174748.fb2 Nie sollst Du vergessen - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 7

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»Ich frage mich wirklich, wie die Frau vom Partyservice hier zurecht gekommen ist«, sagte Frances Webberly. »Für uns ist die Küche natürlich gut genug. Wir würden einen Geschirrspüler oder eine Mikrowelle wahrscheinlich gar nicht benutzen, wenn wir so etwas hätten. Aber der Partyservice… Diese Leute sind doch bestimmt allen modernen Komfort gewöhnt. Das wird eine schöne Überraschung für die arme Frau gewesen sein, als sie hier ankam und unsere museumsreife Küche sah.«

Malcolm Webberly, der am Tisch saß, antwortete nicht. Er hatte die betont lebhafte Rede seiner Frau natürlich gehört, aber in Gedanken war er ganz woanders. Um ein Gespräch abzubiegen, nach dem ihm jetzt nicht der Sinn stand, hatte er sich in die Küche zurückgezogen und angefangen, seine Schuhe zu putzen. Er hoffte, Frances, die ihn seit mehr als dreißig Jahren kannte und wusste, wie sehr er es hasste, zwei Dinge gleichzeitig zu tun, würde ihn, wenn sie ihn bei der Arbeit sah, in Ruhe lassen.

Er wünschte sich sehr, in Ruhe gelassen zu werden; seit dem Augenblick, als Eric Leach gesagt hatte: »Male, tut mir Leid, Sie so spät noch zu stören, aber ich wollte es Ihnen persönlich mitteilen«, und ihm dann von Eugenie Davies' Tod berichtet hatte. Er brauchte Zeit für sich, um sich mit seinen Gefühlen auseinander zu setzen. Eine schlaflose Nacht an der Seite seiner sanft schnarchenden Frau hatte ihm zwar Gelegenheit gegeben, darüber nachzudenken, was das Wort Fahrerflucht bei ihm auslöste, aber sich Eugenie Davies' Tod vorzustellen, war ihm unmöglich gewesen. Wenn er an sie dachte, sah er sie stets so, wie er sie das letzte Mal gesehen hatte: am Fluss, im Wind, mit flatterndem blondem Haar. Sie hatte sich sofort ein Kopftuch umgebunden, als sie aus dem Haus gekommen war, aber beim Spaziergang hatte es sich gelockert, und als sie es abgenommen hatte, um es neu zu falten und zu binden, hatte der Wind ihr Haar erfasst und kräftig durcheinander geblasen.

»Lass es doch so«, hatte er zu ihr gesagt. »Wenn das Licht so auf dein Haar fällt, wirkst du so -« Wie denn?, hatte er überlegt. Schön? Aber eine große Schönheit war sie, solange er sie gekannt hatte, nicht gewesen. Jung? Sie hatten beide ihre besten Jahre hinter sich. Wahrscheinlich, dachte er später, hatte er nach dem Wort friedlich gesucht. Das Licht der Sonne auf ihrem Haar bildete einen Strahlenkranz um ihren Kopf wie bei einem Engel, und Engel bedeuteten Frieden. Ihm war bei diesen Überlegungen bewusst geworden, dass er Eugenie Davies niemals wahrhaft in Frieden erlebt hatte und dass sie auch in diesem Moment - trotz des Lichts, das sie umgab - nicht in Frieden gewesen war.

Diese Erinnerungen gingen ihm durch den Sinn, während er gewissenhaft Schuhcreme auf seinen Schuh auftrug, und seine Frau immer noch redete.

» …alles ganz wunderbar gemacht. Aber ein Glück, dass es schon dunkel war, als die arme Frau kam, weiß der Himmel, wie sie reagiert hätte, wenn sie unseren Garten hätte sehen können.«

Frances lachte schamhaft. »>Aber meinen Seerosenteich lasse ich mir nicht ausredenc, habe ich gestern Abend zu Lady Hillier gesagt. Wusstest du übrigens, dass sie und David daran denken, einen Whirlpool in ihrem Wintergarten installieren zu lassen? >Wunderbar, wenn man so etwas mag<, habe ich gesagt, >aber mir reicht ein kleiner Teich. Mehr wollte ich nie. Und irgendwann werden wir ihn auch haben. Malcolm hat es versprochen, und auf

Malcolms Versprechen kann ich mich verlassen! < Allerdings müssen wir vorher jemanden finden, der mit der Machete die Wildnis da draußen lichtet und den alten Mäher abtransportiert. Aber davon habe ich Lady Hillier natürlich nichts gesagt -«

Du meinst, deiner Schwester Laura, dachte Webberly.

»- gar nicht begreifen, wovon ich rede. Sie hat ja schon wer weiß wie lang ihren Gärtner. Aber eines Tages, wenn das Geld da ist, bekommen wir unseren kleinen Teich, nicht wahr?«

»Ja, sicher«, sagte Webberly.

Frances zwängte sich in der engen kleinen Küche am Tisch vorbei ans Fenster und sah in den Garten hinaus. Sie hatte in den vergangenen zehn Jahren so oft und so lange an dieser Stelle gestanden, dass ihre Füße eine Mulde ins Linoleum gedrückt und ihre Finger, dort wo sie sie aufzulegen pflegte, Rillen im Fensterbrett hinterlassen hatten. Webberly fragte sich, was ihr durch den Kopf ging, wenn sie stundenlang dort stand. Was für Widerstände versuchte sie zu besiegen, ohne es je zu erreichen?

Schon einen Augenblick später gab sie ihm die Antwort.

