174748.fb2 Nie sollst Du vergessen - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 6

Nie sollst Du vergessen - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 6

Gideon

28. August

Ich habe getan, was Sie vorgeschlagen haben, Dr. Rose, und kann nicht mehr dazu sagen, als dass ich mir wie ein kompletter Idiot vorkam. Vielleicht wäre das Experiment anders ausgegangen, wenn ich es, wie Sie wünschten, bei Ihnen in der Praxis vorgenommen hätte, aber es erschien mir einfach zu absurd. Absurder noch, als Stunden über diesem Tagebuch zu sitzen, anstatt auf meiner Geige zu üben, wie ich das gewöhnt bin und so gern tun würde.

Aber ich habe sie noch immer nicht angerührt.

Warum nicht?

Was soll die Frage, Dr. Rose? Sie wissen es doch. Sie ist weg. Die Musik ist weg. Verstehen Sie das denn nicht? Verstehen Sie nicht, was das bedeutet?

Heute Morgen war mein Vater hier. Er ist eben erst wieder gegangen. Er kam vorbei, um zu sehen, ob es mir besser geht - mit anderen Worten, ob ich versucht habe zu spielen. Er war immerhin so rücksichtsvoll, mich nicht direkt zu fragen. Aber er brauchte auch gar nicht zu fragen, die Guarneri lag noch genau so da, wie er sie hingelegt hatte, als er mich aus der Wigmore Hall nach Hause brachte. Ich habe noch nicht einmal den Nerv, den Kasten anzurühren.

Warum nicht?, fragen Sie wieder.

Und ich sage wieder, Sie wissen es doch. Weil mir im Moment aller Mut fehlt. Wenn ich nicht mehr spielen kann, wenn die Gabe, das Ohr, das Talent, das Genie, wie immer Sie es nennen wollen, auf den Tod krank oder mir ganz genommen ist, wie soll ich dann existieren? Nicht, wie soll ich weitermachen, Dr. Rose, sondern wie soll ich existieren! Wie soll ich existieren, wenn doch alles, was ich bin, von meiner Musik umfasst und durch sie definiert ist?

Dann sollten wir uns vielleicht die Musik einmal genauer ansehen, sagen Sie. Wenn jeder Mensch in Ihrem Leben auf irgendeine Art mit Ihrer Musik verknüpft ist, dann müssen wir diese Musik vielleicht viel, viel aufmerksamer betrachten, um auf den Schlüssel zu Ihren Leiden zu stoßen.

Ich lache und sage: War das Wortspiel beabsichtigt?

Und Sie sehen mich mit diesem ernsten, durchdringenden Blick an, nicht bereit, auf Leichtfertigkeiten einzugehen. Bartok, sagen Sie, über den Sie zuletzt geschrieben haben, die Violinsonate - ist das das Musikstück, das Sie mit Libby verknüpfen?

Ja, das stimmt, ich verknüpfe die Sonate mit Libby. Aber Libby hat mit meinem gegenwärtigen Problem nichts zu tun. Das versichere ich Ihnen.

Mein Vater hat das Tagebuch übrigens entdeckt. Als er vorbeikam, um nach mir zu sehen, fand er es auf der Fensterbank. Und bevor Sie fragen - nein, er hat nicht darin herumgeschnüffelt. Er ist vielleicht rücksichtslos in seiner Zielstrebigkeit, aber ein Spitzel ist er nicht. Er hat lediglich die letzten fünfundzwanzig Jahre seines Lebens daran gegeben, um die Karriere seines einzigen Kindes zu fördern, und er möchte natürlich, dass diese Karriere sich weiter entwickelt und nicht in einem plötzlichen Abbruch endet.

Ich werde allerdings nicht mehr lang sein einziges Kind sein. Daran habe ich in den letzten Wochen gar nicht mehr gedacht. Jill ist ja auch noch da. Ich kann mir nicht vorstellen, in meinem Alter einen kleinen Bruder oder eine kleine Schwester zu bekommen, geschweige denn eine Stiefmutter, die nicht einmal zehn Jahre älter ist als ich. Aber wir leben in einer Zeit der flexiblen Familien, und es ist wohl das Klügste, man passt sich den gleitenden Definitionen an.

Trotzdem finde ich es ziemlich merkwürdig, dass es meinem Vater jetzt noch einfällt, eine neue Familie zu gründen. Ich habe natürlich nicht erwartet, dass er nach der Scheidung auf immer und ewig allein bleiben würde. Aber nach beinahe zwanzig Jahren, in denen er meines Wissens niemals auch nur mit einer Frau befreundet war, geschweige denn eine engere Beziehung hatte, bei der man sich körperliche Intimität hätte vorstellen können, überrascht mich dieser Entschluss doch sehr.

Ich lernte Jill bei der BBC kennen, als ich mir den Rohschnitt eines Dokumentarberichts ansah, der im East London Conservatory gedreht worden war. Das ist inzwischen mehrere Jahre her, Jill hatte damals gerade diese hervorragende Bearbeitung von Desperate Remedies herausgebracht. Haben Sie die übrigens gesehen? Sie ist eine große Verehrerin von Thomas Hardy. Sie arbeitete damals in der Dokumentarfilmabteilung der BBC, wenn das die richtige Bezeichnung ist. Mein Vater muss sie ebenfalls um diese Zeit kennen gelernt haben, aber ich erinnere mich nicht, die beiden je zusammen gesehen zu haben, und ich habe keine Ahnung, wann die Beziehung zwischen ihnen begonnen hat. Ich weiß nur noch, dass mein Vater mich einmal zu sich zum Essen einlud und ich Jill dort in der Küche antraf. Sie stand am Herd und kochte irgendetwas. Ich wunderte mich zwar, sie zu sehen, glaubte aber, sie wäre nur gekommen, um uns die

Endfassung des Dokumentarberichts zur Begutachtung zu bringen. Kann sein, dass sich damals etwas anbahnte. Mein Vater stand, wenn ich mich jetzt erinnere, nach diesem Abend jedenfalls nicht mehr so uneingeschränkt wie bisher zu meiner Verfügung. Also hat die Geschichte vielleicht damals angefangen. Aber da Jill und mein Vater nie zusammenlebten - das soll sich meinem Vater zufolge nach der Geburt des Kindes ändern -, hatte ich im Grunde keinen Anlass, anzunehmen, dass irgendetwas zwischen ihnen wäre.

Und jetzt, wo Sie es wissen?, fragen Sie. Wie empfinden Sie es? Wann haben Sie von der Beziehung Ihres Vaters erfahren? Wann von dem Kind? Und wo war das?

Ich weiß schon, worauf Sie hinaus wollen. Aber ich muss Sie enttäuschen, Sie sind auf dem Holzweg, Dr. Rose.

