewusstes Bemühen, Unterschiede zwischen den beiden hervorzuheben, die sonst ganz sicher unbeachtet geblieben wären.
Alles höchst seltsam, dachte Barbara. Sehr merkwürdig. Irgendwie - bizarr.
Sie beschloss, sich ein wenig zu Helen zu gesellen, von der die Gesellschaft abgerückt zu sein schien, seit Frances Webberly sie mit Gräfin tituliert hatte. Sie stand ganz allein da mit ihrem Kuchenteller in der Hand. Ihrem Mann fiel es offenbar gar nicht auf - typisch Mann -, er war im Gespräch mit zwei Kollegen, Inspector Angus MacPherson, der seine Gewichtsprobleme bekämpfte, indem er ein Stück Torte von der Größe eines Schuhkartons vertilgte, und Inspector John Stewart, der mit zwanghafter Pedanterie die Kuchenkrümel auf seinem Teller zu einem Muster anordnete, das einem Union Jack glich. Barbara beschloss also, Helen aus der Isolation zu retten.
»Und - sind Euer Durchlaucht angetan von den Festivitäten des Abends?«, fragte sie mit leiser Ironie, als sie bei Helen angekommen war. »Oder haben die Untertanen nicht genug gekatzbuckelt?«
»Barbara! Benehmen Sie sich!«, sagte Helen tadelnd, aber sie lachte dabei.
»Das kann ich nicht. Ich hab einen Ruf zu verteidigen.« Barbara nahm dankend ein Stück Torte entgegen und machte sich mit Genuss darüber her. »Euer Schlankheit sollten wenigstens versuchen, sich uns anzugleichen und ein wenig in die Breite zu gehen. Haben Sie mal dran gedacht, Querstreifen zu tragen?«
»Hm, da wäre die Tapete, die ich für das Gästezimmer gekauft habe«, meinte Helen nachdenklich. »Die ist zwar längs gestreift, aber ich könnte sie ja quer verarbeiten.«
»Das schulden Sie uns anderen Frauen einfach. Neben Ihnen sehen wir alle wie Elefantinnen aus. Wie schaffen Sie es nur, allen Versuchungen zum Trotz Ihr Gewicht unverändert zu bewahren?«
»Lange wird mir das wahrscheinlich nicht mehr gelingen«, sagte Helen.
»Na, also da würde ich keine fünf Pfund drauf -« Barbara registrierte plötzlich, was Helen gesagt hatte, sah sie erstaunt an und bemerkte das ungewohnt verschämte Lächeln.
»Himmel und Hölle!«, sagte sie beinahe ehrfürchtig. »Sie sind wirklich… Ich meine, Sie und der Inspector…? Mann, das ist echt Spitze!« Sie sandte einen Blick durchs Zimmer zu Lynley, der, den blonden Kopf leicht zur Seite geneigt, konzentriert irgendeiner Geschichte zuhörte, die Angus MacPherson ihm gerade erzählte.
»Der Inspector hat kein Wort davon gesagt.«
»Wir haben es erst diese Woche erfahren. Es weiß noch keiner. Wir fanden es so am besten.«
»Ach so. Hm. Ja.« Barbara wusste nicht, was sie davon halten sollte, dass Helen Lynley sie soeben ins Vertrauen gezogen hatte. Plötzliche Wärme überflutete sie, und sie musste gegen einen Kloß im Hals kämpfen. »Also, das ist echt toll. Ich gratuliere! Keine Angst, Helen, ich werd das Kind nicht aus dem Sack lassen, solange Sie es nicht wollen.«
Während sie beide noch über das kleine Wortspiel lachten, sah Barbara eine der Frauen vom Partyservice mit einem schnurlosen Telefon in der Hand aus der Küche kommen.
»Ein Anruf für den Superintendent«, verkündete sie in bedauerndem Ton und fügte »Tut mir Leid« hinzu, als meinte sie, sie hätte den Anruf irgendwie verhindern können.
