174748.fb2
Sie sitzen im Ledersessel Ihres Vaters, Dr. Rose, und sehen mich an, während ich mich stammelnd durch den Bericht der schrecklichen Fakten quäle. Ihr Gesicht zeigt den gleichen Ausdruck wie immer - interessiert an dem, was ich sage, jedoch ohne Wertung -, und in Ihren Augen schimmert ein Mitleid, bei dem ich mich fühle wie ein Kind, das verzweifelt Trost sucht.
Und nichts anderes tue ich ja: Ich rufe sie an und weine, ich flehe Sie an, mich sofort zu sehen, ich behaupte, es gäbe sonst keinen Menschen, dem ich vertrauen kann.
Sie sagen: Kommen Sie in neunzig Minuten in meine Praxis.
So präzise. Neunzig Minuten. Ich will wissen, was Sie daran hindert, mich sofort, noch in diesem Augenblick, zu empfangen.
Sie sagen: Beruhigen Sie sich, Gideon. Sammeln Sie sich. Atmen Sie tief durch.
Aber ich muss Sie jetzt sehen!
Sie erklären mir, dass Sie bei Ihrem Vater sind, aber kommen werden, so schnell Sie können. Sie sagen: Warten Sie auf der Treppe, wenn Sie vor mir da sind. Neunzig Minuten, Gideon. Können Sie das behalten?
Und nun sitzen wir hier, und ich erzähle Ihnen alles, woran ich mich an diesem entsetzlichen Tag erinnert habe. Ich schließe mit den Worten: Wie konnte ich das alles vergessen? Was muss ich für ein Monstrum sein, dass ich nichts von dem, was damals geschah, in Erinnerung behalten habe?
Sie erkennen, dass ich mit meinem Bericht am Ende angelangt bin, und ergreifen die Gelegenheit, mir einiges zu erklären. Ruhig und gelassen wie immer sagen Sie, dass die Erinnerung daran, dass ich meiner Schwester etwas zu Leide getan hatte, und die Überzeugung, sie getötet zu haben, nicht nur etwas ungeheuer Beängstigendes seien, sondern assoziativ verknüpft mit der Musik, die gespielt wurde, als ich die Tat beging. Verdrängt habe ich die Erinnerung an die Tat selbst, und da mit ihr die Musik verbunden war, verdrängte ich schließlich auch diese. Bedenken Sie, sagen Sie, dass etwas Verdrängtes wie ein Magnet wirkt, Gideon. Es zieht andere Dinge an, die mit ihm verknüpft sind, saugt sie in sich ein, so dass sie ebenfalls verdrängt werden. Das Erzherzog-Trio war eng verbunden mit jenem Abend. Sie verdrängten Ihre Handlungen aus Ihrem bewussten Denken - und es scheint so, als hätten alle anderen in der Familie Sie direkt oder indirekt dazu ermutigt -, und die Musik wurde mit einbezogen in die Verdrängung.
Aber alles andere konnte ich doch immer problemlos spielen. Nur das Erzherzog-Trio hat sich mir beharrlich widersetzt.
Natürlich, sagen Sie. Aber als Katja Wolff unerwartet am Künstlereingang zur Wigmore Hall erschien und Ihnen sagte, wer sie ist, wurde dadurch ein Prozess der Verdrängungsoperation ausgelöst, die die gesamte Musik umfasste.
Warum? Warum?
Weil Katja Wolff, Ihre Geige, das Erzherzog-Trio und der Tod Ihrer Schwester in Ihrem Bewusstsein assoziativ miteinander verknüpft waren. So funktioniert das, Gideon. Die Erinnerung, die sie unbedingt verdrängen mussten, beruhte auf Ihrer Überzeugung, Ihre Schwester getötet zu haben. Dies zog die Erinnerung an Katja Wolff mit sich, der Person, die für Sie am engsten mit Ihrer Schwester verbunden war. Katja Wolff riss das Erzherzog-Trio mit ins schwarze Loch, das Musikstück, das jenen Abend begleitete. Und am Ende folgte diesem einen Stück, mit dem Sie immer Mühe hatten, die ganze Musik - symbolisiert durch die Geige. So funktioniert das.
