Mir gefiel die Art nicht, wie Sie mir die Frage stellten, Dr. Rose. Ich fühlte mich beleidigt, sowohl von Ihrem Ton als auch von der subtilen Intention Ihrer Frage. Sagen Sie jetzt bitte nicht, es hätte da nichts Subtiles gegeben; ich bin kein Idiot. Und erzählen Sie mir nichts von der »tatsächlichen Bedeutung« dessen, was der Patient in Ihre Worte hineinliest. Ich weiß, was ich gehört habe, ich weiß, was geschehen ist, und ich kann beides für Sie in einem Satz zusammenfassen: Sie lasen, was ich geschrieben hatte, entdeckten eine Lücke in der Geschichte und stürzten sich darauf wie ein Ankläger, der nur eines im Sinn hat - den Verdächtigen zu überführen.
Lassen Sie mich wiederholen, was ich bereits während unserer Sitzung sagte: Ich erwähnte meine Mutter deshalb erst in diesem letzten Satz, weil ich die Aufgabe erfüllen wollte, die Sie mir gestellt hatten, nämlich niederzuschreiben, woran ich mich erinnere. Was ich schrieb, das schrieb ich so, wie es mir in den Sinn kam. Und meine Mutter kam mir ganz einfach nicht vor diesem Zeitpunkt in den Sinn: dem Tag, an dem Raphael Robson mein Lehrer und Tutor wurde.
Aber das italienisch-griechisch-portugiesisch-spanische junge Mädchen, das kam Ihnen in den Sinn?, fragen Sie mit dieser unerträglichen Milde und Gelassenheit, die Sie kultivieren.
Ganz recht, ja, das Mädchen kam mir in den Sinn. Und was ist daraus nun zu schließen? Dass ich eine bisher unerwähnte Affinität zu portugiesisch-spanischitalienisch-griechischen Frauen habe, meiner bisher verleugneten Dankesschuld an eine junge Frau ohne Namen entsprungen, die mich unwissentlich auf den Weg zum Erfolg geführt hat? Ist es so, Dr. Rose?
Ah, ich verstehe. Sie geben mir keine Antwort. Sie halten, im Sessel Ihres Vaters verschanzt, sicheren Abstand und betrachten mich mit Ihrem seelenvollen Blick, und ich soll diese Distanz zwischen uns als den Bosporus betrachten, der darauf wartet, von mir durchschwommen zu werden. Ich soll gewissermaßen den Sprung in die Gewässer der Wahrheit tun. Als spräche ich nicht die Wahrheit.
Sie war da. Natürlich war meine Mutter da. Und wenn ich anstelle meiner Mutter das italienische Mädchen erwähnte, dann aus dem einfachen Grund, weil die Italienerin - und warum, verflixt noch mal, kann ich mich nicht an ihren Namen erinnern? - in der Gideon-Legende eine Rolle spielt und meine Mutter nicht. Ich glaubte, Sie hätten mir aufgetragen, niederzuschreiben, woran ich mich erinnere, und dabei bis zu meiner frühesten Erinnerung zurückzugehen. Wenn das nicht Ihr Auftrag war, wenn Sie vielmehr wünschten, ich würde Ihnen die entscheidenden Details einer Kindheit auftischen, die großenteils Erfindung ist, aber so sauber und steril aufbereitet, dass Sie identifizieren und etikettieren können, wo und was Sie wollen - O ja, ich bin wütend, Sie brauchen mich gar nicht erst darauf hinzuweisen. Weil ich nämlich nicht einsehe, was meine Mutter, eine Analyse meiner Mutter oder auch nur ein oberflächliches Gespräch über meine Mutter mit dem zu tun haben soll, was in der Wigmore Hall geschehen ist. Und das ist schließlich der Grund, warum ich Sie aufgesucht habe, Dr. Rose. Das wollen wir doch nicht vergessen. Ich habe mich bereit erklärt, diese Prozedur mitzumachen, weil ich dort, in der Wigmore Hall, vor einem Publikum, das eine Menge Geld bezahlt hatte, um das East London Conservatory zu unterstützen - das ich übrigens selbst regelmäßig unterstütze -, auf die Bühne trat, meine Violine hob, meinen Bogen zur Hand nahm, wie gewohnt die Finger meiner linken Hand lockerte, dem Pianisten und dem Cellisten zunickte und - nicht spielen konnte. Mein Gott, können Sie sich überhaupt vorstellen, was das bedeutet?