»Oho, hier kommt der Verdruss«, brummte Angus MacPherson, und Frances rief: »Um diese Zeit? Malcolm, du kannst doch jetzt nicht…«
Unter den Gästen entstand teilnehmendes Gemurmel. Sie wussten alle aus eigener direkter oder indirekter
Erfahrung, was so ein Anruf nachts um ein Uhr bedeutete. Und natürlich wusste es auch Webberly. Er sagte: »Kann man nicht ändern, Frances«, und tätschelte ihr kurz die Schulter, bevor er sich das Telefon geben ließ.
Es wunderte Thomas Lynley nicht, dass der Superintendent sich bei seinen Gästen entschuldigte und mit dem Hörer am Ohr die Treppe hinaufging. Es wunderte ihn jedoch, wie lange sein Chef fort blieb. Es vergingen mindestens zwanzig Minuten, und in dieser Zeit aßen die Gäste ihren Kuchen auf, tranken den letzten Schluck Kaffee und begannen von Aufbruch zu sprechen. Frances Webberly protestierte mit nervösen Blicken zur Treppe. Sie könnten doch nicht einfach so gehen, sagte sie, bevor Malcolm Gelegenheit hätte, sich bei ihnen für ihr Kommen zu bedanken. Wollten sie nicht wenigstens auf Malcolm warten?
Über den wahren Grund für ihre hochgradige Nervosität sagte sie nichts. Wenn die Gäste wirklich gingen, bevor ihr Mann sein Telefongespräch beendet hatte, verlangte die Höflichkeit, dass Frances die Leute, die mit ihr und ihrem Mann zusammen gefeiert hatten, zum Abschied in den Garten hinausbegleitete. Aber das konnte sie nicht. Malcolm hatte mit den wenigsten seiner Kollegen je darüber gesprochen, aber Frances hatte seit mehr als zehn Jahren das Haus nicht mehr verlassen.
»Phobien«, hatte er einmal beinahe beiläufig zu Lynley gesagt, als die Rede auf seine Frau gekommen war. »Mit kleinen Dingen, die mir zunächst gar nicht auffielen, fing es an. Und als ich dann aufmerksam wurde, war es bereits so weit, dass sie den ganzen Tag nur im Schlafzimmer saß. In eine Wolldecke gewickelt! Guter Gott, man stelle sich das vor!«
Die Geheimnisse, mit denen Menschen leben, dachte Lynley, während er Frances beobachtete, wie sie mit einer Heiterkeit, die etwas Schrilles hatte, einem Hauch grimmer Entschlossenheit und ängstlichen Eifers zwischen ihren Gästen herumschwirrte. Randie hatte ihre Eltern mit einer Jubiläumsfeier in einem Restaurant in der Nähe überraschen wollen, wo mehr Platz gewesen wäre und die Gäste hätten tanzen können. Aber in Anbetracht von Frances' Zustand war das nicht möglich gewesen, und man hatte sich darauf beschränken müssen, zu Hause zu feiern, in dem ziemlich verwahrlosten alten Haus in Stamford Brook.
Webberly kam schließlich wieder herunter, als die Gäste schon im Aufbruch waren, zur Tür geleitet von seiner Tochter, die mit einem Arm ihre Mutter umschlungen hielt. Es war eine liebevolle Geste von Randie, die einerseits Frances Sicherheit geben, andererseits verhindern sollte, dass diese in Panik von der offenen Tür floh.
»Ihr geht doch noch nicht?«, rief Webberly mit dröhnender Stimme von der Treppe herab. Er hatte sich eine Zigarre angezündet, von der eine dicke blaue Wolke zur Zimmerdecke aufstieg. »Die Nacht ist noch jung.«
»Die Nacht ist der Morgen«, entgegnete Laura Hillier. Sie tätschelte ihrer Nichte liebevoll die Wange. »Das war wirklich ein schönes Fest, Randie. Deine Eltern können stolz auf dich sein.«
Hand in Hand mit ihrem Mann trat sie ins Freie hinaus, wo es endlich aufgehört hatte zu regnen.