»Es scheint ein schöner Tag zu werden«, sagte sie. »Im Radio haben sie zwar für Nachmittag wieder Regen angesagt, aber ich denke, die täuschen sich. Weißt du, was, ich glaube, heute Vormittag gehe ich endlich mal raus und arbeite ein bisschen im Garten.«

Webberly hob den Kopf. Frances, die seinen Blick anscheinend spürte, drehte sich um, eine Hand noch auf dem Fensterbrett, die andere verkrampft am Revers ihres Morgenrocks. »Ich glaube, heute schaffe ich es«, sagte sie. »Malcolm! Ich glaube, ich schaffe es.«

Wie oft hatte sie das schon gesagt! Hundertmal? Tausendmal? Und immer steckte die gleiche Mischung aus Hoffnung und Selbstbetrug in ihren Worten. Ich werde im Garten arbeiten, Malcolm. Ich werde heute Nachmittag einkaufen gehen. Ich werde mich in den Prebend Gardens auf eine Bank setzen; einen langen Marsch mit Alfie machen; die neue Kosmetikerin ausprobieren, die alle so rühmen… So viele aufrichtige und gute Vorsätze, die sich unweigerlich in Luft auflösten, wenn Frances vor der Haustür stand. Sie brachte es einfach nicht über sich, die rechte Hand zum Türknauf zu heben, wie sehr sie sich auch bemühte.

»Frannie -«, begann Webberly, und sie fiel ihm beschwörend ins Wort. »Die Party gestern hat alles geändert. Rundherum von Freunden umgeben zu sein, das tut unglaublich gut. Ich fühle mich so wohl, Malcolm! So wohl wie schon lange nicht mehr.«

Miranda, die in diesem Moment in die Küche kam, ersparte es Webberly, darauf antworten zu müssen. Mit einem »Ah, hier seid ihr«, ließ sie ihren Trompetenkasten und einen sperrigen Rucksack zu Boden fallen und ging zum Herd, wo Alfie, der Schäferhundmischling, sich auf seiner Decke von den Strapazen der Party erholte. Sie kraulte ihn kräftig zwischen den Ohren, woraufhin er sich prompt auf den Rücken rollte und seinen Bauch darbot. Nachdem sie ihn gekrault hatte, drückte sie ihm zum Abschluss einen Kuss auf den Kopf und nahm dafür einen feuchten Hundekuss in Empfang.

»Schatz, das ist schrecklich unhygienisch«, sagte Frances.

»Ach was, das ist Hundeliebe«, entgegnete Miranda. »Die reinste Liebe, die es gibt. Stimmt's, Alfie?«

Alf gähnte.

Miranda wandte sich zum Gehen. »Also, dann fahre ich jetzt. Ich muss nächste Woche zwei Arbeiten abgeben.«

»Du willst schon wieder weg?« Webberly schob seine Schuhe auf die Seite. »Du warst keine achtundvierzig Stunden hier. Kann Cambridge nicht noch einen Tag warten?«

»Die Pflicht ruft, Dad. Du willst doch nicht, dass ich meine Prüfungen verhaue, oder?«

»Dann warte wenigstens, bis ich die Schuhe fertig hab. Ich bring dich mit dem Wagen zum King's-Cross- Bahnhof.«

»Ach, das ist nicht nötig. Ich nehme die U-Bahn.«

»Dann lass mich dich zur U-Bahn fahren.«

»Dad!«, sagte sie gequält. Sie kannte diese Diskussion seit Ewigkeiten. »Die Bewegung tut mir gut. Erklär's ihm, Mama.«

»Aber wenn es unterwegs zu regnen anfängt -«, wandte Webberly ein.

»Lieber Himmel, Malcolm, davon wird sie sich nicht gleich auflösen.«

Aber genau das geschieht doch, widersprach Webberly im Stillen. Sie lösen sich auf, sie zerbrechen, sie verschwinden von einem Moment auf den anderen. Und immer dann, wenn man am wenigsten damit rechnet. Aber ihm war klar, dass in dieser Situation, wo zwei Frauen sich gegen ihn zu verbünden drohten, ein Kompromiss angeraten war. Er sagte deshalb: »Dann begleite ich dich einfach ein Stück.« Und als Miranda die Augen verdrehte und zu Protesten dagegen ansetzte, dass sie, eine erwachsene Frau, sich von ihrem Vater bei der Hand nehmen lassen sollte wie ein kleines Kind, das nicht allein über die Straße gehen kann, fügte er hinzu: »Alfie braucht seinen Morgenspaziergang, Randie.«

»Mama!«, wandte sich Miranda Hilfe suchend an ihre Mutter, aber die sagte mit einem bedauernden Achselzucken: »Du hast ja Alfie heute noch nicht ausgeführt, Schatz.«

Miranda gab klein bei. »Na gut, dann komm eben mit, du Gluckenvater«, sagte sie gutmütig. »Aber ich warte bestimmt nicht, bis du mit dem Schuhputzen fertig bist.«

»Ich mach die Schuhe schon«, sagte Frances.

Webberly holte die Hundeleine und folgte seiner Tochter ins Freie, wo Alfie sofort im Gebüsch nach einem alten Tennisball zu suchen begann. Er wusste, was ihn erwartete, wenn sein Herr mit ihm loszog: ein Spaziergang in den Park, wo er frei laufen, dem Tennisball nachjagen und mindestens eine Viertelstunde lang nach Herzenslust herumtollen durfte.

»Ich weiß nicht, wer von euch beiden weniger Fantasie hat«, bemerkte Miranda, den Hund beobachtend, der in den Hortensien stöberte. »Du oder der Hund. Schau ihn dir doch an, Dad. Er weiß genau, was kommt. Da gibt's doch überhaupt keine Überraschung mehr.«

»Hunde mögen Rituale«, erklärte Webberly, als Alfie triumphierend mit dem Tennisball im Maul aus dem Gebüsch hervorstieß.