Das war kein Lampenfieber, Dr. Rose, und auch keine vorübergehende Blockierung wegen eines bestimmten Musikstücks, das ich übrigens vor dem Auftritt zwei Wochen lang geprobt hatte. Es war ein vollständiger und demütigender Verlust der Fähigkeit zu spielen. Nicht nur war die Erinnerung an die Musik aus meinem Gehirn gelöscht, ich wusste plötzlich auch nicht mehr, wie man spielt - geschweige denn, wie man lebt. Ebenso gut hätte ich nie eine Geige in der Hand gehalten haben können oder die letzten einundzwanzig Jahre meines Lebens irgendwo im stillen Kämmerlein verbracht haben können, statt vor Publikum zu spielen.
Sherill begann mit dem Allegro. Ich hörte es, und es sagte mir nichts. Dann kam die Stelle, wo ich mit der Geige hätte einsetzen müssen - nichts. Ich wusste weder, was ich zu tun noch wann ich es zu tun hatte. Ich war, wie einst Lots Weib, buchstäblich zur Salzsäule erstarrt.
Sherill sprang für mich ein. Er improvisierte - bei Beethoven! Er führte mit seinen Improvisationen zu der Stelle zurück, an der mein Einsatz hätte kommen müssen. Wieder nichts! Nur Stille. Ein Vakuum. Und die Stille toste in meinem Kopf wie ein Orkan.
Als das geschah, rannte ich von der Bühne, blindlings und am ganzen Körper zitternd, stürzte ich hinaus. Mein
Vater erwartete mich im grünen Zimmer und rief: »Was ist, Gideon? Um Gottes willen! Was ist?« Keinen Schritt hinter ihm war Raphael.
Ich warf ihm noch meine Geige in die Hände, bevor ich zusammenbrach. Aufgeregtes Gemurmel rundherum, die Stimme meines Vaters, der sagte: »Es ist diese Frau, diese verwünschte Person, richtig? Das haben wir ihr zu verdanken. Verdammt noch mal, reiß dich zusammen, Gideon. Du hast Verpflichtungen.«
Und Sherill, der gleich nach mir die Bühne verlassen hatte, fragte: »Gid? Was ist denn los? Sind dir die Nerven durchgegangen? Mist, das passiert schon mal.«
Raphael legte meine Geige auf den Tisch und sagte: »Ach Gott, ich habe immer befürchtet, dass so etwas einmal passieren würde.« Wie die meisten Menschen dachte er an sich selbst, an seine zahllosen fehlgeschlagenen Versuche, es seinem Vater und seinem Großvater gleichzutun und öffentlich aufzutreten. Alle aus seiner Familie können auf große musikalische Karrieren verweisen, nur der arme, ewig schwitzende Raphael nicht, und ich vermute, er hat insgeheim nur darauf gewartet, dass endlich die Katastrophe über mich hereinbrechen und uns beide zu Brüdern im Unglück machen würde. Er warnte unermüdlich vor den Gefahren einer Blitzkarriere, als nach meinem ersten öffentlichen Konzert, bei dem ich sieben Jahre alt war, mein Stern aufging und bald viele andere überstrahlte. Offensichtlich ist er der Ansicht, dass ich jetzt den Lohn für diesen rasanten Aufstieg ernte.
Aber was ich da zunächst auf der Bühne vor dem Publikum erlebte und danach im grünen Zimmer, das war keine Nervenkrise, Dr. Rose, das war etwas wie ein Ende, so umfassend und unabänderlich fühlte es sich an. Und das Merkwürdige war, dass ich zwar alle Stimmen hörte - die meines Vaters, Raphaels, Sherills -, aber dabei nur ein weißes Licht sah, das auf eine blaue, blaue Tür fiel.