Ich schweige. Ich scheue mich, die nächste Frage zu stellen - Werde ich je wieder spielen können? -, weil ich widerwärtig finde, was sie über mich verrät. Jeder von uns ist der Mittelpunkt seiner eigenen Welt, aber die meisten von uns sind doch in der Lage, andere innerhalb ihrer individuellen Grenzen wahrzunehmen. Ich konnte das nie. Ich habe immer nur mich selbst gesehen, vom ersten Moment an, als ich mir meiner selbst bewusst wurde. In diesem Augenblick nach meiner Musik zu fragen erscheint mir monströs. Diese Frage wäre eine Verleugnung der Existenz meiner unschuldigen Schwester. Und ich habe Sonia lange und gründlich genug verleugnet.
Glauben Sie Ihrem Vater, fragen Sie mich, und das, was er über Sonias Tod sagte, und die Rolle, die er selbst dabei spielte…? Glauben Sie ihm, Gideon?
Ich glaube gar nichts, solange ich nicht mit meiner Mutter gesprochen habe.
Ich beginne, mein Leben aus einem Blickwinkel zu sehen, der mir vieles klarmacht, Dr. Rose. Ich beginne zu erkennen, dass die Beziehungen, die ich aufzunehmen versuchte oder mit Erfolg aufnahm, in Wirklichkeit beherrscht waren von dem, womit ich mich nie auseinander setzen wollte: dem Tod meiner Schwester. Mit den Menschen, die nichts davon ahnten, wie tief ich in die Umstände ihres Todes verstrickt war, konnte ich mich einlassen, es waren immer zugleich jene Menschen, deren wichtigstes Anliegen das Gleiche war wie meines: meine künstlerische Existenz. Zu diesen Menschen gehörten Sherill und andere Musikerkollegen, die Musiker bei den Schallplattenaufnahmen, Dirigenten, Produzenten, Konzertimpresarios in der ganzen Welt. Aber die Menschen, die sich mehr von mir gewünscht hätten als das Spiel auf meiner Geige - das waren diejenigen, an denen ich scheiterte.
Das beste Beispiel dafür ist Beth. Ganz klar, dass ich ihr nicht der Lebenspartner sein konnte, den sie sich wünschte.
Eine Partnerschaft dieser Art hätte ja einen Grad an Nähe, Vertrauen und emotionaler Öffnung verlangt, der für mich viel zu gefährlich gewesen wäre. Meine einzige Hoffnung auf Überleben war die Flucht vor dieser Frau.
Und so ist es jetzt mit Libby. Ich kann den Liebesakt, der das Zeichen tiefster Intimität ist, nicht vollziehen. Wir liegen beieinander, und würde man meine Gefühle für Libby am Grad meiner Begierde nach ihr messen, so könnte sie ebenso gut ein Sack Kartoffeln sein.
Wenigstens weiß ich, warum. Und solange ich nicht mit meiner Mutter gesprochen und die ganze Wahrheit über jenen Abend erfahren habe, kann ich mit keiner Frau intim werden, ganz gleich, wer sie ist, ganz gleich, wie wenig sie von mir erwartet.
Ich war auf dem Heimweg vom Primrose Hill, als ich Libby wiedersah. Ich war mit einem Drachen losgezogen, einem neuen, an dem ich mehrere Wochen lang gearbeitet hatte und den ich unbedingt ausprobieren wollte. Ich hatte mir ein, wie ich meinte, tolles aerodynamisches Design einfallen lassen, durch das der Drachen auf Rekordhöhe steigen würde.
Oben auf dem Primrose Hill gibt es nichts, was den Flug eines Drachen behindern könnte. Die Bäume sind weit weg, die einzigen Bauten, die einem fliegenden Geschöpf oder Gerät in den Weg kommen könnten, sind die Häuser, die jenseits der Hügelkuppe stehen, auf der anderen Seite der Straßen, die an den Park angrenzen. Da der Wind an diesem Tag gut war, glaubte ich, dass der Drachen sich in die Lüfte erheben würde, sobald ich ihn freigäbe.
Aber so war es nicht. Jedes Mal, wenn ich ihn losließ und ihm in schnellem Lauf Leine zu geben begann, sprang und hüpfte er im Wind und stürzte dann ab wie eine Rakete. Immer wieder versuchte ich es, nachdem ich Veränderungen an der Vorderkante, den Seitenrudern, sogar dem Leitwerk vorgenommen hatte, aber nichts half. Schließlich brach ein Spanten, und ich musste das ganze Unternehmen aufgeben.
Ich ging mit meinem Drachen die Chalcot Crescent hinunter, als ich Libby traf. Sie lief in die Richtung, aus der ich kam. In der einen Hand hatte sie eine Plastiktüte vom Drogeriemarkt, in der anderen eine Dose Cola light. Ein Picknick, vermutete ich. Aus der Tüte ragte ein Ende eines Baguette heraus.