Assistant Commissioner Hilliers Abgang wirkte wie ein Signal, und nun begann die Gesellschaft, sich endgültig aufzulösen. Lynley wartete mit Helen zusammen nur noch auf den Mantel seiner Frau, der irgendwo im oberen
Stockwerk ausgegraben werden musste, als Webberly zu ihm trat und leise sagte: »Bleiben Sie noch einen Moment, Tommy. Wenn es Ihnen recht ist.«
Webberlys Gesicht hatte einen angespannten Zug, der Lynley veranlasste, ohne Zögern »natürlich, gern« zu sagen, während Helen neben ihm spontan rief: »Frances, haben Sie nicht zufällig Ihre Hochzeitsbilder in der Nähe? Ich fahre erst nach Hause, wenn ich Sie an Ihrem schönsten Tag gesehen habe.«
Lynley warf ihr einen dankbaren Blick zu.
Zehn Minuten später war das Haus leer, und während Helen sich mit Frances Webberly Fotos ansah und Miranda den Leuten vom Partyservice beim Aufräumen half, zogen sich Lynley und Webberly ins Arbeitszimmer zurück, einen engen kleinen Raum, in dem selbst das spärliche Inventar - Schreibtisch, Sessel, Bücherregale - kaum Platz hatte.
Vielleicht aus Rücksicht auf Lynley ging Webberly zum Fenster und öffnete es, um den Rauch seiner Zigarre hinauszulassen. Kalte, regenschwere Herbstluft strömte ins Zimmer.
»Setzen Sie sich, Tommy.« Webberly selbst blieb am Fenster stehen, ein Schatten jenseits des Lichts, das von der Deckenlampe herabfiel, und kaute auf der Unterlippe, als wüsste er nicht recht, wie er in Worte fassen sollte, was er zu sagen hatte. Lynley wartete schweigend.
Draußen auf der Straße krachte die Gangschaltung eines Autos, drinnen im Haus wurden knallend Küchenschränke zugeschlagen. Die Geräusche schienen Webberly aus seiner Unschlüssigkeit zu reißen. Er blickte auf und sagte: »Das war eben ein Kollege namens Leach am Telefon. Wir waren früher Partner. Ich hatte ihn seit Jahren nicht mehr gesprochen. Es ist schon traurig, wenn man sich so aus den Augen verliert. Ich weiß nicht, wie es kommt, aber es ist so.«
Lynley war klar, dass Webberly ihn nicht zu bleiben gebeten hatte, um ihm melancholische Vorträge über den Zustand einer alten Freundschaft zu halten. Dazu war Viertel vor zwei Uhr nachts weiß Gott nicht die geeignete Zeit. Aber um dem Mann, mit dem er schon so lange zusammenarbeitete, das Reden zu erleichtern, sagte er: »Ist Leach noch bei der Polizei, Sir? Ich glaube, ich kenne ihn nicht.«
»Nordwest-London«, erwiderte Webberly. »Er und ich haben vor zwanzig Jahren zusammengearbeitet.«
»Ah.« Lynley rechnete. Webberly wäre damals fünfunddreißig gewesen, das hieß, dass er von seiner Dienstzeit in Kensington sprach. »Kripo?«, fragte er.
»Er war mein Sergeant. Er ist jetzt in Hampstead Leiter der Mordkommission. Inspector Eric Leach. Ein guter Mann. Ein sehr guter Mann.«
Lynley betrachtete Webberly nachdenklich: das dünne, von Grau durchzogene, blonde Haar hastig über die Stirn gebürstet; der von Natur aus frische rosige Teint blass, der Kopf halb gesenkt, als drückte eine allzu schwere Last auf seinen Schultern. Ein Gesamtbild, das nur eine Erklärung zuließ - schlechte Nachrichten.