»Hunde, ja. Aber was ist mit dir? Wieso gehst du immer nur in den Park mit ihm?«

»Das ist meine Meditation«, teilte er ihr mit. »Zweimal am Tag, morgens und abends. Zufrieden?«

»Meditation!«, wiederholte sie mit ungläubigem Spott. »Du alter Schwindler. Also wirklich!«

Zum Tor hinaus, wandten sie sich nach rechts, folgten dem Hund bis zum Ende der Palgrave Street, wo er den erwarteten Linksschwenk machte, der sie zur Stamford Brook Road und zu den Prebend Gardens gleich über der

Straße führen würde.

»Die Party war nett.« Miranda hakte sich bei ihrem Vater ein.

»Ich glaube, Mama hat es auch gefallen. Und niemand hat irgendeine Bemerkung gemacht - jedenfalls nicht mir gegenüber.«

»Ja, es war ein schönes Fest.« Webberly drückte Randies Arm.

»Deine Mutter hat sich so gut amüsiert, dass sie vorhin sogar sagte, sie wolle im Garten arbeiten.« Er spürte den Blick seiner Tochter, hielt den seinen jedoch entschlossen nach vorn gerichtet.

»Das tut sie bestimmt nicht«, sagte Miranda. »Das weißt du doch, Dad. Warum bestehst du nicht darauf, dass sie wieder zu diesem Arzt geht? Menschen wie Mama kann man helfen.«

»Ich kann sie nicht zwingen.«

»Nein. Aber du könntest -« Miranda seufzte. »Ach, ich weiß auch nicht. Irgendwas musst du doch tun können. Ich versteh nicht, warum du nicht mal energisch wirst, sondern ihr gegenüber immer so nachgiebig bist.«

»Wie soll das denn aussehen, wenn ich energisch werde?«

»Naja, wenn sie annehmen müsste, dass du - du könntest zum Beispiel sagen: >Das war's, Frances. Ich bin am Ende meiner Geduld. Entweder du gehst wieder in Behandlung oder - oder es passiert was.<«

»Und was, bitte?«

»Ja, ja, ich weiß schon«, sagte sie kleinlaut. »Du wurdest sie niemals verlassen. Wie könntest du auch? Du könntest dir ja selbst nie wieder ins Gesicht sehen. Aber es muss doch was geben, an das du - woran wir noch nicht gedacht haben.« Sie ließ sich, vielleicht um ihrem Vater eine Antwort zu ersparen, von Alfie ablenken, der mit gespannter Aufmerksamkeit eine Katze weiter vorn auf ihrem Weg beobachtete. Schnell nahm sie ihrem Vater die Leine aus der Hand und sagte, mit einem kurzen Ruck daran ziehend: »Daran brauchst du nicht mal zu denken, Alfred!«

An der Ecke überquerten sie die Straße und trennten sich dann mit einer liebevollen Umarmung. Miranda wandte sich nach links zum U-Bahnhof Stamford Brook, während Webberly am grünen Eisengitter entlangging, das den Park auf der Ostseite begrenzte.

Im Park nahm er Alfie den Ball ab und schleuderte ihn, nachdem er den Hund von der Leine gelassen hatte, so weit er konnte auf die Grünfläche hinaus. Der Hund setzte dem Ball in wilden Sprüngen nach, rannte, sobald er den Ball geschnappt hatte, wie stets bis zum Ende der Rasenfläche und jagte endlos im Kreis um die Grünanlage herum. Webberly verfolgte mit Blicken seinen wilden Lauf von Busch zu Baum, während er selbst nur ein paar Schritte bis zu der schwarzen Parkbank vor dem Schwarzen Brett mit den Gemeindenachrichten ging.

Er überflog die Nachrichten, ohne sie wirklich aufzunehmen: Weihnachtsfeiern, Trödelmärkte, Haushaltsauflösungen. Er sah mit Befriedigung, dass die Telefonnummer der zuständigen Polizeidienststelle auffällig platziert war, und vermerkte, dass irgendeine Gruppe, die vorhatte, einen Nachbarschaftsschutz ins Leben zu rufen, ein Treffen im Souterrain einer der Kirchen plante. Er las das alles und hätte doch später keinerlei Auskunft darüber geben können, was er gelesen hatte. Er nahm die sechs, sieben Zettel wahr, die hinter Glas an die Anschlagtafel geheftet waren. Sein Blick glitt über jeden der Texte, aber in Gedanken war er bei

Frances, wie sie vorhin am Küchenfenster gestanden hatte, und bei seiner Tochter, die zärtlich und mit bedingungslosem Vertrauen in ihn sagte: Du würdest sie niemals verlassen. Wie könntest du auch? Aber gerade diese letzten Worte erschienen ihm wie blanker Hohn. Wie könntest du sie je verlassen, Malcolm Webberly? Sag, wie könntest du?

Tatsächlich war eine Trennung von Frances das Letzte gewesen, was er an dem Abend im Kopf gehabt hatte, als er in das Haus am Kensington Square gerufen worden war. Die Meldung war über die Dienststelle Earl's Court Road eingegangen, wo er, vor kurzem zum Inspector befördert, mit seinem neuen Partner, Sergeant Eric Leach, tätig war. Leach hatte am Steuer gesessen, als sie die Kensington High Street hinuntergefahren waren, wo damals kaum weniger Getümmel geherrscht hatte als heute, und da Leach sich im Bezirk noch nicht auskannte, war er ein gutes Stück über das Ziel hinausgeschossen, und sie hatten durch die gewundene kleine Thackery Street, deren dörflicher Charakter so gar nicht zu ihrer großstädtischen Umgebung passte, wieder zurückfahren müssen. Von Südosten auf den Platz kommend, sahen sie das Haus, das sie suchten, direkt vor sich stehen: ein viktorianisches Gebäude aus rotem Backstein mit einem Medaillon unter dem Giebel, das das Baujahr, 1879, angab; ein relativ neuer Bau in einem Stadtviertel, wo die ältesten Häuser beinahe zweihundert Jahre früher errichtet worden waren.