Ich habe bereits vor einigen Monaten von der Beziehung meines Vaters zu Jill erfahren, nicht am Tag des Konzerts in der Wigmore Hall, nicht einmal in derselben Woche oder im selben Monat. Und es war weit und breit nirgends eine blaue Tür, als ich die freudige Nachricht von der baldigen Geburt meines künftigen Halbgeschwisters erhielt. Sehen Sie, ich wusste doch gleich, worauf Sie hinaus wollen.

Aber wie empfanden Sie es?, fragen Sie wieder, dass Ihr Vater nach so vielen Jahren eine zweite Ehe eingehen wollte - Es ist nicht die Zweite, korrigiere ich Sie sogleich. Es ist die Dritte!

Die dritte Ehe? Sie sehen die Notizen durch, die Sie sich während unserer Sitzungen gemacht haben, und finden keinen Hinweis auf eine frühere Ehe vor meiner Geburt. Aber es hat sie gegeben, und aus dieser ersten Ehe ist auch ein Kind hervorgegangen, ein Mädchen, das noch im

Säuglingsalter starb.

Sie hieß Virginia, und ich weiß nicht genau, wie und wo sie starb oder wie lange nach ihrem Tod mein Vater die Ehe mit ihrer Mutter beendete. Ich weiß nicht einmal, wer ihre Mutter war, ich kenne sie nicht. Tatsächlich weiß ich überhaupt nur von ihrer Existenz - und dieser früheren Ehe meines Vaters -, weil mein Großvater einmal, als er einen seiner Anfälle hatte, darüber zu schimpfen begann. Genauso, wie er immer auf meinen Vater schimpfte, wenn er aus dem Haus gebracht wurde, und brüllte, er wäre nicht sein Sohn. Nur schrie er diesmal, mein Vater könne sein Sohn nicht sein, er produziere ja nur Krüppel. Und ich nehme an, irgendjemand beruhigte mich mit einer hastigen Erklärung - war es meine Mutter, oder war sie damals schon fort? -, da ich wohl glaubte, mein Großvater meinte mich. Vermutlich ist Virginia also an irgendeinem, vielleicht erblichen Leiden gestorben. Was ihr tatsächlich fehlte, weiß ich nicht. Wer immer mir damals von ihr erzählte, wusste es wohl nicht oder wollte es mir nicht sagen, und danach wurde nie wieder über das Thema gesprochen.

Es wurde nie wieder darüber gesprochen?, fragen Sie.

Aber Sie kennen das doch, Dr. Rose. Kinder sprechen nicht über Dinge, die sie mit Chaos, Tumult und Streit verbinden. Sie lernen schon sehr früh, dass es besser ist, nicht in einem Wespennest herumzustochern. Den Rest können Sie sich gewiss denken: Da meine ganze Konzentration auf die Geige gerichtet war, dachte ich nicht mehr über die Geschichte nach, sobald man mich beruhigt und der Wertschätzung meines Großvaters versichert hatte.

Die Geschichte mit der blauen Tür jedoch ist etwas anderes. Wie ich bereits zu Beginn sagte, tat ich genau das, was Sie vorgeschlagen und was wir schon in Ihrer

Praxis versucht hatten. Ich stellte mir die Tür vor: preußischblau mit einem silbernen Ring in der Mitte als Türklopfer, zwei Schlösser, glaube ich, das eine in Silber wie der Ring und vielleicht eine Haus- oder Wohnungsnummer oberhalb des Rings.

Ich verdunkelte mein Schlafzimmer, legte mich auf mein Bett, schloss die Augen und versuchte, mir diese Tür vorzustellen. Ich stellte mir vor, ich ginge auf sie zu und umschlösse mit der Hand den Ring, der als Türklopfer dient. Ich stellte mir vor, ich sperrte auf; zuerst das untere Schloss mit so einem altmodischen Schlüssel mit grob gezacktem Bart, von dem sich leicht ein Duplikat machen lässt, dann das obere mit einem schmalen, modernen Sicherheitsschlüssel. Und nun, da offen ist, lehne ich mich mit der Schulter an die Tür und stoße sie leicht an. Und was geschieht? Nichts, Dr. Rose, rein gar nichts.

Hinter der Tür ist nichts. Nur Leere. Sie würden gern ein bisschen herumdeuten an dem, was ich hinter der Tür entdeckt habe, oder auch an ihrer Farbe, der Tatsache, dass sie zwei Schlösser hat statt eines und einen Ring als Klopfer. Könnte es eine Flucht vor Verbindlichkeit sein?, fragen Sie sich, während diese Übung bei mir gar nichts auslöst. Nichts hat sich mir gezeigt. Kein Gespenst hinter dieser Tür. Sie führt nirgendwohin, sie steht nur da oben am Ende der Treppe wie - Treppe? Sie stürzen sich sofort darauf. Es gibt also auch eine Treppe?

Ja, es gibt eine Treppe. Und das heißt, wie wir beide wissen, aufwärts steigen, in die Höhe streben, sich aus der Tiefe emporarbeiten. Und wenn schon!

Sie sehen die Erregung in meiner Handschrift, nicht wahr? Sie sagen, bleiben Sie bei der Angst. Sie wird Sie nicht umbringen, Gideon. Gefühle töten nicht. Sie sind nicht allein.

Das habe ich auch nie geglaubt, sage ich. Unterstellen Sie mir nicht etwas, wozu ich Ihnen keine Grundlage gegeben habe, Dr. Rose.

2. September

Libby war hier. Sie weiß, dass etwas nicht stimmt, weil sie seit Tagen kein Geigenspiel gehört hat und sie es im Allgemeinen stundenlang über sich ergehen lassen muss, wenn ich übe. Deshalb hatte ich die Souterrainwohnung nicht vermietet, nachdem die vorherigen Mieter ausgezogen waren. Ich dachte zwar daran, es zu tun, als ich das Haus nach dem Kauf bezog. Aber dann wurde mir klar, dass mich das Kommen und Gehen eines Mieters - selbst bei getrennten Eingängen - stören wurde, und ich im Übrigen auch keine Lust hatte, mich aus Rücksicht auf andere in meinen Übungszeiten einzuschränken.

Das alles erzählte ich Libby an jenem ersten Tag. Wir standen draußen vor der Haustür, sie zog die Reißverschlüsse ihrer Lederkluft zu und wollte gerade ihren Helm aufsetzen, als sie die leere Wohnung unten sah.

»Wau!«, rief sie. »Ist die zu vermieten?«

Ich erklärte ihr, dass ich die Wohnung absichtlich leer stehen ließ; dass sie an ein junges Paar vermietet gewesen sei, als ich das Haus gekauft hatte, die beiden aber sehr schnell ausgezogen seien, weil sie sich für Geigenspiel zu jeder Tages- und Nachtzeit nicht begeistern konnten.