»Der Wind wird dir wahrscheinlich einen Strich durch die Rechnung machen, wenn du vorhast, da draußen zu essen«, bemerkte ich mit einem Nicken zum Park.
»Ja, freut mich auch, dich zu sehen«, war ihre Antwort.
Ihr Ton war höflich, aber ihr Lächeln flüchtig. Seit unserem unerfreulichen Zusammentreffen in ihrer Wohnung hatten wir uns nicht mehr gesehen. Ich hörte sie zwar kommen und gehen und hatte damit gerechnet, dass sie bei mir klingeln würde, aber sie hatte es nicht getan. Sie hatte mir gefehlt, aber als ich begann, mich an jene Dinge zu erinnern, die erinnert werden mussten, an Sonia, an Katja, an meinen Anteil am Tod der einen und an der Verurteilung der anderen, erkannte ich, dass es besser war, Libby nicht zu sehen. Ich taugte keiner Frau zum Freund oder Geliebten. Ob Libby das merkte oder nicht, es war klug von ihr, sich von mir fern zu halten.
»Ich habe versucht, den hier steigen zu lassen«, sagte ich und hob zur Erklärung meiner Bemerkung über den Wind den kaputten Drachen hoch. »Wenn du nicht hinaufgehst, sondern dein Picknick irgendwo unten machst, geht es vielleicht.«
»Zu den Enten«, sagte sie.
Einen Moment lang dachte ich, das wäre wieder so ein seltsamer kalifornischer Ausdruck, den ich nie gehört hatte. Aber dann sprach sie weiter.
»Ich geh die Enten füttern. Im Regent's Park.«
»Ach so. Ich dachte… Na ja, als ich das Brot sah…«
»Und da du bei mir sowieso automatisch an Essen denkst. Klar. Ist ja logisch.«
»Ich denke bei dir nicht automatisch an Essen, Libby.«
»Okay«, sagte sie. »Dann nicht.«
Ich nahm meinen Drachen von der linken Hand in die rechte. Ich mochte das Gefühl nicht, mit ihr uneins zu sein, aber ich hatte keine klare Vorstellung, wie ich die Kluft zwischen uns überbrücken sollte. Wir sind ja so verschieden, dachte ich. Vielleicht war es, genau wie Dad von Beginn an gesehen hat, immer schon eine absurde Verbindung: Libby Neal und Gideon Davies. Was hatten die beiden denn gemeinsam?
»Ich hab Rafe bereits seit zwei Tagen nicht mehr gesehen«, bemerkte Libby mit einer Kopfbewegung zurück zum Chalcot Square. »Ich hab mich schon gefragt, ob ihm was passiert ist.«
Mir wurde, als sie mir diese Möglichkeit zum Gespräch bot, bewusst, dass bei unseren Gesprächen immer sie diejenige war, die fragte und nachfragte. Und diese Erkenntnis veranlasste mich zu sagen: »Ja, es ist tatsächlich etwas passiert. Aber nicht ihm.«
Sie sah mich ernst an. »Aber mit deinem Dad ist doch alles okay?«
»Ja, ihm geht es gut.«
»Und seiner Freundin?«
»Jill? Ihr geht's auch gut. Allen geht es gut.«
»Na, wunderbar.«
Ich holte tief Luft. »Libby, ich werde meine Mutter treffen. Nach dieser langen, langen Zeit werde ich Sie tatsächlich sehen. Mein Vater hat mir erzählt, dass sie meinetwegen regelmäßig bei ihm anruft, und nun werden wir uns also treffen. Nur wir beide. Und dann werde ich vielleicht meinen Schwierigkeiten mit der Geige endlich auf den Grund kommen.«
Sie schob ihre Coladose in die Plastiktüte und rieb sich mit der Hand über die Hüfte. »Das ist wahrscheinlich echt cool, Gid. Wenn's das ist, was man will. Ich mein, es ist ja wohl das, was du vom Leben willst, richtig?«
»Es ist mein Leben.« »Klar. Es ist dein Leben, das, was du daraus gemacht hast.«
Ich merkte an ihrem Ton, dass wir uns wieder auf demselben holprigen Terrain befanden, das wir schon früher abgeschritten hatten, und ich fühlte mich plötzlich frustriert. »Libby, ich bin Musiker. Mal von allem anderen abgesehen - so verdiene ich meinen Lebensunterhalt. Das kannst du wohl verstehen.«
»O ja, ich verstehe«, sagte sie.