Ohne aus dem Schatten zu treten, sagte Webberly: »Er bearbeitet einen Fall von Fahrerflucht in West Hampstead. Darum hat er angerufen. Die Geschichte ist heute Abend um zehn oder elf Uhr passiert. Das Opfer ist eine Frau.« Er hielt inne, schien auf eine Reaktion von Lynley zu warten. Als Lynley sich mit einem kurzen Nicken begnügte - Fahrerflucht kam in einer Großstadt, wo Ausländer leicht vergaßen, auf welcher Straßenseite sie zu fahren hatten, in welche Richtung sie zu schauen hatten, wenn sie zu Fuß gingen, erschreckend häufig vor -, senkte Webberly den Blick auf seine Zigarre und räusperte sich. »Nach Lage der Dinge vermuten die Kollegen von der Spurensicherung, dass jemand sie zunächst angefahren und danach bewusst noch einmal überfahren hat; dass der Betreffende dann ausgestiegen ist, den Leichnam an den Straßenrand gezerrt hat und weggefahren ist.«
»O Gott«, murmelte Lynley.
»Ihre Handtasche wurde ganz in der Nähe gefunden. Mit Schlüsseln und Ausweispapieren. Und ihr Auto war auch nicht weit weg in derselben Straße abgestellt. Auf dem Beifahrersitz lagen ein Londoner Stadtplan und ein Zettel mit einer Wegbeschreibung zu der Straße, in der sie getötet wurde. Eine Adresse war auch dabei: Crediton Hill zweiunddreißig.«
»Und wer wohnt dort?«
»Der Mann, der die Frau gefunden hat, Tommy. Er fuhr ganz zufällig keine Stunde nach dem >Unfall< durch eben diese Straße.«
»Hat er die Frau bei sich zu Hause erwartet? War er mit ihr verabredet?«
»Soweit wir wissen, nicht, aber wir wissen bis jetzt noch nicht viel. Leach sagte, der Bursche machte ein Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen, als sie ihm mitteilten, dass die Frau einen Zettel mit seiner Adresse in ihrem Wagen liegen hatte. Er sagte angeblich nur: >Das ist ausgeschlossen^ und rief dann sofort seinen Anwalt an.«
Was natürlich sein gutes Recht war, wenn auch etwas verdächtig als erste Reaktion auf die Nachricht, dass man bei der Toten seine Adresse gefunden hatte.
Aber Lynley verstand noch immer nicht, wieso dieser Fall von Fahrerflucht, so merkwürdig die Umstände seiner Entdeckung waren, für Inspector Leach Anlass gewesen waren, Webberly noch nachts um ein Uhr anzurufen, und wieso Webberly sich bemüßigt fühlte, ihm - Lynley - jetzt von diesem Anruf zu berichten.
»Sir«, sagte er, »fühlt Inspector Leach sich mit diesem Fall aus irgendeinem Grund überfordert? Läuft es bei der Mordkommission Hampstead nicht so, wie es laufen sollte?«
»Sie wollen wissen, warum er angerufen hat? Und warum ich jetzt Ihnen mit der Sache komme?« Webberly ließ sich schwer in den Sessel hinter seinem Schreibtisch fallen und sagte, ohne auf Lynleys Antwort zu warten: »Wegen der Frau, die bei dem Unfall ums Leben kam, Tommy. Es ist Eugenie Davies, und ich möchte, dass Sie sich zusammen mit Leach um den Fall kümmern. Ich werde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um herauszubekommen, was ihr zugestoßen ist. Das war Leach sofort klar, als er sah, wer sie war.«
Lynley runzelte die Stirn. »Und wer war sie?«
»Wie alt sind Sie, Tommy?«
»Siebenunddreißig, Sir.«
Webberly seufzte. »Dann sind Sie wohl zu jung, um die Geschichte zu kennen.«