174748.fb2 Nie sollst Du vergessen - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 8

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4

Jill Foster quälte sich gerade zu den Kommandos der Schwangerschaftsgymnastin stöhnend durch die letzte Serie Beckenübungen, als Richard zurückkam. Er sah angegriffener aus, als sie erwartet hatte, und die Gefühle, die das bei ihr auslöste, gefielen ihr gar nicht. Er war seit sechzehn Jahren von Eugenie geschieden. Ihrer Meinung nach hätte die Identifizierung der Leiche seiner geschiedenen Frau für ihn nicht mehr bedeuten sollen als eine unangenehme Pflicht.

Gladys, die Trainerin, die Jill mittlerweile als eine Mischung aus Sportkanone und Foltermeisterin kennen gelernt hatte, sagte:

»Kommen Sie, Jill, noch zehn. Sie werden's mir danken, Kindchen, wenn Sie erst in den Wehen liegen.«

»Ich kann nicht mehr«, ächzte Jill.

»Unsinn. Denken Sie einfach nicht an die Anstrengung, denken Sie lieber an das Kleid. Sie werden's mir danken, glauben Sie mir. Nun kommen Sie schon, noch zehn Stück.«

Das erwähnte Kleid war ein Hochzeitskleid, eine Kreation aus einem Salon in Knightsbridge, das ein kleines Vermögen gekostet hatte. Es schmückte die Wohnzimmertür, an der Jill es aufgehängt hatte, um sich anzuspornen, wenn sie gegen Heißhungeranfälle zu kämpfen hatte oder von ihrer unerbittlichen Foltermeisterin durch eine Serie anstrengender Übungen gejagt wurde.

»Ich schicke dir Gladys Smiley«, hatte ihre Mutter sofort erklärt, als sie von dem zu erwartenden Nachwuchs erfuhr.

»Sie ist die Beste, die du weit und breit für eine Schwangerschaftsvorbereitung bekommen kannst. Im Allgemeinen ist sie zwar voll ausgebucht, aber mir zuliebe wird sie dich sicher noch einschieben. Gymnastik ist das A und O. Und natürlich eine gesunde Ernährung.«

Jill hatte sich ihrer Mutter gefügt, allerdings nicht aus töchterlichem Gehorsam, sondern weil Dora Forster im Lauf der Jahre bei Hausgeburten mindestens fünfhundert gesunden Säuglingen auf die Welt geholfen hatte, also wusste, wovon sie sprach.

Gladys gab den Rhythmus an. Jill schwitzte wie ein Rennpferd und fühlte sich wie eine trächtige Sau, aber sie brachte ein strahlendes Lächeln für Richard zustande. Er war gegen die Schwangerschaftsvorbereitung gewesen, die er »absolut absurd« nannte, und von einer Entbindung Jills durch ihre Mutter in ihrem Elternhaus in Wiltshire wollte er ebenfalls nichts wissen. Aber da Jill seinen Wünschen bezüglich der Hochzeit entgegengekommen war - indem sie sich dem neueren Brauch, die Eheschließung erst nach Geburt eines Kindes durchzuführen, fügte, anstatt auf der traditionellen Abfolge von Verlobung, Verheiratung, Schwangerschaft zu bestehen, die ihr persönlich lieber gewesen wäre -, würde Richard nichts anderes übrig bleiben, als sich nach ihren Vorstellungen zu richten. Schließlich war sie diejenige, die das Kind zur Welt brachte. Und wenn sie wünschte, dass ihre Mutter - die immerhin über dreißig Jahre Erfahrung auf diesem Gebiet verfügte - sie entband, dann würde es auch so gemacht werden.

»Du bist noch nicht mein Ehemann, Schatz«, sagte sie jedes Mal freundlich, wenn er protestierte. »Ich habe noch nicht versprochen, dich zu lieben, zu ehren und dir zu gehorchen.«

Das war der Trumpf, der immer stach, und darum würde sie am Ende ihren Willen durchsetzen.