Nur ein Streifenwagen stand noch am Bordstein. Die Sanitäter waren längst wieder fort, genau wie die Nachbarn, die sich zweifellos vor dem Haus versammelt hatten, als Polizeisirenen die abendliche Stille dieser Wohngegend gestört hatten.

Webberly stieg aus dem Auto und ging zum Haus. Ein schwarzes schmiedeeisernes Gitter auf einem niedrigen

Backsteinsockel umgrenzte einen gepflasterten Vorhof, in dessen Mitte in einem großen Pflanzgefäß eine Zierkirsche stand. Ihre Blütenblätter bedeckten den Boden unter ihr wie ein zartrosa Teppich.

Die Haustür war geschlossen, aber drinnen hatte offensichtlich jemand auf sie gewartet. Kaum setzte Webberly den Fuß auf die unterste Stufe der Vortreppe, da ging die Tür auf, und der Constable, der die Dienststelle angerufen hatte, ließ sie ins Haus. Er wirkte tief erschüttert. Es sei das erste Mal, dass er zu einem toten Kind gerufen worden sei, erklärte er. Er war unmittelbar nach dem Rettungsdienst angekommen.

»Zwei Jahre alt«, berichtete er mit tonloser Stimme. »Der Vater hat es mit Mund-zu-Mund-Beatmung versucht, und die Sanitäter haben getan, was sie konnten.« Er schüttelte mit hoffnungsloser Miene den Kopf. »Keine Chance. Die Kleine war schon tot. Entschuldigen Sie, Sir. Wir haben gerade ein Baby bekommen. Da fragt man sich doch…«

»Ja, natürlich«, sagte Webberly. »Ist schon in Ordnung. Ich habe auch eine kleine Tochter.« Er brauchte nicht daran erinnert zu werden, welchen Gefahren das Leben eines Kindes ausgesetzt war und wie wachsam Eltern sein mussten, um es zu schützen. Seine kleine Miranda war gerade zwei Jahre alt geworden.

»Wo ist es passiert?«, fragte er.

»Oben. Im Bad. Aber wollen Sie nicht erst mit den Eltern sprechen? Sie sind im Wohnzimmer.«

Belehrungen eines unerfahrenen jungen Kollegen brauchte Webberly wahrhaftig nicht, aber der Junge war durcheinander, und es hätte wenig Sinn gehabt, ihn jetzt zurechtzuweisen. Darum begnügte er sich damit, Leach zu bitten, den Eltern zu sagen, dass er gleich kommen werde.

Dann wies er mit dem Kopf zur Treppe und sagte zu dem jungen Constable: »Gehen Sie voraus.« Er folgte dem Jungen eine Treppe hinauf, die sich um einen kunstvoll geschnitzten Pflanzenständer aus Eichenholz wand, auf dem ein üppiger Farn stand.

Das Kinderbadezimmer war neben dem Kinderzimmer, einer Toilette und dem Zimmer des anderen Kindes der Familie in der zweiten Etage des Hauses. Die Eltern und die Großeltern hatten ihre Zimmer im ersten Stockwerk, und im obersten Stock wohnten eine Kinderfrau, ein Untermieter und eine Frau, die - nun, der Constable meinte, man würde sie wohl als Erzieherin bezeichnen, obwohl die Familie sie nicht so nannte.

»Sie unterrichtet die Kinder«, sagte der Constable. »Na ja, wahrscheinlich nur den Jungen, der schon alt genug ist.«

Webberly zog kurz die Brauen hoch über die ungewöhnliche Tatsache einer privaten Erzieherin in diesen modernen Zeiten, dann ging er in das Badezimmer, wo das Unglück geschehen war. Leach, der wie befohlen den Eltern unten im Wohnzimmer Bescheid gesagt hatte, gesellte sich wenig später zu ihm, während der Constable an seinen Posten im Vestibül zurückkehrte.

Bedrückt sahen sich die beiden Beamten in dem Badezimmer um. Ein so alltäglicher, scheinbar harmloser Ort! Kaum vorstellbar, dass man in so einem Raum das Opfer eines tödlichen Unfalls werden konnte. Und doch kam es so häufig vor, dass Webberly sich manchmal fragte, wann die Leute endlich begreifen würden, dass man ein kleines Kind nicht eine Sekunde unbeaufsichtigt lassen durfte, wenn nur die kleinste Wasserpfütze in der Nähe war.

In der Wanne allerdings stand das Wasser höher als in einer Pfütze: mindestens fünfundzwanzig Zentimeter hoch. Es war mittlerweile abgekühlt, und auf der unbewegten Oberfläche schwammen ein Plastikboot und fünf gelbe Gummientchen. Auf dem Grund der Wanne, neben dem Abfluss, lag ein Stück Seife, und auf der Ablage aus rostfreiem Stahl, die sich quer über die Wanne spannte, lagen ein feuchter Waschlappen, ein Kamm und ein Schwamm. Auf den ersten Blick sah alles ganz normal aus. Bei näherem Hinsehen waren mancherlei Hinweise darauf zu erkennen, dass erst vor kurzem Panik und schreckliches Unglück in diesem Raum geherrscht hatten.