Habe ich eine »Episode«, Dr. Rose, wie mein Großvater? Habe ich eine Episode, die ein Aufenthalt auf dem Land kurieren kann? Bitte, Sie müssen es mir sagen! Denn ich mache nicht Musik, ich bin die Musik, und wenn ich sie nicht mehr habe - den Klang, die reine Erhabenheit des Klangs -, bin ich nichts als eine leere Hülse.
Und nun sagen Sie mir, was es für eine Rolle spielt, dass ich bei dem Bericht über meine Einführung in die Musik meine Mutter nicht erwähnte! Es war eine Unterlassung von »Schall und Wahn«, und es wäre klug von Ihnen, ihr die entsprechende Bedeutung zuzumessen. Aber jetzt wäre es Absicht, sie unerwähnt zu lassen, entgegnen Sie. Und sagen: Erzählen Sie mir von Ihrer Mutter, Gideon.
Sie ist arbeiten gegangen. In meinen ersten vier Lebensjahren war sie immer und zuverlässig da, aber als sich zeigte, dass sie ein Kind von außergewöhnlicher Begabung hatte, die Förderung verdiente, was nicht nur Zeit, sondern auch sehr viel Geld kosten würde, suchte sie sich Arbeit, um die finanzielle Last mitzutragen. Ich war von da an meiner Großmutter anvertraut - wenn ich nicht Geige übte, bei Raphael Stunden hatte, die Plattenaufnahmen anhörte, die er mir mitbrachte, oder in seiner Begleitung Konzerte besuchte -, aber mein Leben hatte sich seit dem Tag, an dem ich zum ersten Mal die Musik am Kensington Square hörte, so grundlegend verändert, dass ich meine Mutter kaum vermisste. Vor dieser Zeit jedoch, daran erinnere ich mich genau, pflegte ich sie beinahe jeden Tag, so scheint es mir jedenfalls, in die Frühmesse zu begleiten.
Eine Nonne aus dem Kloster bei uns am Platz, mit der sie sich angefreundet hatte, machte es möglich, dass meine Mutter täglich die Morgenmesse besuchen durfte, die eigentlich nur für die Nonnen gelesen wurde. Ich muss dazu sagen, dass meine Mutter zum Katholizismus übergetreten war, wobei ich nicht weiß, ob dies infolge einer echten Bekehrung zu einer anderen Glaubenslehre geschah oder als Ohrfeige für ihren Vater gedacht war, der anglikanischer Geistlicher und, soweit ich gehört habe, kein besonders angenehmer Zeitgenosse gewesen war. Mehr weiß ich über ihn nicht.
Über meine Mutter weiß ich natürlich mehr, aber im Grunde genommen ist sie für mich nur eine schattenhafte Gestalt, denn sie hat ja die Familie verlassen, als ich noch relativjung war. Neun oder zehn war ich - ich weiß es nicht mehr genau - und erfuhr bei meiner Heimkehr von einer Konzertreise durch Österreich, dass meine Mutter fortgegangen war, ohne eine Spur zu hinterlassen. Sie hatte alles mitgenommen, was ihr gehörte, jedes Kleidungsstück und jedes Buch, dazu eine große Zahl Familienfotografien, und war verschwunden wie ein Dieb in der Nacht. Allerdings war es Tag gewesen, wie man mir erzählte, und sie hatte sich ein Taxi genommen. Sie ließ keinen Brief und keine Adresse für uns zurück. Ich hörte nie wieder von ihr.
Mein Vater war mit mir in Österreich gewesen - er begleitete mich stets auf Konzertreisen, wie übrigens häufig auch Raphael - und wusste so wenig wie ich darüber, wohin und aus welchen Gründen meine Mutter gegangen war. Ich weiß nur, als wir nach Hause kamen, hatte mein Großvater eine seiner »Episoden«, meine Großmutter saß weinend auf der Treppe, und Calvin, der Untermieter, suchte allein und ohne Hilfe nach einer Telefonnummer, bei der er anrufen könnte.
Calvin, der Untermieter?, fragen Sie. War der frühere Mieter - James, richtig? - nicht mehr da?
Nein. Er muss im Jahr zuvor ausgezogen sein. Oder noch ein Jahr früher. Ich weiß es nicht mehr. Wir hatten im Lauf der Zeit eine ganze Reihe Untermieter. Anders wären wir finanziell nicht über die Runden gekommen, wie ich bereits sagte.