Sie neigte den Kopf zur Seite und sagte: »Hey, wie alt sind Sie eigentlich? Reden Sie immer so hochgestochen? Als Sie mir vorhin die Drachen gezeigt haben, haben Sie sich total normal angehört. Also, wie kommt das? Gehört das dazu, wenn man Engländer ist? Sobald man aus dem

Haus geht, wird man Henry James?«

»Der war kein Engländer«, sagte ich.

»Ach! Tut mir Leid.« Sie wollte den Riemen ihres Helms zuziehen, schaffte es aber nicht. Sie wirkte nervös. »Ich habe mich auf der Highschool gerade mal so durchgemogelt, wissen Sie, da können Sie von mir nicht verlangen, dass ich Henry James von Sid Vicious unterscheiden kann, Kumpel. Ich weiß nicht mal, warum er mir überhaupt in den Kopf gekommen ist. Oder Sid Vicious.«

»Wer ist Sid Vicious?«, fragte ich mit ernster Miene.

Sie starrte mich an. »Jetzt hören Sie aber auf! Das soll wohl ein Witz sein?«

»Ja«, antwortete ich.

Da lachte sie. Naja, nicht richtig, es war eher ein Wiehern. Und sie packte mich beim Arm und sagte auf eine so unglaublich vertrauliche Art: »Mensch, du!«, dass ich gleichzeitig verblüfft und entwaffnet war. Und da habe ich angeboten, ihr die untere Wohnung zu zeigen.

Warum?, fragen Sie.

Weil sie sich nach der Wohnung erkundigt hatte und ich sie ihr zeigen wollte, und wahrscheinlich auch, weil ich sie eine Weile um mich haben wollte. Sie war so völlig unenglisch.

Sie sagen: Ich meinte nicht, warum Sie ihr die Wohnung zeigten, Gideon, ich meinte, warum erzählen Sie mir von Libby.

Weil sie gerade hier war.

Sie ist wichtig, nicht wahr?

»Ich weiß es nicht.«

3. September

»Mein richtiger Name ist Liberty«, sagt sie. »Ist das nicht absolut das Letzte? Meine Eltern waren Hippies, bevor sie Yuppies wurden, also lange bevor mein Dad in Silicon Valley ungefähr eine Billion Dollar machte. Von Silicon Valley wirst du ja wohl schon mal gehört haben, oder?«

Wir stapfen den Primrose Hill hinauf. Es ist ein Spätnachmittag im vergangenen Jahr. Ich trage einen meiner Drachen. Libby hat mich überredet, mit ihr zum Drachensteigen zu gehen. Eigentlich müsste ich üben. Ich soll in knapp drei Wochen mit den Philharmonikern das zweite Violinkonzert von Paganini einspielen, und das Alkgro maestoso bereitet mir einige Schwierigkeiten. Aber Libby ist gerade von einer Auseinandersetzung mit dem fürchterlichen Rock zurückgekehrt, der wieder einmal ihren Lohn einbehalten hat. »Und weißt du, was das Arschloch gesagt hat, als ich mein Geld verlangt hab«, berichtet sie mir. »>Mach 'ne Fliege, Mause, hat er gesagt. Und das machen wir jetzt, Gideon, komm. Wir machen die große Fliege mit einem deiner Drachen. Du arbeitest sowieso zu viel.«

Ich bin einverstanden. Ich habe bereits sechs Stunden Arbeit hinter mir, mit nur einer kurzen Unterbrechung gegen Mittag für einen Spaziergang im Regent's Park. Ich lasse sie den Drachen aussuchen, den wir mitnehmen wollen, und sie wählt ein Kastenmodell, das kreiseln kann und genau die richtige Windgeschwindigkeit braucht, um zu zeigen, was es kann.

Wir machen uns auf den Weg, folgen dem Bogen der Chalcot Crescent - sanierte Häuser, von Libby, der London im Verfall anscheinend besser gefällt als in Erneuerung, mit abwertenden Bemerkungen bedacht - und laufen über die Regent's Park Road in den Park, wo es zum Primrose Hill hinaufgeht.

»Der Wind ist zu stark«, sage ich und muss schreien, weil der Wind den Drachen packt und das Nylongewebe knallend gegen meinen Körper schlägt. »Für den hier braucht man ideale Bedingungen. Er wird wahrscheinlich nicht einmal abheben.«

Genauso ist es, sehr zu ihrer Enttäuschung, wo sie doch gehofft hatte, es dem »blöden Rock mit der großen Drachenfliege mal richtig zu zeigen. Der Typ ist so fies. Er droht mir echt damit, dass er den zuständigen Leuten« - eine vage Handbewegung in Richtung Westminster - »erzählen will, dass wir in Wirklichkeit überhaupt nicht verheiratet wären. Ich mein, nicht richtig, mit vollzogener Ehe und so. Dass wir's nie miteinander getan hätten. Dabei ist das echt der reine Scheiß.«

»Was würde denn passieren, wenn er den Behörden mitteilte, ihr wärt in Wirklichkeit nicht verheiratet?«

»Aber wir sind's doch. Mann, ich flipp noch aus mit dem Typen.«

Sie fürchtet, wie sich herausstellt, dass sie wegen ihrer Aufenthaltserlaubnis Schwierigkeiten bekommen wird, wenn ihr Mann seine Drohung wahr macht. Er wiederum fürchtet, da sie aus seiner - in meiner Vorstellung zweifellos verwahrlosten - Wohnung in Bemondsey in die Wohnung am Chalcot Square umgezogen ist, sie endgültig zu verlieren, was er offenbar trotz seiner ständigen Geschichten mit anderen Frauen nicht will. Es kam also wieder einmal zum Streit zwischen den beiden, der damit endete, dass er sie hinauswarf.

Sie tut mir Leid, und da uns der Drachen nicht den Gefallen getan hat, »die große Fliege« zu machen, lade ich sie zum Kaffee ein. Und bei dieser Gelegenheit erzählt sie mir, dass der Name Libby nur eine Kurzform von Liberty ist.

»Diese Hippies!«, sagt sie, von ihren Eltern sprechend. »Die wollten ihren Kindern die superabgefahrenen Namen geben.«

Dabei tat sie mit spöttischer Miene so, als zöge sie an einer Marihuanazigarette. »Meine Schwester hat's sogar noch schlimmer erwischt. Sie heißt Equality. Kannst du dir das vorstellen? Sie nennt sich Ali. Und wenn noch ein drittes Kind gekommen wäre -«

»Fraternity?«, sage ich.