» … vier… drei… zwei… eins… Ja!«, rief Gladys. »Hervorragend, Jill. Machen Sie so weiter, dann wird die Kleine nur so rausflutschen. Warten Sie nur ab.« Sie reichte Jill ein Handtuch und nickte Richard zu, der, grau im Gesicht, an der Tür stehen geblieben war. »Haben Sie sich schon auf einen Namen geeinigt?«

»Catherine Ann«, sagte Jill entschieden, und Richard sagte ebenso entschieden: »Cara Ann.«

Gladys blickte kurz von einem zu anderen und meinte dann:

»Na, wunderbar. Machen Sie so weiter, Jill, Kindchen. Wir sehen uns übermorgen, ja? Um dieselbe Zeit?«

»Hm.« Jill blieb auf dem Boden liegen, während Richard Gladys hinausbegleitete. Jill lag immer noch dort - sie kam sich vor wie ein gestrandeter Wal -, als er ins Wohnzimmer zurückkehrte.

»Schatz«, sagte sie, »nie im Leben wird mein Kind Cara heißen. Ich mache mich doch nicht zum Gespött aller meiner Freunde und Bekannten. Cara! Also wirklich, Richard. Unsere Tochter ist ein Kind und keine Figur aus einem Kitschroman.«

Unter normalen Umständen hätte er widersprochen und gesagt: »Aber der Name Catherine ist viel zu gewöhnlich. Wenn dir Cara nicht passt, müssen wir uns etwas ganz anderes einfallen lassen und uns auf einen Kompromiss einigen.«

So war das zwischen ihnen seit dem Tag ihrer ersten Begegnung, als sie bei den Dreharbeiten zu einer Dokumentation über seinen Sohn mit Richard aneinander geraten war. »Sie können sich mit Gideon über Musik unterhalten«, hatte er ihr bei den Vertragsverhandlungen mitgeteilt. »Sie können ihn über sein Geigenspiel befragen. Aber mein Sohn lehnt es ab, sein Privatleben oder seine Biografie mit Medienvertretern zu erörtern, das möchte ich von vornherein klarstellen.«

Weil er kein Privatleben hat, dachte Jill jetzt. Und seine Biografie ließ sich in zwei Worte fassen: die Geige. Gideon war Musik, und Musik war Gideon. So war es immer gewesen und so würde es bleiben.

Richard hingegen war Elektrizität. Es hatte ihr Spaß gemacht, intellektuelle Wortgefechte mit ihm auszutragen und ihren Willen gegen seinen zu stellen. Sie hatte das trotz des enormen Altersunterschieds zwischen ihnen aufregend und prickelnd gefunden. Mit einem Mann zu streiten, hatte etwas Hocherotisches. Aber nur wenige Männer in Jills Leben waren überhaupt zu streiten bereit. Schon gar nicht die englischen Männer, die sich beim ersten Anzeichen einer Auseinandersetzung im Allgemeinen in den passiven Widerstand zurückzogen.

Aber Richard war an diesem Morgen nicht nach Streiten zumute. Themen gab es genug zwischen ihnen - der Name ihrer ungeborenen Tochter, die Lage des Hauses, das sie erst noch kaufen mussten, die Art des Festes und das Datum der geplanten Hochzeit -, aber Jill sah ihm an, dass er im Moment keinen Sinn für hitzige Diskussionen hatte.

Sein blasses Gesicht verriet, dass er in den vergangenen Stunden Erschütterndes durchgemacht hatte, und wenn auch sein stures Festhalten an dem Namen Cara, den er vor fünf Monaten zum ersten Mal ins Gespräch gebracht hatte, Jill gründlich ärgerte, wollte sie ihm doch zeigen, dass sie an seinen Kümmernissen Anteil nahm. Zwar hätte sie am liebsten gesagt: Was stellst du dich so an, Richard? Die Frau hat dich vor beinahe zwanzig Jahren sang- und klanglos verlassen! Aber sie wusste natürlich, dass es klüger war, sanft zu fragen: »Wie fühlst du dich, Schatz? War es sehr schlimm?«

Richard ging zum Sofa und ließ sich darauf niederfallen. »Ich konnte es ihnen nicht sagen«, murmelte er mit gesenktem Kopf.