Erinnern Sie sich an alle?, fragen Sie.
Nein. Nur an die, die für mich eine besondere Bedeutung hatten, vermute ich. An Calvin, weil er an dem Abend da war, als ich erfuhr, dass meine Mutter uns verlassen hatte. An James, weil er dabei gewesen war, als alles begann.
Alles?
Ja. Die Musik. Der Geigenunterricht. Die Stunden bei Miss Orr. Alles eben.
Für mich ist jeder mit Musik verbunden. Wenn ich an Rosemary Orr denke, fällt mir unweigerlich Brahms ein, das Violinkonzert, das sie aufgelegt hatte, als ich ihr das erste Mal begegnete. Bei Raphael denke ich an Mendelssohn. Bei meinem Vater ist es Bach, die Violinsonate in G-Moll. Und mein Großvater ist für mich immer mit Paganini verbunden. Die vierundzwanzigste Caprice war sein Lieblingsstück. »Diese Fülle von Tönen«, pflegte er staunend zu sagen. »Diese vollkommenen Töne.«
Und Ihre Mutter?, fragen Sie. Welches Musikstück verbinden Sie mit Ihrer Mutter?
Keines, eigentlich. Bei ihr ist es nicht so wie bei den anderen. Ich weiß nicht, woher das kommt. Das ist interessant. Vielleicht eine Form der Verleugnung? Oder der Verdrängung von Gefühlen? Ich weiß es nicht. Sie sind die Psychiaterin. Erklären Sie es mir.
Ich tue das übrigens auch heute noch. Ich meine, dass ich ein bestimmtes Musikstück mit einer bestimmten Person verknüpfe. Bei Sherill beispielsweise denke ich sofort an Bartoks Rhapsodie. Das ist das Stück, das wir beide spielten, als wir das erste Mal gemeinsam öffentlich auftraten, vor Jahren, in St. Martin's in the Fields. Wir haben es seither nie wieder gespielt und wir waren damals beide noch Teenager - das amerikanische und das englische Wunderkind, das gab hervorragende Presse, glauben Sie mir -, aber mir wird immer sofort der Bartok präsent sein, wenn ich an Sherill denke. So funktioniert mein Bewusstsein einfach.
Und so funktioniert es auch bei Menschen, die nicht im Geringsten musikalisch sind. Nehmen Sie zum Beispiel Libby. Habe ich Ihnen von Libby erzählt? Libby, die Untermieterin. Ja, wie James und Calvin und all die anderen, nur gehört sie in die Gegenwart und nicht in die Vergangenheit. Sie wohnt im Souterrain meines Hauses am Chalcot Square.
Ich hatte überhaupt nicht daran gedacht, die Wohnung unten zu vermieten, bis sie eines Tages bei mir vor der Tür stand, um mir einen Plattenvertrag abzuliefern, den mein Agent sofort unterzeichnet haben wollte. Sie arbeitet bei einem Kurierdienst, und ich erkannte erst, dass sie eine Frau war, als sie mir die Unterlagen gab, ihren Motorradhelm abnahm und mit einer Kopfbewegung zu den Verträgen sagte: »Ay, nehmen Sie's mir nicht übel, okay? Ich muss einfach fragen. Sind Sie Rockmusiker oder so was?« Sie hatte diese übertrieben lässige und aufdringlich freundliche Art an sich, die eine Krankheit der Kalifornier zu sein scheint.
Ich sagte: Nein, ich bin Konzertgeiger.
»Nie im Leben!«, rief sie.
Doch im Leben, sagte ich.
Woraufhin sie mich so entgeistert ansah, dass ich glaubte, ich hätte es mit einer Schwachsinnigen zu tun.
Ich unterschreibe niemals einen Vertrag, ohne ihn vorher gelesen zu haben, auch wenn mein Agent stets beleidigt behauptet, das zeige, wie wenig Vertrauen ich in seine Geschäftstüchtigkeit habe, und da ich das arme Ding - so wirkte sie damals auf mich - nicht draußen warten lassen wollte, während ich den Vertrag prüfte, bat ich sie herein. Wir gingen in die erste Etage hinauf, wo mein Musikzimmer mit Blick auf den Platz ist.