»Du hast's erfasst. Immerhin kann ich noch heilfroh sein, dass sie abstrakte Begriffe gewählt haben. Sonst würde ich jetzt vielleicht Baum heißen.«

Ich muss lachen. »Könnte auch ein bestimmter Baum sein - Weide, Pinie, Linde.«

»Linde Neal. Hey, das klingt richtig geil.« Sie kramt unter den Zuckertütchen auf dem Tisch nach dem Süßstoff. Ich habe bereits entdeckt, dass sie eine chronische Kalorienzählerin ist, deren Streben nach dem perfekten Körper ihr »ewiges Kreuz« ist, wie sie es ausdrückt. Sie gibt den Süßstoff in ihren Caffè latte mit der fettarmen Milch und sagt. »Und du, Gideon?«

»Ich?«

»Wie sind deine Eltern? Bestimmt keine ehemaligen Blumenkinder, oder?«

Sie hatte meinen Vater noch nicht kennen gelernt; er allerdings hatte sie einmal spätnachmittags gesehen, als sie auf ihrer Suzuki von der Arbeit nach Hause kam und die Maschine am gewohnten Platz auf dem Bürgersteig gleich neben der Treppe abstellte, die zur unteren Wohnung hinunterführte. Sie fuhr donnernd vor und ließ die

Maschine zwei- oder dreimal aufheulen, wie das ihre Gewohnheit ist. Das Getöse erregte die Aufmerksamkeit meines Vaters. Er trat ans Fenster, sah sie und sagte: »Das kann doch nicht wahr sein! Da kettet so ein verdammter Motorradfahrer seine Maschine direkt an deinem Eisenzaun an, Gideon. Also -« Er schickte sich an, das Fenster aufzureißen.

»Das ist Libby Neal«, sagte ich. »Das ist schon in Ordnung, Dad. Sie wohnt hier.«

Er drehte sich langsam um. »Was sagst du da? Das ist eine Frau da draußen! Und sie wohnt hier?«

»Unten. In der Wohnung. Ich habe sie jetzt doch vermietet. Habe ich vergessen, dir das zu sagen?«

Vergessen konnte man es nicht nennen. Aber ich hatte es auch nicht bewusst unterlassen, ihm von Libby zu erzählen; es war einfach ein Thema, das nicht zur Sprache gekommen war. Mein Vater und ich sprechen täglich miteinander, aber unsere Gespräche drehen sich stets um berufliche Angelegenheiten - ein bevorstehendes Konzert, zum Beispiel, oder eine Konzertreise, die er gerade auf die Beine stellt, oder um Plattenaufnahmen, Interviews, persönliche Auftritte von mir und dergleichen. Vergessen Sie nicht, dass ich von seiner Beziehung zu Jill erst erfuhr, als es kaum noch zu umgehen war. Ich meine, das plötzliche Auftauchen einer offensichtlich schwangeren Frau im Leben meines Vaters verlangte schließlich nach einer Erklärung. Aber wir hatten nie so eine kumpelhafte Vater-Sohn-Beziehung. Wir widmen uns beide seit meiner Kindheit ganz meiner künstlerischen Entwicklung als Musiker, und bei dieser beiderseitigen Konzentration auf eine bestimmte Sache hat nie die Möglichkeit oder auch die Notwendigkeit zu diesen Seelengesprächen bestanden, die heutzutage als Zeichen von Nähe zwischen Menschen gelten.

Glauben Sie mir, ich habe an der Beziehung, wie sie zwischen meinem Vater und mir besteht, überhaupt nichts auszusetzen. Sie ist stabil und zuverlässig, und wenn auch vielleicht nicht die Art seelischer Verbindung besteht, die uns dazu treibt, gemeinsam den Himalaja zu besteigen oder den Nil hinaufzupaddeln, so gibt sie mir doch Halt und Kraft. Um es ganz klar zu sagen, Dr. Rose, ohne meinen Vater wäre ich nicht da, wo ich heute bin.

4. September

Nein! Damit werden Sie mich nicht einfangen.

Wo sind Sie heute, Gideon?, fragen Sie freundlich und milde.

Aber ich mache dieses Spiel nicht mit! Mein Vater hat keinen Part in dieser Sache, was auch immer diese Sache sein mag. Wenn ich es nicht über mich bringe, die Guarneri auch nur zur Hand zu nehmen, so ist das nicht meines Vaters Schuld. Ich lasse mich von Ihnen nicht zu einem dieser wehleidigen Jammerlappen machen, die an jeder Schwierigkeit in ihrem Leben ihren Eltern die Schuld geben. Mein Vater hat ein schweres Leben gehabt. Er hat sein Bestes getan.

Schwer inwiefern?, wollen Sie wissen.

Na ja, stellen Sie sich nur vor, einen Mann wie meinen Großvater zum Vater zu haben! Mit sechs Jahren ins Internat verfrachtet zu werden. Und dann, wenn man schon mal zu Hause ist, mit den psychotischen Schüben des Vaters leben zu müssen. Dabei immer ganz klar zu wissen, dass überhaupt keine Hoffnung besteht, den Erwartungen gerecht werden zu können, ganz gleich, was man tut, weil man adoptiert ist und der Vater einen das nie vergessen lässt. Nein, mein Vater hat als Vater, weiß Gott, sein Bestes getan. Und als Sohn war er besser als die meisten.

Besser als Sie in Ihrer Rolle als Sohn?, fragen Sie.

Danach müssen Sie meinen Vater fragen.

Aber was halten Sie von sich selbst als Sohn, Gideon? Was kommt Ihnen als Erstes in den Sinn?

Enttäuschung, antworte ich.

Dass Sie Ihren Vater enttäuscht haben?

Nein. Dass ich ihn nicht enttäuschen darf, aber es vielleicht tue.

Hat er Ihnen denn gesagt, wie wichtig es ist, ihn nicht zu enttäuschen?

Kein einziges Mal. Überhaupt nicht. Aber - Aber?

Er mag Libby nicht. Irgendwie wusste ich von Anfang an, dass er sie nicht mögen oder dass ihre Anwesenheit in meinem Haus ihm nicht passen würde. Ich wusste, er würde fürchten, dass sie mich von meiner Arbeit ablenkt, oder sogar, was natürlich noch schlimmer wäre, von ihr abhält.

Sie fragen: Das ist wohl der Grund, warum er sofort »Es ist diese Frau, diese verwünschte Person« sagte, als Sie den Blackout in der Wigmore Hall hatten? Er ist ja augenblicklich auf Libby gekommen, nicht wahr?

Ja.

Warum?

Also, er will ganz sicher nicht, dass ich wie ein Mönch lebe. Weshalb sollte er auch? Familie ist alles für meinen Vater. Und wenn ich nicht eines Tages heirate und selbst Kinder in die Welt setze, wird es keine Familie mehr geben.

Ja, aber jetzt ist ein zweites Kind unterwegs, nicht wahr?

Die Familie wird also fortbestehen, unabhängig davon, was Sie tun, Gideon.

Das ist richtig.