»Dann -«
»Okay, Gid, wie gesagt, ich geh jetzt die Enten füttern.«
»Komm doch herauf, wenn du zurück bist. Wir können ja zusammen essen.«
»Ich wollte eigentlich zum Steppen.«
»Steppen?«
Sie sah weg. Einen Moment lang drückte ihr Gesicht etwas aus, das ich nicht ganz erfassen konnte. Als sie mich wieder ansah, war ihr Blick traurig, und ihr Ton war resigniert, als sie sagte: »Stepptanzen, mein Hobby.«
»Entschuldige, das hatte ich vergessen.«
»Schon gut«, sagte sie. »Ich weiß.«
»Wie war's dann mit später? Ich bin sicher zu Hause. Ich warte nur auf einen Anruf meines Vaters. Komm doch nach dem Stepptanz herauf. Natürlich nur, wenn du Lust hast.«
»Klar«, sagte sie. »Wir sehen uns.«
Und ich wusste, sie würde nicht kommen. Dass ich den Stepptanz vergessen hatte, das hatte ihr offenbar den Rest gegeben. Ich sagte: »Libby, ich hatte so vieles im Kopf. Das weißt du. Du musst verstehen -«
»Ach, Mensch«, unterbrach sie mich. »Du raffst
überhaupt nichts.«
»Ich >raffe<, dass du ärgerlich bist.«
»Ich bin nicht ärgerlich. Ich bin gar nichts. Ich geh jetzt in den Park und füttere die Enten. Weil ich Zeit hab und weil ich Enten mag. Und danach gehe ich zum Steppen. Weil ich Stepptanz mag.«
»Du gehst mir aus dem Weg, nicht wahr?«
»Es dreht sich nicht alles um dich. Ich dreh mich nicht um dich. Der Rest der Welt dreht sich nicht um dich. Wenn du, sagen wir mal, morgen aufhörst, Geige zu spielen, bleibt der Rest der Welt doch weiterhin der Rest der Welt. Aber wie willst du derjenige bleiben, der du bist, wenn gar nichts von dir da ist, Gideon?«
»Ich versuche ja, es mir wieder zu holen.«
»Man kann sich nicht etwas zurückholen, was nie da war. Du kannst es neu erschaffen, wenn du willst. Aber du kannst nicht einfach mit dem Schmetterlingsnetz losziehen und es einfangen.«
»Warum willst du nicht verstehen -«
»Ich möchte jetzt die Enten füttern«, fiel sie mir ins Wort. Und damit ging sie an mir vorbei und schlug den Weg zur Regent's Park Road ein.
Ich sah ihr nach. Ich wollte ihr nachlaufen und ihr klar machen, was ich meinte - wie leicht es für sie war, davon zu reden, dass man einfach man selbst sein müsse. Ihre Vergangenheit war ja nicht an allen Ecken und Enden mit besonderen Leistungen gespickt, die als Wegweiser in eine seit langem festgelegte Zukunft dienten. Für sie war es leicht, einfach den Moment zu leben, weil sie nie etwas anderes als Momente gehabt hatte. Aber so war mein Leben nie gewesen, und ich wollte, dass sie diese Tatsache anerkannte.
Sie musste gespürt haben, was in mir vorging. Denn an der Ecke drehte sie sich um und rief mir etwas zu.
»Was?«, schrie ich, als der Wind ihre Worte forttrug.
Sie legte die Hände muschelförmig um ihren Mund und versuchte es noch ein Mal. »Viel Glück mit deiner Mutter«, rief sie laut.
Jahrelang war es mir dank meiner Arbeit gelungen, meine Mutter aus meinem Bewusstsein zu bannen. Ich musste mich auf dieses Konzert oder jene Plattenaufnahme vorbereiten, ich musste mit Raphael üben, für einen Dokumentarfilm zur Verfügung stehen, mit diesem oder jenem Orchester proben, in Europa oder den Vereinigten Staaten auf Tournee gehen, meinen Agenten treffen, Verträge aushandeln, mit dem East London Conservatory arbeiten . Meine Tage und Stunden waren zwanzig Jahre lang mit Musik angefüllt gewesen. Da war kein Platz zum Nachdenken über die Mutter, die mich verlassen hatte.