»Oh! Wau! Sie sind echt wer, hm?«, sagte sie, während wir nach oben gingen und sie die Entwürfe für die CD- Cover sah, die an der Wand im Treppenflur aufgehängt waren. »Ich komm mir richtig blöd vor.«
Ich sagte: »Unsinn«, und ging, bereits in Vertragsklauseln über Begleiter, Tantiemen und Termine vertieft, ins Musikzimmer.
»Das ist ja irre hier«, sagte sie beeindruckt, während ich zu der Fensterbank ging, auf der ich eben jetzt diese Ereignisse für Sie aufschreibe, Dr. Rose. »Wer ist der Typ da mit Ihnen auf dem Foto? Der mit den Krücken. Mann, Sie schauen aus, als wären Sie gerade mal sieben Jahre alt.«
Du meine Güte! Er ist vielleicht der größte Geiger auf Erden, und die Frau hat keine Ahnung. »Itzhak Perlman«, sagte ich.
»Und ich war damals sechs, nicht sieben.«
»Wau!«, sagte sie wieder. »Und Sie haben richtig mit ihm zusammen gespielt, obwohl Sie erst sechs waren?«
»Wohl kaum. Aber ich durfte ihm an einem Nachmittag vorspielen, als er in London war.«
»Cool!«
Während ich las, marschierte sie im Zimmer herum und kommentierte, was sie sah, mit Ausrufen aus ihrem ziemlich beschränkten Vokabular. Ganz besonders hatte es ihr anscheinend mein erstes Instrument angetan, die kleine Sechzehntelgeige, die in meinem Musikzimmer einen Ehrenplatz innehatte. Ich bewahre auch meine Guarneri dort auf, die Geige, mit der ich heute spiele. Sie lag in ihrem Kasten, und der Kasten war offen, weil ich gerade beim Üben gewesen war, als Libby mit den Verträgen kam. Unbedarft, wie sie offensichtlich war, griff sie einfach zu und zupfte die E-Saite.
Der Ton jagte mich in die Höhe wie ein Pistolenschuss. »Rühren Sie die Geige nicht an!«, brüllte ich und erschreckte sie damit so sehr, dass sie wie ein Kind reagierte, das eine Ohrfeige bekommen hat.
»'tschuldigung!«, sagte sie und wich mit ausgestreckten Armen zurück. Als ihr Tränen in die Augen traten, wandte sie sich hastig ab.
Ich legte die Vertragspapiere aus der Hand und sagte: »Tut mir Leid! Ich wollte Sie nicht erschrecken. Aber dieses Instrument ist zweihundertfünfzig Jahre alt. Ich gehe sehr sorgsam mit ihm um und erlaube im Allgemeinen niemandem -«
Mit dem Rücken zu mir, winkte sie ab. Sie holte ein paar Mal tief Luft, dann schüttelte sie energisch den Kopf, wobei ihr Haar in alle Richtungen flog - habe ich erwähnt, dass sie lockiges Haar hat? Dunkelblond und sehr kraus -, und rieb sich die Augen. Dann drehte sie sich herum und sagte: »Ist schon okay. Ich hätte die Geige nicht anrühren sollen. Das war total gedankenlos von mir. Ich kann verstehen, dass Sie mich angebrüllt haben, ehrlich. Es war nur - wissen Sie, einen Moment lang waren Sie so total Rock, dass ich Panik gekriegt hab.«
Eine Sprache vom anderen Stern. Ich sagte: »Total Rock?«
»Rock Peters«, erklärte sie. »Vormals Rocco Petrocelli und derzeit mein Nochehemann. Eigentlich leben wir getrennt, aber nur so getrennt, wie er's zulässt, weil er die Kohle und überhaupt nichts damit am Hut hat, mir zu helfen, damit ich auf eigenen Füßen stehen kann.«
Ich fand, sie sähe viel zu jung aus, um verheiratet zu sein, aber es stellte sich heraus, dass sie, so wenig man das bei ihrem Aussehen und gewissen Resten von Babyspeck, die übrigens etwas recht Niedliches hatten, vermuten konnte, dreiundzwanzig Jahre alt und seit zwei Jahren mit dem unerfreulichen Rock verheiratet war.