Sie runzelte die Stirn. »Was denn, Darling?«

»Eugenie. Ich konnte ihnen nicht mit Gewissheit sagen, ob die Frau wirklich Eugenie war.«

»Oh.« Mit schwacher Stimme. Dann: »Hatte sie sich denn so stark verändert? Na ja, ein Wunder wäre es nicht, Richard. Ihr hattet euch doch ewig nicht gesehen. Und vielleicht hatte sie in ihrem Leben sehr zu kämpfen…«

Er schüttelte den Kopf und rieb sich die Stirn. »Das war es nicht.«

»Was dann?«

»Sie war grauenvoll zugerichtet. Auf der Polizei wollten sie mir nicht genau sagen, was passiert war - wenn sie es überhaupt wussten. Aber sie sah aus, als wäre sie von einem Lastwagen überfahren worden. Völlig - verstümmelt, Jill.«

»Mein Gott!« Jill richtete sich mit einiger Mühe auf und legte ihm tröstend eine Hand aufs Knie. Das war nun doch ein Grund, erschüttert zu sein. »Richard, das tut mir wirklich Leid. Das muss für dich ja eine Qual gewesen sein.«

»Zuerst haben sie mir eine Polaroidaufnahme gezeigt. Ich fand das sehr rücksichtsvoll von ihnen. Als ich sie aber anhand des Fotos nicht identifizieren konnte, musste ich mir den Leichnam ansehen. Sie fragten, ob sie irgendwelche besonderen Merkmale besäße, an denen ich sie erkennen könne. Aber ich konnte mich nicht erinnern.« Seine Stimme war dumpf und klanglos. »Das Einzige, was ich ihnen sagen konnte, war der Name des Zahnarztes, zu dem sie vor zwanzig Jahren gegangen ist. Stell dir das vor, Jill! Ich hatte den Namen ihres Zahnarztes im Kopf, aber ich konnte mich nicht erinnern, ob sie irgendwo an ihrem Körper ein Muttermal hatte, an dem zu erkennen gewesen wäre, ob sie Eugenie ist - war -, meine Frau.«

Geschiedene Frau, hätte Jill gern hinzugefügt. Die Frau, die nur an sich dachte und ein Kind zurückließ, das du allein großgezogen hast. Allein, Richard. Vergiss das nicht.

»Aber an den Namen ihres gottverdammten Zahnarztes konnte ich mich erinnern«, sagte er. »Allerdings nur, weil er auch mein Zahnarzt ist.«

»Und was geschieht jetzt?«

»Sie wollen die Röntgenaufnahmen anfordern, um sich zu vergewissern, dass die Tote Eugenie ist.«

»Und was glaubst du?«

Er blickte auf. Er sah sehr müde aus. Mit ungewohnt schlechtem Gewissen dachte Jill daran, wie unbequem es für ihn sein musste, auf ihrem Sofa zu schlafen, und wie fürsorglich es von ihm war, jetzt, da der Tag der Entbindung näher rückte, nachts bei ihr zu bleiben. Sie hatte von ihm, der bereits zwei Kinder hatte - wenngleich nur ein Kind noch am Leben war -, nicht erwartet, dass er sie mit so viel liebevoller Sorge umgeben würde, wie er das während des größten Teils ihrer Schwangerschaft getan hatte. Praktisch vom ersten Tag an war er ihr mit einer Zärtlichkeit entgegengekommen, die sie rührte und die viel dazu beitrug, dass sich eine große Nähe zwischen ihnen entwickelte. Sie begannen zu einer Einheit zusammenzuwachsen, wie Jill es sich ersehnt und erträumt und bei Männern ihres Alters erfolglos gesucht hatte.