Aber jetzt hatte ich Zeit, und sie beherrschte meine Gedanken. Und selbst während ich darüber nachdachte, selbst während ich fragte und mutmaßte, wusste ich, dass diese Fixierung meiner Gedanken auf meine Mutter ein Mittel zur Ablenkung von Sonia war.
Es wirkte nicht immer. In unachtsamen Momenten suchte meine Schwester mich dennoch auf.
»Sie sieht so komisch aus, Mami«, erinnerte ich mich, gesagt zu haben, als ich eines Tages an dem Bett stand, in dem in Decken gehüllt und mit einem Häubchen auf dem Kopf meine Schwester lag, mit einem Gesicht, das irgendwie verkehrt aussah.
»Sag so etwas nicht, Gideon«, entgegnete meine Mutter. »So etwas darfst du nie über deine Schwester sagen.«
»Aber sie hat so quallige Augen. Und einen komischen Mund.«
»Ich habe gesagt, du sollst nicht so von deiner Schwester sprechen.«
Das war der Anfang. Gespräche über Sonias Gebrechen wurden bei uns zum Tabu. Sie begann, unser aller Leben zu beherrschen, aber es wurde kein Wort über sie verloren. Sonia war quengelig. Sonia schrie die ganze Nacht. Sonia kam zwei oder drei Wochen ins Krankenhaus. Aber wir taten so, als wäre das Leben völlig normal, als wäre es in jeder Familie so, wenn ein Kind zur Welt kommt. Bis eines Tages Großvater die Glaswand der Verleugnung zertrümmerte, hinter der wir lebten.
»Die taugen doch beide nichts«, tobte er. »Keines von dir taugt was, Dick.«
Hat es da in meinem Kopf zu arbeiten begonnen? Habe ich da zum ersten Mal die Notwendigkeit verspürt, zu beweisen, dass ich anders bin als meine Schwester? Großvater hatte mich mit Sonia gleichgesetzt, aber ich würde ihm zeigen, dass die Wahrheit anders aussah.
Doch wie sollte ich das bewerkstelligen, wenn alles sich einzig um sie drehte? Um ihr Befinden, ihr Wachstum, ihre Gebrechen, ihre Entwicklung. Ein Weinen in der Nacht, und das ganze Haus war auf den Beinen, um sich um sie zu kümmern. Eine Veränderung ihrer Körpertemperatur, und das Leben stand still, bis der Arzt kam und die Ursache klärte. Die kleinste Änderung in ihren Essgewohnheiten, und Spezialisten wurden konsultiert. Sie war der Gegenstand jedes Gesprächs, gleichzeitig aber durfte die Ursache ihrer Krankheiten und Leiden niemals direkt angesprochen werden.
Das fiel mir wieder ein, Dr. Rose. Das alles fiel mir wieder ein, weil am Schürzenzipfel jeder Erinnerung an meine Mutter, die ich beim Nachdenken heraufbeschwören konnte, meine Schwester Sonia hing. Sie drängte sich so hartnäckig in mein Bewusstsein, wie sie sich in mein Leben gedrängt hatte. Und während ich auf den Tag wartete, an dem ich meine Mutter sehen würde, versuchte ich mit der gleichen wütenden Entschlossenheit, sie von mir abzuschütteln, wie ich es versucht hatte, als sie noch am Leben war.
Ja, ich weiß, was das heißt. Sie ist mir heute im Weg. Sie war mir damals im Weg. Ihretwegen hatte sich das Leben geändert. Ihretwegen sollte es sich noch entscheidender ändern.
»Du wirst in Zukunft zur Schule gehen, Gideon.«
Das muss der Moment gewesen sein, als der Keim gelegt wurde: der Keim der Enttäuschung, des Zorns, der vereitelten Träume, der zu einem wuchernden Geschwür wütenden Vorwurfs heranwuchs. Mein Vater war derjenige, der mir die Neuigkeit eröffnete.
Er kommt in mein Zimmer. Ich sitze am Tisch unter dem Fenster, wo Sarah-Jane Beckett und ich unsere Stunden zu halten pflegen. Ich mache gerade meine Aufgaben. Dad zieht sich den Stuhl heraus, auf dem gewöhnlich SarahJane sitzt, verschränkt die Arme und sieht mir zu.
Er sagt: »Wir haben es probiert, Gideon. Und du bist dabei aufgeblüht, nicht wahr, mein Sohn?«
Ich verstehe nicht, wovon er spricht, aber das, was ich in seiner Stimme vernehme, macht mich augenblicklich misstrauisch. Ich weiß jetzt, dass ich wahrscheinlich Resignation wahrnahm, doch in diesem Moment kann ich das, was er offenbar empfindet, nicht benennen.