Ein Handtuchhalter war umgestoßen. Eine durchweichte Badematte lag zusammengeschoben unter dem Waschbecken. Ein umgestürzter Rattanpapierkorb war völlig zerdrückt. Und über die weißen Fliesen führten die Fußabdrücke der Sanitäter, die in ihrem Bestreben, das Leben eines Kindes zu retten, bestimmt nicht daran gedacht hatten, das Bad sauber zu halten.

Webberly konnte sich die Szene vorstellen, als wäre er dabei gewesen, weil er als junger Streifenbeamter mehr als einmal solche Szenen erlebt hatte: keine Panik bei den Sanitätern, vielmehr konzentrierte, beinahe unmenschlich wirkende Ruhe. Prüfung von Puls, Atmung und Augenreflexen, sofortige Einleitung von Wiederbelebungsmaßnahmen. Sie hatten vermutlich schon nach Augenblicken gewusst, dass die Kleine tot war, aber sie sagten es keinem, denn ihre Aufgabe war es, um jeden Preis Leben zu retten. Deshalb hätten sie nichts unversucht gelassen, sich mit allem Einsatz um das Kind bemüht, es aus dem Haus gebracht und auch auf der Fahrt ins Krankenhaus ihre Bemühungen fortgesetzt, weil ja immer die Chance bestand, dass dem schlaffen Bündel, das zurückblieb, wenn der Geist aus dem Körper gewichen war, doch noch Leben abgerungen werden konnte.

Webberly hockte neben dem Papierkorb nieder und richtete ihn vorsichtig mithilfe eines Kugelschreibers wieder auf, um einen Blick hineinzuwerfen. Sechs zerknüllte Papiertücher, ein Stück Zahnseide, eine flach gedrückte Tube Zahnpasta. »Sehen Sie im Apothekerschränkchen nach, Eric«, sagte er zu Leach, während er wieder an die Wanne trat und alles mit prüfendem Blick musterte - die Wände, die Armaturen und den Wasserhahn, den Kitt rund um die Wanne, das Wasser in ihr. Nichts.

Leach sagte: »Kinderaspirin, Hustensaft, verschiedene Medikamente. Fünf insgesamt. Alle rezeptpflichtig. Mit Namensschildchen.«

»Auf wen ausgestellt?«

»Alle auf Sonia Davies.«

»Notieren Sie die Namen der Medikamente. Dann versiegeln Sie den Raum. Ich spreche jetzt mit den Eltern.«

Aber unten im Wohnzimmer erwarteten ihn nicht nur die Eltern des Kindes. Es lebte noch eine Anzahl anderer Menschen im Haus, und die Hausbewohner waren nicht allein gewesen, als das Unglück sie aus der Abendruhe gerissen hatte. Der Raum wirkte überfüllt, obwohl nur neun Personen anwesend waren: acht Erwachsene und ein kleiner Junge mit weißblondem Haar, das ihm auf sehr ansprechende Art in die Stirn fiel. Mit blassem Gesicht stand er in der schützenden Umarmung eines alten Mannes, vermutlich seines Großvaters, an dessen Schlips - Andenken an irgendeine Universität oder einen Klub - er sich mit einer Hand krampfhaft festklammerte.

Niemand sprach. Sie schienen alle im Schock, zusammengeschart, um einander zu stützen und zu trösten, so gut sie es vermochten. Die Fürsorge galt vor allem der Mutter, einer Frau in den Dreißigern, wie Webberly, mit bleichem Gesicht, in dem die Augen übergroß wirkten, gehetzt, als sähen sie immer wieder, was keine Mutter je sehen müssen sollte: ihr Kind in den Händen Fremder, die um sein Leben kämpften.

Als Webberly sich vorstellte, stand einer der beiden Männer auf, die sich bisher um die Mutter bemüht hatten. Er sei Richard Davies, sagte er, der Vater des Kindes, das ins Krankenhaus gebracht worden war. Warum er es so schonend ausdruckte, verriet der Blick zu dem kleinen Jungen, seinem Sohn. Er wollte verständlicherweise nicht vor ihm vom Tod seiner kleinen Schwester sprechen. »Wir waren im Krankenhaus«, sagte er. »Meine Frau und ich. Man sagte uns -«

Die junge Frau, die im Arm eines etwa gleichaltrigen Mannes auf dem Sofa saß, begann zu weinen. Es war ein schreckliches, röchelndes Weinen, das schnell zu einem hysterischen Schluchzen wurde. »Ich habe sie nicht allein gelassen«, rief sie keuchend, und Webberly hörte deutlich den deutschen Akzent in ihrer Aussprache. »Ich schwöre es, ich habe sie keine Minute allein gelassen.«

Was natürlich die Frage herausforderte, wie das Kind dann umgekommen war.

Sie mussten alle befragt werden, aber nicht gleichzeitig. Webberly wandte sich zunächst an die junge Deutsche: »Sie waren für das Kind verantwortlich?«

Woraufhin die Mutter sagte: »Ich habe das über uns gebracht!«

»Eugenie!«, rief Richard Davies, und der andere Mann mit dem schweißfeuchten Gesicht, der bei ihr stand, sagte: »So etwas darfst du nicht sagen, Eugenie.«

Der Großvater erklärte: »Wir wissen doch alle, wer schuld ist.«

Die Deutsche jammerte: »Nein! Nein! Ich habe sie nicht allein gelassen«, und der junge Mann neben ihr sagte: »Ist schon okay«, was es nun wahrhaftig nicht war.

Zwei Personen sprachen kein Wort: eine alte Frau, die unverwandt den Großvater fixierte, und eine rothaarige junge Frau im adretten Faltenrock, die mit unverhüllter Abneigung die Deutsche beobachtete.