Für den Moment jedoch begnügte ich mich mit einem kurzen »Ach!« als Kommentar.
Sie sagte: »Er hat einen Wahnsinnsjähzorn und von ehelicher Treue noch nie was gehört. Ich wusste nie, wann er ausflippen würde. Nachdem ich mich zwei Jahre lang ständig mit eingezogenem Kopf in der Bude rumgedrückt hatte, machte ich Schluss.«
»Oh. Das tut mir Leid.« Ich gebe zu, dass ich mich bei diesen privaten Geständnissen nicht sonderlich wohl fühlte. Es ist nicht so, dass mir solche Selbstentblößungen völlig fremd sind. Alle Amerikaner, die ich kenne, haben eine Neigung zu Beichte und Zerknirschung, als gehörte in ihrer Kultur das Herzausschütten genauso zur Grundausbildung wie das Salutieren vor der Flagge. Aber wenn man etwas kennt, heißt das noch lange nicht, dass es einem willkommen ist. Ich meine, was soll man mit solchen persönlichen Informationen eines anderen anfangen?
Sie erzählte mir noch mehr. Sie wollte die Scheidung, er nicht. Sie lebten weiterhin unter einem Dach, weil sie nicht das Geld hatte, um sich von ihm zu trennen. Immer wenn sie sich gerade so viel zusammengespart hatte, wie sie brauchte, um sich auf eigene Füße zu stellen, hielt er einfach ihren Lohn so lange zurück, bis sie das mühsam Ersparte wieder aufgebraucht hatte.
»Und ich frag mich echt, warum er mich überhaupt dahaben will. Das ist so ungefähr das größte Rätsel meines Lebens, wissen Sie? Ich meine, der Typ ist total vom Herdentrieb beherrscht, wozu dann der Quatsch?«
Er war, erklärte sie mir, ein Macho ohnegleichen, ein Anhänger der Überzeugung, dass eine Gruppe weiblicher Wesen - »die Herde, capito?« - von nur einem männlichen Wesen beherrscht und begattet werden sollte.
»Das Problem ist nur, dass in Rocks Augen das gesamte weibliche Geschlecht die Herde darstellt. Und er muss sie alle bumsen, um sie glücklich zu machen.« Sie schlug sich mit der Hand auf den Mund und sagte: »Hoppla. Entschuldigung.« Und dann lachte sie und sagte: »Naja, und so weiter. Du meine Güte, ich laber Ihnen hier die Ohren voll. Tut mir echt Leid. Haben Sie die Papiere unterschrieben?«
Das hatte ich natürlich nicht getan. Ich hatte ja gar keine Gelegenheit gehabt, sie zu lesen. Ich sagte, ich würde sie gleich unterschreiben, wenn Sie noch einen Moment warten könne. Daraufhin setzte sie sich still in eine Ecke.
Ich las, machte einen kurzen Anruf, um eine Passage zu klären, unterzeichnete die Verträge und gab sie ihr zurück. Sie schob sie in ihre Tasche, sagte danke und fragte dann, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt: »Darf ich Sie um einen Gefallen bitten?«
»Kommt darauf an.«
Sie trat leicht verlegen von einem Fuß auf den anderen. Aber dann packte sie den Stier bei den Hörnern, und ich bewunderte sie dafür. »Würden Sie - ich meine, ich habe noch nie eine Geige live gehört. Würden Sie mir bitte ein Lied vorspielen?«
Ein Lied! Sie hatte wirklich keine Ahnung! Aber auch Ahnungslose können lernen, und sie hatte höflich gefragt. Warum also nicht? Ich war sowieso beim Üben gewesen. Ich hatte an Bartoks Violinsonate gearbeitet und spielte ihr einen Teil der Melodia vor. Ich spielte so, wie ich immer spielte: mit ganzer Hingabe an die Musik, ohne Gedanken an mich selbst oder den Zuhörer. Als ich das Ende des Satzes erreichte, hatte ich ihre Anwesenheit vergessen. Ich ging zum Presto über, hörte wie immer Raphaels Mahnung: Mach es zu einer Aufforderung zum Tanz, Gideon. Spür die Lebendigkeit. Lass es funkeln wie Licht.