»Meiner Ansicht nach«, sagte Richard, auf ihre Frage antwortend, »ist die Wahrscheinlichkeit, dass Eugenie noch bei demselben Zahnarzt war wie bei unserer Trennung .«

Bei ihrem Verschwinden, korrigierte Jill im Stillen.

»… ziemlich gering.«

»Ich verstehe immer noch nicht, wie sie die Verbindung von ihr zu dir hergestellt haben. Und wie sie dich ausfindig gemacht haben.«

Richard richtete sich kurz auf, dann beugte er sich über den Couchtisch und blätterte flüchtig in der Radio Times, die dort lag. Auf der Titelseite prangte das Konterfei einer amerikanischen Schauspielerin mit zähneblitzendem Lachen, die in einer weiteren Neuauflage der Jane Eyre, dieses verlogenen viktorianischen Melodrams, unbedingt die Titelrolle spielen wollte, obwohl sie den britischen Akzent ganz sicher nur fehlerhaft hinkriegen würde. Ausgerechnet Jane Eyre, dachte Jill geringschätzig, die mehr als hundert Jahre lang bei der wachsweichen holden Weiblichkeit den Glauben genährt hat, dass ein Mann mit rabenschwarzer Vergangenheit durch die Liebe einer anständigen Frau rehabilitiert werden könnte. Was für ein Quatsch!

Richard schwieg noch immer.

»Richard«, sagte Jill, »ich versteh das nicht. Wie haben sie von Eugenie zu dir gefunden? Auch wenn sie weiterhin deinen Namen getragen hat, ist doch Davies nicht so ungewöhnlich, dass man sofort auf die frühere Verbindung zwischen euch gekommen wäre.«

»Einer der Polizeibeamten am Unfallort wusste, wer sie war«, antwortete Richard. »Wegen des Falls damals…« Er schob die Zeitschrift achtlos beiseite, sodass eine unter ihr liegende, ältere Ausgabe zum Vorschein kam. Ihr Titelbild zeigte Jill selbst im Kreis des in historischen Kostümen posierenden Ensembles ihrer hochgelobten Produktion von Desperate Remedies. Sie hatte es nur Wochen nach dem endgültigen Bruch mit Jonathon Stewart gedreht, dessen inbrünstige Schwüre, dass er seine Frau verlassen werde, »sobald unsere Steph in Oxford fertig ist, Darling«, sich als ungefähr ebenso zuverlässig erwiesen hatten wie die Vorstellung, die er im Bett zu geben pflegte. Zwei Wochen nachdem »unsere Steph« ihr Diplom in Empfang genommen hatte, war Jonathon mit der nächsten Entschuldigung des Tenors dahergekommen, dass man dem Töchterchen helfen müsse, »sich in ihrer neuen Wohnung in Lancaster einzurichten, Darling«. Drei Tage später hatte Jill einen Schlussstrich gezogen und sich in Desperate Remedies gestürzt.

»Welcher Fall?«, fragte Jill und begriff einen Augenblick später, wovon er sprach. Natürlich, es ging um den Fall, den einzigen, der von Bedeutung war. Der ihm das Herz gebrochen, der seine Ehe zerstört und die letzten zwei Jahrzehnte seines Lebens überschattet hatte. »Ja«, sagte sie, »daran erinnert man sich bei der Polizei wahrscheinlich.«

»Er hatte direkt mit dem Fall zu tun, war einer der Beamten. Als er ihren Namen auf dem Führerschein sah, hat er sich erinnert und sofort versucht, mich ausfindig zu machen.«

»Ach so, jetzt verstehe ich.« Sie rollte sich auf die Knie und richtete sich auf, sodass sie seine Schulter berühren konnte. »Komm, ich mach dir einen Kaffee. Oder vielleicht einen Tee?«

»Ein Kognak wäre mir lieber.«

Sie zog eine Braue hoch, aber da sein Blick auf die Zeitschrift gerichtet war und nicht auf sie, sah er es nicht. Um diese Zeit?, hätte sie gern gesagt. Aber Schatz! Doch sie tat es nicht, sondern stand auf und ging in die Küche, wo sie eine Flasche Courvoisier aus einem der schicken Glasschränke nahm und ihm genau zwei Esslöffel voll in ein Glas goss.