Und damit kann Ihr Vater jede Frau in Ihrem Leben ablehnen, ohne die Konsequenzen fürchten zu müssen; nämlich, dass Sie sich seine Ablehnung zu Herzen nehmen und niemals heiraten werden. Nicht wahr, Gideon?

Nein! Dieses Spiel mache ich nicht mit. Es geht hier nicht um meinen Vater. Wenn er Libby nicht mag, dann nur, weil er sich Sorgen macht, was für einen Einfluss sie auf meine Musik haben könnte. Und er hat jedes Recht, besorgt zu sein. Libby kann einen Geigenbogen nicht von einem Küchenmesser unterscheiden.

Stört sie Sie bei der Arbeit?

Nein.

Steht sie Ihrer Musik gleichgültig gegenüber?

Nein.

Ist sie aufdringlich? Missachtet sie Ihr Bedürfnis, für sich zu sein? Stellt sie Ansprüche an Sie, mit denen sie Ihnen Übungszeit raubt?

Nie, nein.

Sie sagten, sie habe keine Ahnung von Musik. Kultiviert sie Ihrem Eindruck nach ihre Ahnungslosigkeit, als wäre dies eine Leistung?

Nein.

Und trotzdem mag Ihr Vater sie nicht!

Aber schauen Sie, er will doch nur mein Bestes. Er hat nie etwas getan, was nicht zu meinem Besten gewesen wäre. Ohne ihn wäre ich nicht hier bei Ihnen, Dr. Rose. Als er nach dem Blackout in der Wigmore Hall sah, was mit mir los war, sagte er nicht: »Reiß dich zusammen, Gideon. Da draußen im Saal sitzt ein Haufen Leute, die teuer dafür bezahlt haben, dich zu hören.« Nein. Er sagte zu Raphael: »Er ist krank. Entschuldige uns beim Publikum«, und brachte mich sofort nach Hause. Er packte mich ins Bett und blieb die ganze Nacht bei mir und sagte: »Das kriegen wir schon wieder hin, Gideon. Jetzt schläf erst einmal.«

Er gab Raphael den Auftrag, sich um Hilfe für mich zu kümmern. Raphael wusste von der Arbeit Ihres Vaters mit Künstlern, die Ähnliches erlebt hatten wie ich. Und ich bin zu Ihnen gekommen, weil mein Vater möchte, dass ich wieder zu meiner Musik finde. Darum bin ich zu Ihnen gekommen.

5. September

Niemand sonst weiß die Wahrheit, nur wir drei: mein Vater, Raphael und ich. Nicht einmal meine PR-Agentin weiß, was wirklich los ist. In ärztlicher Behandlung, hat sie bekannt gegeben und den Leuten erzählt, es handle sich um körperliche Erschöpfung.

Wahrscheinlich werden die meisten hinter meinem Verhalten nichts als Starallüren sehen, aber das soll mir recht sein. Sollen sie ruhig vermuten, ich wäre gegangen, weil mir die Beleuchtung im Saal nicht passte; Hauptsache, die Wahrheit sickert nicht durch.

Welche Wahrheit meinen Sie?, fragen Sie.

Gibt es denn mehr als eine?, frage ich zurück.

Aber gewiss, sagen Sie. Die eine Wahrheit ist das, was Ihnen zugestoßen ist. Man nennt das eine psychogene Amnesie. Die andere Wahrheit ist das Warum dieses plötzlichen teilweisen Gedächtnisverlusts. Und die Frage nach dem Warum ist der Anlass unserer Gespräche.

Wollen Sie damit sagen, solange wir nicht wissen, warum ich diese - diese - wie nannten Sie es -?

Psychogene Amnesie. Es ist ähnlich wie hysterische Lähmung oder Blindheit: Ein Teil von Ihnen, der stets perfekt funktioniert hat - in diesem Fall Ihr musikalisches Gedächtnis, wenn Sie es so nennen wollen -, streikt plötzlich. Und solange wir nicht wissen, woher diese Störung kommt, was dahinter steckt, können wir sie nicht beheben.

Ich frage mich, ob Sie eine Ahnung haben, wie furchtbar mich diese Eröffnung erschreckt, Dr. Rose. Sie sagen mir das mit teilnehmendem Verständnis, aber ich komme mir trotzdem wie ein Krüppel vor. Ja, ja, ich weiß, das ist ein Wort aus meiner Kindheit, Sie brauchen mich nicht darauf hinzuweisen. Ich kann ja jetzt noch hören, wie mein Großvater es meinem Vater ins Gesicht brüllt, während sie ihn aus dem Haus zerren, und heute noch beschimpfe ich mich selbst täglich mit diesem Wort. Du bist ein Krüppel, sage ich zu mir. Ein armseliger Krüppel. Den Garaus sollte man dir machen, du Krüppel.

Sind Sie denn wirklich einer?, fragen Sie.

Aber ja, was sonst? Ich bin nie in meinem Leben Fahrrad gefahren, ich habe nie Rugby oder Cricket gespielt, nie einen Tennisball geschlagen, ich bin nicht einmal zur Schule gegangen. Ich hatte einen Großvater, der regelmäßig psychotische Schübe hatte, eine Mutter, die wahrscheinlich als Nonne im Kloster glücklicher gewesen wäre und dort vermutlich auch endete, einen Vater, der Tag und Nacht schuftete, um mir eine Karriere zu ermöglichen, und einen Geigenlehrer, der mich von Konzertreisen zu Schallplattenterminen schleppte und niemals aus den Augen ließ. Ich wurde verwöhnt, verhätschelt und angebetet, Dr. Rose. Kann ein Mensch unter solchen Bedingungen »normal« bleiben? Da muss man doch zum Krüppel werden!

Ist es ein Wunder, dass ich von Magengeschwüren gequält werde? Dass ich mir vor jedem Auftritt, mit Verlaub, die Seele aus dem Leib kotze? Dass mir das Hirn manchmal wie ein Vorschlaghammer im Schädel dröhnt? Dass ich seit mehr als sechs Jahren unfähig bin, mit einer Frau zu schlafen? Und selbst als ich das noch konnte, war der Akt niemals mit Nähe, Lust oder Leidenschaft verbunden, sondern immer nur mit einem Drang, es zu erledigen, es hinter mich zu bringen, mir meine armselige Befriedigung zu holen und die Frau möglichst schnell wieder loszuwerden.

Was ist denn einer wie ich anderes als ein Krüppel, Dr. Rose?

7. September

Libby fragte heute Morgen, ob etwas nicht in Ordnung sei. Sie kam im gewohnten Freizeitlook - Overall, T-Shirt, Wanderstiefel - aus dem Haus, offenbar in der Absicht, ein paar Runden zu laufen. Jedenfalls hatte sie wie meistens, wenn sie in Sachen Fitness unterwegs ist, ihren Walkman auf. Ich saß oben auf der Fensterbank und schrieb brav an meinem Tagebuch, als sie heraufschaute und mich sah. Und schon war sie da.