Zu viele Menschen, zu viele Emotionen und wachsende Verwirrung. Webberly bat alle, bis auf die Eltern, sich zurückzuziehen.

»Aber bleiben Sie im Haus«, gebot er. »Und irgendjemand muss sich um den Jungen kümmern.«

»Ich«, sagte die Rothaarige, offensichtlich die »Erzieherin«, von der der Constable gesprochen hatte. »Komm, Gideon. Wir nehmen uns mal dein Mathebuch vor.«

»Aber ich muss doch üben«, entgegnete der Junge mit ernstem Blick in die Runde der Erwachsenen. »Raphael hat gesagt -«

»Es ist schon in Ordnung, Gideon. Geh du ruhig mit Sarah-Jane.« Der Mann mit dem schweißnassen Gesicht entfernte sich von der Mutter und kauerte vor dem Jungen nieder. »Mach dir jetzt um deine Musik keine Gedanken. Geh mit Sarah-Jane, ja?«

»Komm, Junge.« Mit dem Kleinen auf dem Arm, stand der Großvater auf. Die anderen folgten ihm aus dem Zimmer, und schließlich waren nur noch die Eltern des toten Kindes übrig.

Selbst jetzt noch, hier im Park von Stamford Brook, wo Alfie kläffend Vögel und Eichhörnchen jagte, selbst jetzt noch konnte sich Webberly an Eugenie Davies erinnern, wie sie an diesem Abend ausgesehen hatte.

Sie trug eine graue Hose und eine blassblaue Bluse und war völlig reglos dagesessen. Sie hatte weder ihn noch ihren Mann angesehen, als sie wie zu sich selbst gesagt hatte: »O mein Gott, was soll jetzt aus uns werden?«

Ihr Mann ging nicht auf ihre Worte ein, sondern bemerkte, zu Webberly gewandt: »Wir waren im Krankenhaus. Man konnte nichts mehr für sie tun. Hier hatte man uns das nicht gesagt. Hier im Haus, meine ich. Da haben sie uns das nicht gleich gesagt.«

»Nein«, antwortete Webberly. »Das ist nicht ihre Aufgabe. Das überlassen sie den Ärzten.«

»Aber sie wussten es. Schon als sie noch hier im Haus waren. Sie wussten es, nicht wahr?«

»Ich vermute, ja. Es tut mir sehr Leid.«

Sie weinten beide nicht. Das würde später kommen; wenn sie begriffen, dass der Albtraum kein Albtraum war, sondern Realität, die den Rest ihres Lebens verändern würde. Im Moment waren sie betäubt von den seelischen Erschütterungen: der anfänglichen Panik, den verzweifelten Rettungsbemühungen, der Invasion fremder Menschen in ihrem Heim, dem qualvollen Warten in der Notaufnahme, dem Urteil der Ärzte.

»Sie sagten, sie würde erst später freigegeben werden. Die - ihr Leichnam«, sagte Richard Davies. »Wir durften sie nicht mitnehmen… warum nicht?«

Eugenie senkte den Kopf und starrte, wie es schien, auf ihre gefalteten Hände.

Webberly zog sich einen Sessel heran und setzte sich, um mit der Frau auf gleicher Höhe zu sein. Mit einer Kopfbewegung bedeutete er Richard Davies, sich ebenfalls zu setzen. Der nahm neben seiner Frau Platz und ergriff ihre Hand. Webberly erklärte es ihnen, so gut er konnte: Bei einem unerwarteten Tod, wenn jemand starb, der sich nicht in Behandlung eines Arztes befand, der einen Totenschein ausstellen konnte, wenn jemand bei einem Unglücksfall ums Leben kam - zum Beispiel durch Ertrinken -, dann schrieb das Gesetz eine Obduktion des Verstorbenen vor.

Eugenie blickte auf. »Soll das heißen, dass man sie aufschneiden wird?«

Webberly wich der Frage aus, indem er sagte: »Das geschieht, um die genaue Todesursache festzustellen.«

»Aber die kennen wir doch«, wandte Richard Davies ein. »Sie war oben - sie wurde gebadet, sie war in der Wanne. Ich hörte jemanden rufen, dann die Frauen schreien, und als ich nach oben lief, kam James heruntergestürzt -«

»James?«

»Unser Untermieter. Er war oben in seinem Zimmer und kam die Treppe heruntergerannt.«

»Wo waren die übrigen Hausbewohner?«

Richard warf seiner Frau einen fragenden Blick zu, aber die schüttelte den Kopf. »Ich war mit meiner Schwiegermutter in der Küche. Wir wollten das Abendessen machen. Sonia wurde meistens um diese Zeit gebadet, und -« Sie brach ab, als drohte durch das Aussprechen des Namens das Undenkbare sie zu überwältigen.

»Und Sie wissen nicht, wo die anderen waren?«

»Mein Vater und ich waren im Wohnzimmer«, sagte Richard Davies. »Wir sahen uns - mein Gott, wir haben uns Fußball angesehen! Wir haben uns ein Fußballspiel angesehen, und oben ertrank unser Kind!«

In Eugenie schien etwas zu zerbrechen. Sie begann endlich zu weinen.

Richard Davies, der mit seinen eigenen Gefühlen des Schmerzes und der Hoffnungslosigkeit beschäftigt war, nahm seine Frau nicht in den Arm, wie Webberly das von ihm erwartet hätte. Er sagte nur ihren Namen und versicherte ihr völlig nutzlos, es sei ja gut, das Kind sei jetzt bei Gott, der es ebenso sehr liebte, wie sie es geliebt hatten. Gerade sie, Eugenie, mit ihrem unerschütterlichen Glauben an Gott und seine unendliche Güte, wisse das doch, nicht wahr?