Er folgte ihr in die Küche und nahm das Glas ohne Kommentar entgegen. Nachdem er einen Schluck getrunken hatte, sagte er, den Rest Flüssigkeit im Glas schwenkend: »Ich kann den Anblick einfach nicht vergessen.«

Das war Jill nun doch zu viel. Gewiss, die Frau war tot. Auf schreckliche Weise ums Leben gekommen. Bemitleidenswert. Zweifellos war es kein Vergnügen gewesen, sich ihren verstümmelten Leichnam ansehen zu müssen. Aber Richard hatte seit nahezu zwanzig Jahren nichts mehr von seiner früheren Frau gehört, weshalb also diese Verstörtheit? Trauerte er ihr vielleicht doch noch nach? War er vielleicht nicht ganz ehrlich gewesen, als er gesagt hatte, diese Ehe sei für ihn ein für allemal erledigt?

Jill legte ihm liebevoll die Hand auf den Arm und sagte behutsam: »Ich verstehe natürlich, dass dir das alles sehr nahe geht. Aber du hast sie doch in all den Jahren nie wiedergesehen?«

Ein Flackern in seinem Blick. Ihre Finger spannten sich unwillkürlich an. Nicht schon wieder, dachte sie. Wenn du mich jetzt belügst, wie Jonathon es getan hat, werde ich auf der Stelle Schluss machen, Richard! Ich werde mich nicht noch einmal einer Illusion hingeben.

»Nein, gesehen habe ich sie nicht«, antwortete er. »Aber ich habe vor kurzem mit ihr gesprochen. Mehrmals im Lauf des letzten Monats.« Er schien zu spüren, wie sie sich verschloss, um sich vor Verletzung zu schützen, denn er fügte hastig hinzu: »Sie hatte mich Gideons wegen angerufen. Sie hatte von der Geschichte in der Wigmore Hall in der Zeitung gelesen. Und als sie hörte, er befände sich in ärztlicher Behandlung, rief sie mich an, um sich nach ihm zu erkundigen. Ich habe dir nichts davon gesagt, weil… ich weiß eigentlich gar nicht, warum ich dir nichts gesagt habe. Es erschien mir einfach nicht wichtig. Außerdem wollte ich dir in diesen letzten Wochen vor - vor der Geburt jede Aufregung ersparen. Ich wollte dich nicht damit belästigen.«

»Also, das ist wirklich unerhört!«, sagte Jill empört.

»Es tut mir Leid«, sagte Richard. »Wir haben jedes Mal nur fünf Minuten - höchstens zehn - miteinander gesprochen. Ich hielt es nicht für -«

»Das meine ich ja gar nicht«, unterbrach Jill. »Ich finde es unerhört, dass sie dich angerufen hat, Richard. Das ist doch eine Dreistigkeit sondersgleichen. Sie verlässt dich - und ihren Sohn, Herrgott noch mal! - von einem Tag auf den anderen, kümmert sich jahrelang überhaupt nicht mehr um euch und ruft dann plötzlich an, nur weil sie irgendwo gelesen hat, dass ihr Sohn einen Auftritt vermasselt hat, und sie neugierig ist. Mein Gott, das ist wirklich eine Frechheit.«

Richard sagte nichts. Er schwenkte den Kognak im Glas und beobachtete, wie die Flüssigkeit an den Wänden herablief. Jill kam zu dem Schluss, dass es noch etwas gab.

»Richard?«, sagte sie scharf. »Was ist? Du verschweigst mir doch etwas, stimmt's?« Und bei dem Gedanken, dass der Mann, dem sie so viel Vertrauen entgegengebracht hatte, nicht so offen sein könnte, wie sie es erwartete, fiel wieder eine Tür in ihrem Inneren zu. Seltsam, dachte sie, wie stark das Erlebnis einer einzigen demütigenden und misslungenen Beziehung alle nachfolgenden Verbindungen zu anderen Menschen beeinflussen kann.