Sie probiere gerade eine neue Diät aus, erzählt sie. Die so genannte »Kein-Weiß-Diät«. »Ich hab es mit der Mayodiät probiert, mit der Kohlsuppendiät, der Kartoffeldiät, der Scarsdale-Diät, wirklich mit allem, und nichts hat was gebracht. Darum mach ich jetzt diese neue Kur.« Bei der man, wie sie mir erklärt, essen darf, was man will, solange es nicht weiß ist. Auch weiße Nahrungsmittel, die künstlich gefärbt sind, sind verboten.

Ich weiß inzwischen, dass sie von der fixen Idee geplagt wird, zu dick zu sein, und ich verstehe bis heute nicht, wieso. So weit ich sehen kann - nicht allzu weit, zugegebenermaßen, da ich sie immer nur in ihrer Lederkluft oder ihrem Jeansoverall erlebe -, ist sie überhaupt nicht dick. Und wenn andere sie vielleicht ein wenig pummelig finden - ich gehöre nicht zu ihnen! -, dann kommt das vermutlich daher, weil sie ein rundes Gesicht hat. Mit einem runden Gesicht wirkt man leicht etwas mollig, nicht wahr? Aber damit kann ich sie nicht trösten. »Wir leben in spindeldürren Zeiten«, sagt sie. »Du hast Glück, dass du von Natur aus so mager bist.«

Ich habe ihr nie gesagt, welchen Preis ich für diesen mageren Körper bezahlt habe, den sie offenbar bewundert. Stattdessen pflege ich zu sagen: »Frauen sind viel zu stark auf ihr Gewicht fixiert. Du siehst doch gut aus.«

Als ich ihr wieder einmal damit komme, meint sie: »Wenn ich so gut aussehe, könntest du ja mal mit mir ausgehen, oder?«

Und so fängt es an. Wir sehen uns häufiger, gehen hin und wieder miteinander aus. Aber ich würde nicht sagen, dass wir »miteinander gehen«. Ich mag diesen Ausdruck nicht, er klingt so pubertär, aber selbst wenn diese Abneigung nicht wäre, würde ich ihn nicht gebrauchen, um die Beziehung zwischen uns zu beschreiben.

Was für eine Beziehung haben Sie denn zu Libby Neal?, fragen Sie.

Sie meinen: Schlafen Sie mit ihr, Gideon? Hat sie es endlich geschafft, das Eis in Ihren Adern zu schmelzen?

Das kommt darauf an, was Sie meinen, wenn Sie fragen, ob ich mit ihr schlafe, Dr. Rose. Das ist auch so ein Ausdruck, den ich eigentlich nicht mag. Warum sprechen wir von »schlafen«, wenn doch schlafen das Letzte ist, was wir im Sinn haben, wenn wir mit einem Partner ins Bett steigen.

Aber ja, man könnte sagen, wir schlafen miteinander. Hin und wieder. Damit meine ich allerdings nur, dass wir zusammen in einem Bett schlafen. Sonst passiert gar nichts. Für mehr sind wir beide noch nicht reif.

Und wie kam es dazu?, fragen Sie.

Ach, das war eine ganz natürliche Entwicklung. Eines Abends hat sie nach einem besonders anstrengenden Probentag vor einem Konzert im Barbican für mich gekocht. Ich bin danach auf ihrem Bett eingeschlafen, auf das wir uns gesetzt hatten, um uns eine Platte anzuhören. Sie hat mich zugedeckt und ist mit unter die Decke gekrochen, und so sind wir bis zum nächsten Morgen geblieben. Seitdem schlafen wir hin und wieder zusammen. Ich denke, es hat für uns beide etwas Tröstliches.

Es gibt Ihnen Geborgenheit, sagen Sie.

Insofern es gut tut, sie neben mir zu haben, ja, es vermittelt mir ein Gefühl von Geborgenheit.

Sie sagen, dass in Ihrer Kindheit etwas gefehlt hat, Gideon. Wenn alle sich nur für Ihre künstlerische Entwicklung und Ihre Leistungen auf der Geige interessiert haben, kann man sich vorstellen, dass tiefe kindliche Bedürfnisse, die Sie hatten, unbeachtet und ungestillt blieben.

Dr. Rose, ich muss darauf bestehen, dass Sie akzeptieren, was ich Ihnen sage: Ich hatte gute Eltern. Ich habe Ihnen ja schon berichtet, dass mein Vater Tag und Nacht gearbeitet hat, um für die Familie zu sorgen. Als sich zeigte, dass ich das Potenzial, die Begabung und den Wunsch hatte ein - nun, sagen wir, das zu werden, das ich heute bin -, hat auch meine Mutter sich Arbeit gesucht, um zur Deckung der immensen Kosten beizutragen. Ich habe meine Eltern deshalb vielleicht nicht so viel gesehen, wie es unter normalen Umständen möglich gewesen wäre, aber ich hatte Raphael, der jeden Tag Stunden mit mir verbrachte, und ich hatte Sarah-Jane.

Wer ist Sarah-Jane?

Sarah-Jane Beckett. Ich weiß nicht recht, als was ich sie bezeichnen soll. Gouvernante ist ein zu altmodischer Ausdruck, und Sarah-Jane wäre einem ganz schön über den Mund gefahren, wenn man sie so genannt hätte. Sagen wir einfach, sie war meine Lehrerin. Wie ich bereits früher bemerkte, bin ich nie zur Schule gegangen. Regelmäßiger Schulbesuch hätte sich mit meinen täglichen Musikstunden nicht vereinbaren lassen. Darum wurde Sarah-Jane engagiert. Sie sollte mich in den normalen Schulfächern unterrichten. Wenn ich nicht mit Raphael arbeitete, dann mit ihr. Sie lebte jahrelang bei uns im Haus. Sie muss gekommen sein, als ich fünf oder sechs Jahre alt war - sobald meinen Eltern klar wurde, dass eine Erziehung nach traditionellem Muster für mich nicht infrage kam -, und sie blieb bis zu meinem sechzehnten Lebensjahr. Da war meine Schulbildung abgeschlossen, und meine vielen Termine - Auftritte, Plattenaufnahmen, Proben, Übungsstunden - ließen weitere Studien nicht zu. Aber bis dahin hatte ich täglich Unterricht bei Sarah-Jane.

War sie ein Mutterersatz für Sie?, fragen Sie.