Welch armseliger Trost, dachte Webberly und sagte: »Ich möchte mit jedem sprechen, der zur Zeit des Unfalls im Haus war.«

Zu Richard Davies gewandt, fügte er hinzu: »Vielleicht braucht Ihre Frau einen Arzt, Mr. Davies. Wollen Sie nicht einen anrufen?«

Noch während er sprach, wurde die Wohnzimmertür geöffnet, und Sergeant Leach trat ein. Er nickte zum Zeichen, dass er seine Liste fertig gestellt und das Badezimmer versiegelt hatte, woraufhin Webberly ihm mitteilte, dass sie die Hausbewohner hier im Wohnzimmer befragen würden.

»Danke für Ihre Hilfe, Inspector«, sagte Eugenie.

Danke für Ihre Hilfe. Diese Worte gingen Webberly durch den Kopf, als er jetzt schwerfällig von der Parkbank aufstand. Vier schlichte Worte, im Ton tiefsten Elends gesprochen, die sein Leben verändert hatten: die aus dem Kriminalbeamten den Ritter ohne Furcht und Tadel gemacht hatten.

Weil sie, dachte er jetzt, als er nach Alfie rief, eine so besondere Mutter gewesen war. Eine Mutter, wie Frances sie nie hätte sein können. Das musste man bewundern. Einer solchen Mutter musste man als Mann einfach helfen wollen.

»Alfie, komm jetzt!«, rief er laut, als der Hund einem Terrier mit einem Frisbee im Maul nachlief. »Nach Hause. Komm! Ich lass dich auch frei laufen.«

Als hätte der Hund dieses letzte Versprechen verstanden, kam er zurückgerannt und blieb japsend und mit hängender Zunge vor Webberly stehen. Er hatte für diesen Morgen offensichtlich genug Auslauf gehabt. Mit einer Kopfbewegung beorderte Webberly ihn zum Parktor, wo er sich gehorsam setzte und seinen Herrn in Erwartung einer Belohnung mit wachem Blick fixierte.

»Nachher, wenn wir zu Hause sind«, sagte Webberly. Den ganzen Heimweg gingen ihm diese Wort durch den Kopf.

Sehr passend, eigentlich. Letztendlich und über allzu viele Jahre hinweg war alles, was in Webberlys armseligem kleinen Leben von Bedeutung war, auf »nachher« verschoben worden.

Lynley sah, dass Helen, die noch im Bett lag, höchstens einen Schluck von ihrem Tee getrunken hatte. Doch sie hatte sich herumgedreht und sah ihm beim Kampf mit seiner Krawatte zu, während er sie im Spiegel beobachtete.

»Malcolm Webberly hat sie also gekannt?«, fragte sie. »Nicht schön für ihn. Und noch dazu an seinem Hochzeitstag.«

»Ich glaube nicht, dass er persönlich mitihr bekannt

war«, erwiderte Lynley. »Sie wareine der

Hauptbetroffenen in seinem ersten Fallals frisch gebackener Inspector in Kensington.«

»Das muss ja dann Jahre her sein. Die Sache hat offenbar einen ungeheuren Eindruck bei ihm hinterlassen.«

»Ja, vermutlich.« Lynley wollte nicht näher auf die Geschichte eingehen. Er wollte Helen überhaupt nichts von diesem lang zurückliegenden Unglück erzählen, bei dem Webberly damals ermittelt hatte. Wenn ein Kind ertrank, war das immer schrecklich, und ein solches Thema, fand Lynley, müsse man gerade jetzt, da ihr gemeinsames Leben - Helens und seines - eine neue Wendung genommen hatte und Helen selbst ein Kind erwartete, nicht unbedingt erörtern.

Unser Kind, dachte er, ein Kind, dem niemals ein Leid geschehen würde. Wenn man sich gerade da über den tragischen Tod eines anderen Kindes ausließ, erschien das wie eine Herausforderung des Schicksals. Das jedenfalls sagte sich Lynley, während er sich dem Ritual der Morgentoilette widmete.

Im Bett warf sich Helen auf die andere Seite, sodass sie ihm jetzt den Rücken zuwandte, zog die Knie hoch und drückte sich stöhnend ein Kissen auf den Bauch.

Lynley ging zu ihr, setzte sich auf die Bettkante und strich ihr über das kastanienbraune Haar. »Du hast deinen Tee kaum angerührt«, sagte er. »Möchtest du etwas anderes haben?«

»Ich möchte ganz einfach, dass diese fürchterliche Übelkeit endlich aufhört.«

»Was sagt denn die Ärztin?«

»Ach, die ist ein echter Quell der Weisheit: >lch habe die ersten vier Monate jeder Schwangerschaft in Anbetung der Toilettenschüssel verbracht. Das geht vorbei, Mrs. Lynley. Glauben Sie mir.<«

»Und bis dahin?«

»Denken Sie an was Schönes. Nur nicht gerade an was zu essen.«

Lynley betrachtete sie voller Liebe: den sanften Schwung ihrer Wange, das zarte Ohr, das wie eine vollendet geformte Muschel an ihrem Kopf anlag. Aber ihre Haut war bleich mit einem Stich ins Grünliche, und sie hielt das Kissen so krampfhaft umklammert, als rollte schon die nächste Welle der Übelkeit heran.

»Ich wollte, ich könnte dir das abnehmen, Helen«, sagte er.