Das ist der Augenblick, wo er mir sagt, dass ich in Zukunft zur Schule gehen werde, in eine öffentliche Schule, die er ausfindig gemacht hat, eine Tagesschule, nicht allzu weit entfernt.
Ich spreche aus, was mir als Erstes in den Sinn kommt. »Was ist mit meinem Geigenunterricht? Wann soll ich üben?«
»Das müssen wir regeln.«
»Aber was ist mit Sarah-Jane? Ihr gefällt es bestimmt nicht, wenn sie mir keinen Unterricht mehr geben darf.«
»Sie wird damit zurecht kommen müssen. Wir müssen uns von ihr trennen, mein Junge.«
Wir müssen uns von ihr trennen? Zuerst glaube ich, er will damit sagen, dass Sarah-Jane von uns weggehen will, dass sie darum gebeten hat, gehen zu dürfen, und er widerstrebend zugestimmt hat. Aber als ich darauf sage: »Dann rede ich mal mit ihr. Ich sage ihr, dass sie nicht weggehen darf«, erklärt er es mir.
»Wir können uns eine Hauslehrerin nicht mehr leisten, Gideon.« Den Rest sagt er nicht, ich ergänze ihn selbst in meinem Kopf. »Wir müssen irgendwo anfangen zu sparen«, teilt mein Vater mir mit. »Raphael wollen wir nicht gehen lassen, und Katja können wir nicht gehen lassen. Bleibt also nur Sarah-Jane.«
»Aber wann soll ich denn Geige spielen, wenn ich zur Schule gehe? Die erlauben doch bestimmt nicht, dass ich nur zur Schule komme, wann ich will, oder, Dad? Da gibt es sicher Regeln. Wann soll ich da meine Stunden nehmen?«
»Wir haben schon mit der Schulleitung gesprochen. Sie sind bereit, Zugeständnisse zu machen. Sie kennen die Situation.«
»Aber ich will nicht zur Schule gehen. Ich will, dass Sarah-Jane mich weiter unterrichtet.«
»Das möchte ich auch gern«, sagt mein Vater. »Das möchten wir alle. Aber es ist nicht möglich, Gideon. Wir haben nicht die Mittel dazu.«
Wir haben nicht die Mittel - das Geld, die Mittel. War das nicht das Leitmotiv unseres Lebens? Wieso sollte ich also überrascht sein, als die Einladung von der Juilliard School of Music eintrifft und leider abgelehnt werden muss? Wäre es nicht logisch, ich gäbe dem Geld die Schuld daran, dass ich die Einladung an die Juilliard nicht annehmen darf?
Aber ich bin überrascht. Ich bin wütend. Ich bin außer mir. Und der einmal gelegte Keim treibt Wurzeln und Schösslinge und beginnt, auf fruchtbarem Boden zu wachsen.
Ich lerne hassen. Ich lerne Rachsucht. Ich brauche dringend ein Ziel für meine Rache. Ich finde es in ihr, in meiner Schwester, mit ihrem ewigen Weinen und Greinen und den unmenschlichen Forderungen, die sie an uns alle stellt.
In Gedanken an meine Mutter verweilte ich auch bei diesen anderen Überlegungen. Und bei ihrer Betrachtung drängte sich mir unausweichlich eine Schlussfolgerung auf: Selbst wenn mein Vater tatsächlich nichts unternommen hatte, um Sonia zu retten, wie er das hätte tun können, was änderte das? Ich hatte den Prozess des Tötens begonnen, und er hatte ihm nur seinen Lauf gelassen.
Sie sagen zu mir: Gideon, Sie waren doch noch ein kleiner Junge. Das war eine Geschwisterrivalität. Sie sind nicht der Erste, der versucht hat, einem jüngeren Geschwister etwas anzutun, und Sie werden nicht der Letzte sein.
Aber sie ist gestorben, Dr. Rose.
Ja, sie ist gestorben. Aber nicht von Ihrer Hand.
Das weiß ich nicht mit Sicherheit.
Im Moment wissen Sie nicht - können gar nicht wissen -, was wahr ist. Aber Sie werden es erfahren. Bald.
Sie haben Recht, Dr. Rose, wie meistens. Meine Mutter wird mir sagen, was wirklich geschehen ist. Wenn es für mich auf der Welt Erlösung gibt, wird sie sie mir bringen.