Immer und immer wieder kommen Sie auf meine Mutter zurück. Suchen Sie nach ödipalen Verbindungen, Dr. Rose? Wie war's mit einem ungelösten Ödipuskomplex? Mutter entzieht sich ihrem Sohn, als dieser fünf Jahre alt ist, indem sie täglich zur Arbeit geht, und gibt dem armen Jungen so keine Möglichkeit, seine unbewusste Begierde, mit ihr zu kopulieren, zu verarbeiten. Als er acht oder neun ist oder wie alt auch immer, ich kann mich nicht erinnern, und es ist mir auch egal, verschwindet sie ganz aus seinem Leben und wird nie wieder gesehen.

Ich erinnere mich allerdings an ihr Schweigen. Merkwürdig. Das fällt mir erst jetzt ein, in diesem Moment. Das Schweigen meiner Mutter. Und ich erinnere mich, dass ich einmal, als sie noch bei uns war, nachts aufwachte und sie bei mir im Bett lag. Sie hält mich in den Armen, und ich kann kaum atmen, so wie sie mich hält. Sie hat die Arme um mich gelegt, und drückt meinen Kopf irgendwie… Ach, ich weiß nicht mehr…

Wie hält Ihre Mutter Sie, Gideon?

Ich weiß nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass ich Mühe habe, Luft zu bekommen. Ich spüre ihren Atem, und es ist sehr heiß.

Ihr Atem ist heiß?

Nein, nein. Alles. Da, wo ich bin. Ich möchte fliehen.

Vor ihr?

Nein. Einfach fliehen. Weglaufen. Natürlich könnte das alles auch ein Traum gewesen sein. Es ist ja so lange her.

Ist es häufiger als einmal vorgekommen?, fragen Sie.

Ich sehe wieder mal genau, worauf Sie hinaus wollen, und ich mache da nicht mit. Ich werde nicht vorgeben, mich an irgendetwas zu erinnern, nur weil Sie es gern so hätten. Hier sind die Tatsachen: Meine Mutter liegt neben mir im Bett; sie hält mich in den Armen; es ist heiß; ich rieche ihr Parfüm. Und auf meine Wange drückt ein Gewicht. Ich fühle es. Es ist schwer und unbewegt, und es riecht nach Parfüm. Wie seltsam, dass ich mich an diesen Geruch erinnere! Ich könnte ihn nicht beschreiben, aber ich denke, wenn ich ihn irgendwo wahrnähme, würde ich ihn auf der Stelle wieder erkennen, und er würde mich an meine Mutter erinnern.

Ich vermute, sie hielt Sie zwischen ihren Brüsten, sagen Sie. Daher die Wahrnehmung von Schwere und Parfümgeruch. Ist es dunkel in Ihrem Zimmer, oder brennt vielleicht ein Licht?

Ich weiß nicht. Ich erinnere mich nur an die Hitze, die Schwere, den Duft. Und an das Schweigen.

Haben Sie danach mit irgendeinem anderen Menschen so gelegen? Mit Libby vielleicht? Oder einer anderen Frau? Vor Libby?

Lieber Gott, nein! Es geht hier nicht um meine Mutter! Gut. Ja. Ich weiß natürlich, wie schwer in meinem Leben die Tatsache wiegt, dass sie mich - uns - verlassen hat. Ich bin schließlich kein Idiot. Ich komme von einer Reise durch Österreich nach Hause, und meine Mutter ist fort, ich sehe sie nie wieder, höre nie wieder ihre Stimme, bekomme keinen einzigen Brief von ihr… Ja, ja, Sie brauchen es mir nicht zu sagen, das ist ein tief einschneidendes Erlebnis. Und ich kann mir vorstellen, was ich als Kind daraus geschlossen haben könnte, dass ich verlassen wurde: Es ist meine Schuld. Vielleicht habe ich es damals tatsächlich so empfunden, aber bewusst war es mir nicht, und ganz sicher empfinde ich es heute nicht mehr so. Sie hat uns verlassen. Und aus.

Und aus? Wie meinen Sie das?, fragen Sie.

Genauso. Wir haben nie wieder von ihr gesprochen. Oder zumindest ich nicht. Wenn meine Großeltern und mein Vater von ihr gesprochen haben, oder Raphael, Sarah-Jane und James, der Untermieter - Er war noch da, als sie fort ging?

Er war da - oder nein? Nein. Er kann nicht da gewesen sein. Es war Calvin. Sagte ich nicht, dass es Calvin war? Ja, natürlich, Calvin versuchte damals telefonisch Hilfe zu holen, als meine Mutter gegangen war und mein Großvater eine seiner »Episoden« hatte. James hatte sich längst aus dem Staub gemacht.

Aus dem Staub gemacht, wiederholen Sie. Das klingt irgendwie nach Heimlichkeit. War es denn mit Heimlichkeiten verbunden, als James bei Ihnen auszog?

Bei uns gab es überall Heimlichkeiten. Schweigen und Heimlichkeiten. So kommt es mir jedenfalls vor. Ich betrete ein Zimmer, und sofort wird es still. Ich weiß, dass sie von meiner Mutter gesprochen haben, aber ich darf nicht von ihr sprechen.

Was geschieht denn, wenn Sie es tun?

Ich weiß es nicht. Ich habe es nie ausprobiert.

Warum nicht?

Die Musik ist der Mittelpunkt meines Lebens. Ich habe die Musik. Ich habe sie immer noch. Mein Vater, meine Großeltern, Sarah-Jane und Raphael, sogar Calvin, der Untermieter - wir alle haben immer noch die Musik.

War das denn ein ausdrückliches Gebot? Ich meine, dass Sie nicht nach Ihrer Mutter fragen sollen? Oder ging das stillschweigend?

Letzteres, wahrscheinlich - ich weiß es nicht. Sie kommt uns bei unserer Rückkehr aus Österreich nicht entgegen, um uns zu begrüßen. Sie ist fort, aber niemand verliert ein Wort darüber. Im Haus ist jede Spur von ihr gelöscht. Es ist, als hätte sie dort nie gelebt. Und alle schweigen. Sie tun nicht so, als wäre sie verreist. Sie tun nicht so, als wäre sie plötzlich gestorben oder als wäre sie vielleicht mit einem anderen Mann durchgebrannt. Sie verhalten sich so, als hätte sie nie existiert. Und das Leben geht weiter.

Sie fragten nie nach ihr?

Ich muss gewusst haben, dass sie eines der Themen war, über die bei uns nicht gesprochen wurde.

Eines? Gab es denn noch andere?