Sie lachte schwach. »So was sagt ihr Männer immer, wenn ihr ein schlechtes Gewissen habt. Dabei wisst ihr ganz genau, dass ihr nie im Leben freiwillig ein Kind zur Welt bringen würdet.« Sie griff nach seiner Hand. »Trotzdem danke für die guten Worte. Gehst du jetzt? Versprich mir, dass du vorher frühstückst, Tommy.«

Er versprach es. Ein Entkommen gab es sowieso nicht. Wenn nicht Helen ihn zum Essen zwang, dann stand Charlie Denton - Butler, Diener, Koch, Theaterfan und unverbesserlicher Don Juan - vor der Tür Wache, bis er wenigstens ein paar Bissen gegessen hatte.

»Und was hast du heute vor?«, fragte er Helen. »Arbeitest du?«

»Ehrlich gesagt würde ich mich am liebsten in den nächsten zweiunddreißig Wochen überhaupt nicht mehr bewegen.«

»Soll ich Simon anrufen?«

»Nein, nein. Er arbeitet noch an dieser Acrylamid-Sache. Sie brauchen das Ergebnis in zwei Tagen.«

»Ach so. Aber braucht er dich?« Simon Allcourt-St. James war Chemiker, ein von Gerichten und Anwälten gesuchter Gutachter, der regelmäßig in den Zeugenstand gerufen wurde, um entweder die Beweisführung der Anklage oder der Verteidigung zu untermauern. In diesem besonderen Fall, einem Schadensersatzprozess, ging es darum, festzustellen, welche Menge von Acrylamid - das über die Haut aufgenommen worden war - eine toxische Dosis darstellte.

»Ich hoffe es«, antwortete sie. »Außerdem…« Mit einem Lächeln sah sie ihn an. »Außerdem möchte ich ihm gern erzählen, was es bei uns Neues gibt. Ich hab's übrigens gestern Abend Barbara gesagt.«

»Oh.«

»Oh? Was soll das denn heißen, Tommy?«

Lynley stand vom Bett auf. Er ging zum Schrank, wo ihm die Spiegeltür zeigte, dass sein Krawattenknoten völlig verunglückt war. Er zog ihn wieder auf und begann noch einmal von vorn. »Du hast Barbara doch gesagt, dass sonst noch niemand davon weiß?«

Sie versuchte sich aufzusetzen, musste aber die unbedachte Bewegung sofort büßen und ließ sich gleich wieder zurücksinken.

»Ja, natürlich, das habe ich ihr gesagt. Aber jetzt, wo sie es weiß, können wir es, finde ich, auch den anderen -«

»Ich möchte lieber noch ein bisschen warten.« Der neue Krawattenknoten sah noch schlimmer aus als der vorherige. Lynley gab auf, schimpfte auf das Material und holte sich einen anderen Schlips. Er war sich bewusst, dass Helen ihn beobachtete. Natürlich erwartete sie eine Erklärung für seine Zurückhaltung. »Reiner Aberglaube, Darling«, sagte er. »Wenn wir es für uns behalten, schützen wir uns vor dem Neid der Götter. Ich weiß, das ist Quatsch. Aber so ist es. Ich würde es am liebsten erst an die große Glocke hängen, wenn - wenn wirklich nichts mehr passieren kann.«

»Wenn wirklich nichts mehr passieren kann?«, wiederholte sie nachdenklich. »Machst du dir denn Sorgen?«

»Ja. Ich mache mir Sorgen. Ich habe Angst. Ich bin nur noch ein Nervenbündel. Ich kann kaum an etwas anderes denken. Und ich bin häufig verwirrt. Das war's so ziemlich.«

Sie lächelte. »Ich liebe dich, Darling.«

Und dieses Lächeln verlangte ein weiteres Bekenntnis. Er schuldete es ihr. »Außerdem denke ich an Deborah«, sagte er. »Simon wird sicher ganz gut damit umgehen können, dass wir ein Kind bekommen, aber Deborah wird es sehr wehtun, das zu hören.«

Deborah war Simons Frau. Seit Jahren wünschte sie sich ein Kind, doch jede ihrer Schwangerschaften hatte in einer Fehlgeburt geendet. Natürlich würde sie vorgeben, sich mit den Freunden zu freuen. Und auf eine distanzierte Art würde sie sich wirklich mit ihnen freuen. Aber tief im Innern, wo ihre Hoffnungen ruhten, würde sie wieder den bitteren Schmerz enttäuschter Träume erleben, den sie schon so oft erlebt hatte.

»Tommy«, sagte Helen liebevoll drängend, »Deborah wird es früher oder später sowieso erfahren. Meinst du nicht, es wäre weit schlimmer für sie, wenn ich plötzlich in Umstandskleidern herumlaufe, ohne ihr ein Wort von der Schwangerschaft gesagt zu haben? Und meinst du nicht, dass dieser Mangel an Vertrauen - denn sie wird doch sofort wissen, warum wir nichts gesagt haben - ihr umso mehr wehtun wird?«

»So lange brauchen wir es ja gar nicht aufzuschieben«, erwiderte Lynley. »Nur noch ein Weilchen, Helen. Und eigentlich mehr, um das Glück nicht herauszufordern, weißt du, als um Deborah zu schonen. Kannst du mir den Gefallen nicht tun, Schatz?«

Helen musterte ihn aufmerksam, und obwohl er spürte, wie er unter ihrem Blick unruhig wurde, wandte er sich nicht ab, während er auf ihre Antwort wartete.

Sie sagte: »Freust du dich denn überhaupt auf das Kind, Tommy? Bist du glücklich?«

»Helen, ich kann mir nichts Schöneres vorstellen.«

Aber noch während er sprach, fragte er sich, wieso er nicht wirklich so empfand, sondern vielmehr das bedrückende Gefühl hatte, einer lange überfälligen Pflicht nachgekommen zu sein.