»Richard! Sag schon! Da ist doch noch etwas.«

»Gideon«, sagte Richard. »Ich habe ihm nicht erzählt, dass sie mich seinetwegen angerufen hatte. Ich wusste nicht, was ich ihm sagen sollte, Jill. Sie hatte ja mit keinem Wort etwas davon erwähnt, dass sie ihn sehen wollte. Wozu also hätte ich ihm von ihren Anrufen erzählen sollen? Aber jetzt ist sie tot, und das kann ich ihm nicht verschweigen, und ich habe wahnsinnige Angst, dass sein Zustand sich verschlechtern wird, wenn er von ihrem Tod hört.«

»Ja, das kann ich verstehen. Das wäre durchaus möglich.«

»Sie wollte wissen, ob es ihm gut geht, Jill. > Warum spielt er nicht, Richard?<, fragte sie mich. >Wie viele Auftritte hat er wirklich abgesagt? Und warum? Warum?<«

»Was wollte sie denn?«

»Sie hat mich allein in den letzten zwei Wochen bestimmt zehnmal angerufen«, sagte Richard. »Plötzlich drängte sie sich wieder in mein Leben, eine Stimme aus der Vergangenheit, von der ich glaubte, ich hätte sie endgültig hinter mir gelassen und -« Er brach ab.

Jill spürte, wie die Kälte an ihr emporkroch, von den Fußsohlen aufwärts, und sie umklammerte. »Du glaubtest, du hättest sie hinter dir gelassen«, sagte sie leise und versuchte, das Undenkbare nicht zu denken. Aber die Gedanken stürmten trotzdem auf sie ein: Er liebt sie immer noch. Sie verließ ihn, sie verschwand aus seinem Leben, aber er liebt sie immer noch. Er hat mich geküsst. Er hat mit mir geschlafen. Aber geliebt hat er immer nur Eugenie.

Kein Wunder, dass er nie wieder geheiratet hatte. Die einzige Frage war: Warum wollte er jetzt wieder heiraten?

Dieser verwünschte Mann konnte ihre Gedanken lesen. Vielleicht las er auch in ihrem Gesicht oder spürte die Kälte. Jedenfalls sagte er: »Ich habe so lange gebraucht, um dich zu finden, Jill. Ich liebe dich. Ich hatte überhaupt nicht erwartet, dass ich in meinem Alter noch einmal lieben würde. Und jeden Morgen, wenn ich auf diesem Foltersofa hier aufwache, danke ich Gott für das Wunder deiner Liebe. Eugenie ist ein sehr ferner Teil meiner Vergangenheit. Wir wollen sie nicht zu einem Teil unserer Zukunft machen.«

Sie hatten, wie Jill nur zu gut wusste, beide eine Vergangenheit. Sie waren keine Teenager mehr, sie konnten nicht erwarten, dass der andere ohne Gepäck in das gemeinsame neue Leben eintreten würde. Was zählte, war die Zukunft. Ihre gemeinsame Zukunft und die Zukunft ihres Kindes. Catherine Ann.

Henley-on-Thames war von London aus rasch zu erreichen, wenn die Rückstaus, die sich im morgendlichen Berufsverkehr auf der M40 bildeten, auf die andere Fahrbahnseite beschränkt blieben. Inspector Thomas Lynley und Constable Barbara Havers hatten Marlow bereits knapp eine Stunde nach ihrer Abfahrt aus Hampstead, wo sie an einer Lagebesprechung unter der Leitung von Inspector Eric Leach teilgenommen hatten, hinter sich gelassen und fuhren in südlicher Richtung Henley entgegen.