Vielleicht habe ich sie nicht vermisst. Ich erinnere mich nicht, sie vermisst zu haben. Ich weiß kaum noch, wie sie ausgesehen hat, nur dass sie blonde Haare hatte und immer ein Kopftuch aufsetzte, so wie es die Queen trägt. Aber das wird in der Kirche gewesen sein. Ah ja, daran erinnere ich mich auch, dass ich mit ihr in der Kirche war. Ich weiß, dass sie geweint hat. Ja, sie weint bei der Morgenmesse, und vorn in der Klosterkapelle sitzen die Nonnen, auf der anderen Seite des Lettners, oder Lettner ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck, es ist mehr ein Gitter, das sie von den Laien trennen soll. Aber bei der Frühmesse sind nie Laien da, vor denen sie sich abschirmen müssten. Nur meine Mutter und ich. Von den Nonnen trägt nur eine die Ordenstracht, die anderen sind alle ganz normal gekleidet, wenn auch sehr einfach und mit Kreuzen auf der Brust. Meine Mutter kniet, sie kniet immer bei der Messe, und hat den Kopf auf ihre Hände gelegt. Sie weint die ganze Zeit, und ich weiß nicht, was ich tun soll.

Warum weint sie?, wollen Sie natürlich wissen.

Ich weiß es nicht, sie weint eigentlich immer. Nach der Kommunion, aber noch vor dem Ende der Messe, kommt die eine Nonne, die in Tracht ist, zu meiner Mutter und führt uns beide in ein Sprechzimmer oder so etwas, im Kloster nebenan. Dort spricht sie mit meiner Mutter. Die beiden sitzen in der einen Ecke des Zimmers, und ich in der anderen, ihnen schräg gegenüber. Man hat mir ein Buch zum Lesen gegeben und mir geboten, mich zu setzen. Ich bin voller Ungeduld, ich möchte nach Hause. Raphael hat mir versprochen, mit mir zur Belohnung in die Festival Hall zu gehen, wenn ich die Übungen, die er mir aufgegeben hat, fehlerfrei spiele. Dort gibt Ilya Kaier ein Konzert. Er ist noch keine zwanzig Jahre alt, aber er hat beim Paganini-Wettbewerb in Genua schon den ersten Preis gewonnen, und ich möchte ihn unbedingt hören. Ich bin nämlich fest entschlossen, ihn eines Tages weit zu übertreffen.

Wie alt sind Sie zu der Zeit?, fragen Sie.

Sechs, glaube ich, höchstens sieben. Und ich möchte schnellstens nach Hause. Ich stehe also von meinem Stuhl auf, gehe zu meiner Mutter und zupfe sie am Ärmel. »Mama, mir ist langweilig«, sage ich. Das sage ich immer, das ist meine Art der Kommunikation. Nicht: Ich muss noch üben, Mama. Sondern: Mir ist langweilig, und es ist deine Pflicht als meine Mutter, etwas dagegen zu tun. Aber Schwester Cecilia - ja, so hieß sie, ich erinnere mich jetzt wieder - nimmt mich bei der Hand und führt mich zu meinem Stuhl in der Ecke zurück. »Du wirst brav hier sitzen bleiben, bis zu geholt wirst, Gideon«, sagt sie ruhig und bestimmt, und ich bin fassungslos. So spricht niemand mit mir! Ich bin schließlich das Wunderkind. Ich bin - um es einmal so auszudrücken - einmaliger als jeder andere in meiner Welt.

Vielleicht aus Verblüffung über die ungewohnte Maßregelung, noch dazu von so einer Frau, bleibe ich zunächst in meiner Ecke, während Schwester Cecilia und meine Mutter sich mit leisen Stimmen weiter unterhalten. Aber nach einigen Minuten beginne ich mit den Füßen gegen ein Bücherregal zu treten, mit zunehmender Wucht, bis die ersten Bücher herunterfallen und eine Marienstatuette zu Boden stürzt und zerspringt. Kurz danach nimmt meine Mutter mich bei der Hand, und wir gehen.

An diesem Morgen glänze ich beim Musikunterricht, und Raphael geht am Abend mit mir wie versprochen ins Konzert. Er hat ein Treffen mit Ilya Kaier arrangiert, ich habe meine Geige mitgebracht, und wir musizieren zusammen. Kaier ist brillant, aber ich weiß, dass ich ihn übertrumpfen werde. Schon an diesem Tag weiß ich das.

Was ist mit Ihrer Mutter?, fragen Sie.

Sie ist sehr viel oben.

In ihrem Zimmer?

Nein. Nein. Im Kinderzimmer.

Im Kinderzimmer? Warum denn das?

Und ich weiß die Antwort. Ich weiß sie. Wo hat sich dieses Wissen all die Jahre versteckt? Wieso ist es auf einmal wieder da?

Meine Mutter ist bei Sonia.

8. September

Es sind Lücken da, Dr. Rose. In meinem Gedächtnis existieren sie als unvollständige Bilder, in Umrissen, aber größtenteils schwarz.

Sonia ist Teil eines solchen Bildes. Ich erinnere mich jetzt der Tatsache, dass es sie gab - Sonia - und dass sie meine jüngere Schwester war. Sie ist sehr jung gestorben. Auch daran erinnere ich mich.

Das wird wohl der Grund sein, warum meine Mutter morgens bei der Frühmesse stets weinte. Und Sonias Tod muss zu den Themen gehört haben, über die bei uns nicht gesprochen wurde. Über ihren Tod zu sprechen, hätte meine Mutter von neuem in Kummer und Leid gestürzt, und das wollten wir ihr ersparen.

Ich versuche ein Bild von Sonia heraufzubeschwören, aber es ist nichts da. Nur eine leere Leinwand. Und wenn ich versuche mich in Verbindung mit irgendwelchen besonderen Ereignissen an sie zu erinnern - mit Weihnachten oder Ostern oder der alljährlichen Taxifahrt mit Großmutter zum Geburtstagslunch bei Fortnum and Mason, irgendetwas, ganz gleich, was - stoße ich auch nur auf Leere. Da ist einfach gar nichts. Nicht einmal den Tag, an dem sie starb, habe ich im Gedächtnis. Auch ihre Beerdigung nicht. Ich weiß nur, dass sie starb, weil sie auf einmal nicht mehr da war.

Genau wie Ihre Mutter, Gideon?, fragen Sie.

Nein. Anders. Es fühlt sich jedenfalls ganz anders an. Sie war meine Schwester, und sie starb sehr früh, das ist das Einzige, was ich mit Gewissheit weiß. Nach ihrem Tod verließ uns meine Mutter. Ob es bald danach war oder erst Monate oder Jahre später, kann ich nicht sagen. Aber wie kommt es, dass ich mich an meine Schwester nicht erinnern kann? Was ist ihr zugestoßen? Woran sterben Kinder? An Krebs, Leukämie, Scharlach, Influenza, Lungenentzündung… Woran noch?

Das ist das zweite Kind, das starb, sagen Sie.

Wie? Was meinen Sie? Das zweite Kind?

Das zweite Kind Ihres Vaters, das starb, Gideon. Sie haben mir doch von Virginia erzählt…

Kinder sterben, Dr. Rose. Das kommt immer wieder vor. Jeden Tag. Kinder werden krank. Und Kinder sterben.