Zum Ende gekommen, wurde ich mir abrupt ihrer Gegenwart wieder bewusst, als sie sagte: »O wau! Wahnsinn! Ich meine, Sie sind ja echt total hervorragend!«
Als ich sie ansah, bemerkte ich, dass sie irgendwann während meines Spiels zu weinen begonnen hatte. Ihre Wangen waren feucht, und sie kramte in den Taschen ihrer Lederkluft, vermutlich auf der Suche nach einem Taschentuch, um ihre tropfende Nase zu trocknen. Es freute mich, sie mit Bartok bewegt zu haben, und noch mehr freute es mich, dass ich mit meiner Einschätzung ihrer Lernfähigkeit Recht gehabt hatte. Ich denke, das war der Grund, weshalb ich sie zum Morgenkaffee einlud. Es war ein schöner Tag, und wir tranken den Kaffee im Garten, wo ich am vorhergegangenen Nachmittag in der Laube an einem meiner Drachen gebastelt hatte.
Von den Drachen habe ich bisher nichts erzählt, nicht wahr, Dr. Rose? Nun, eigentlich gibt es dazu auch nichts weiter zu sagen. Drachenbauen ist einfach etwas, womit ich mich beschäftige, wenn ich das Gefühl habe, eine Pause von der Musik zu brauchen. Ich lasse sie auf dem Primrose Hill steigen.
Natürlich, Sie suchen gleich wieder nach einer tieferen Bedeutung, nicht wahr? Was bedeutet es für die Biografie und die gegenwärtige Lebenssituation des Patienten, dass er Drachen baut und steigen lässt? Das Unbewusste äußert sich in allen unseren Handlungen. Wir brauchen mit unserem Bewusstsein nur die Bedeutung dieser Handlungen zu erfassen und in verständliche Form zu bringen.
Drachen. Luft. Wind. Freiheit. Aber Freiheit wovon? Was für eine Freiheit brauche ich, da doch mein Leben reich und voll und rund ist?
Soll ich das Knäuel, das Sie aufzurollen suchen, noch ein wenig mehr verwirren? Ich bin nicht nur Drachenbauer, ich bin auch Segelflieger. Sie kennen diesen Sport: Man lässt sich in einem Flugzeug ohne Motor von einer Motormaschine hochziehen, klinkt dann aus und navigiert allein auf den Luftströmungen.
Mein Vater findet dieses Hobby ganz besonders beängstigend. Es hat zwischen uns zu solch heftigen Auseinandersetzungen geführt, dass wir nicht mehr darüber sprechen. Als ihm endlich klar wurde, dass er keinen Einfluss mehr darauf hat, was ich mit den wenigen Mußestunden anfange, die mir bleiben, schrie er wütend: »Ich will nichts mehr von dir wissen, Gideon!« Und von da an war das Thema zwischen uns tabu.
Es ist aber doch auch ein ziemlich gefährlicher Sport, sagen Sie.
Nicht gefährlicher als das Leben, antworte ich darauf.
Und dann fragen Sie: Was gefällt Ihnen am Segelfliegen? Die Stille? Die Beherrschung einer Kunst, die mit dem Beruf, den Sie sich erwählt haben, so gar nichts zu tun hat? Ist es eine Art der Flucht, Gideon, oder reizt Sie vielleicht das Risiko?
Da kann ich nur sagen, es ist gefährlich, zu tief zu schürfen, wenn etwas so leicht zu erklären ist: Als Kind durfte ich, nachdem meine Begabung sich gezeigt hatte, nichts tun, was meine Hände irgendwie gefährdet hätte. Drachen steigen lassen und Segelfliegen - da sind meine Hände vor Verletzung sicher.
Aber Sie sehen doch die Bedeutung solcher Tätigkeiten, Gideon, das Himmelstrebende daran?
Ich sehe nur, dass der Himmel blau ist. Blau wie die Tür. Wie diese blaue, blaue Tür.