Inspector Leach, der offenbar mit einer Erkältung oder Grippe kämpfte, hatte sie mit seinen Leuten bekannt gemacht, die nicht verbargen, dass ihnen die Anwesenheit New Scotland Yards in ihrer Mitte nicht recht geheuer war. Aber angesichts der massiven Arbeitslast, die auf sie wartete - sie hatten unter anderem eine Reihe von Vergewaltigungen in Hampstead Heath und eine Brandstiftung im Haus einer berühmten alternden Schauspielerin aufzuklären -, nahmen sie das Hilfsangebot der Kollegen doch gern an.

Leach berichtete zunächst über den ersten Befund der Obduktion, der die Ergebnisse von Blut-, Gewebe- und Organuntersuchungen noch nicht einschloss. Man hatte bei der Toten, die mit Hilfe der zahnärztlichen Unterlagen als Eugenie Davies, 62 Jahre alt, identifiziert worden war, eine Vielzahl körperlicher Verletzungen festgestellt. Zuerst zählte Leach die Frakturen auf, die sie davongetragen hatte: vierter und fünfter Halswirbel, Oberschenkelhals links, Elle und Speiche ebenfalls links, Schlüsselbein rechts, fünfte und sechste Rippe. Es folgten die organischen Verletzungen: Leber, Milz und Niere. Als Todesursache waren starke innere Blutungen und Schock festgestellt worden; der Tod war zwischen zweiundzwanzig Uhr und Mitternacht eingetreten. Eine Auswertung des am Leichnam festgestellten Spurenmaterials würde folgen.

»Sie wurde ungefähr fünfzehn Meter weit geschleudert«, berichtete Leach den im Besprechungszimmer zwischen Computern, Aktenschränken, Kopiergeräten und Tafeln versammelten Beamten.

»Den Untersuchungen zufolge ist danach mindestens zweimal ein Fahrzeug über sie hinweggefahren, möglicherweise auch dreimal. Das ergibt sich aus den Quetschungen am Körper der Toten und den auf ihrem Trenchcoat sichergestellten Spuren.«

»Das scheint ja eine reizende Gegend zu sein«, bemerkte jemand ironisch.

Leach korrigierte den falschen Eindruck des Sprechers sofort.

»Wir vermuten, dass der Schaden durch ein einziges Fahrzeug angerichtet wurde, McKnight, nicht durch zwei oder drei. Davon werden wir auf jeden Fall ausgehen, solange wir aus Lambeth nichts anderes hören. Beim ersten Zusammenprall mit dem Fahrzeug wurde sie zu Boden gerissen. Der Wagen fuhr dann zuerst vorwärts, danach rückwärts und noch einmal vorwärts über sie hinweg.«

Leach zeigte auf verschiedene Fotografien, die an der Tafel aufgehängt waren, ehe er fortfuhr. Sie zeigten die Straße nach dem Unglück. Er wies auf eine Aufnahme hin, die ein Stück Asphalt zwischen zwei orangefarbenen Pylonen und im Hintergrund eine Reihe geparkter Autos zeigte. »Der Zusammenstoß scheint hier erfolgt zu sein«, sagte er. »Und der Körper schlug hier, mitten auf der Fahrbahn auf.« Wieder ein Stück Straße, das an beiden Enden abgesperrt war. »An der Stelle, wo die Frau aufgeschlagen ist, hat der Regen einen Teil des Bluts weggespült. Aber es hat zum Glück nicht so stark geregnet, dass alles weggewaschen wurde. Und Gewebe- und Knochenspuren waren auch noch vorhanden. Aber die Tote wird nicht da gefunden, wo die Spuren feststellbar sind, sondern hier drüben, neben diesem Vauxhall, der am Bordstein geparkt ist. Achten Sie auf die Lage der Leiche. Sie sehen, dass sie ein Stück unter den Wagen geschoben ist. Wir vermuten, dass der Fahrer des Unfallwagens ausgestiegen ist, nachdem er die Frau niedergefahren und ein paar Mal überrollt hatte, und sie an den Straßenrand zerrte, ehe er weiterfuhr.«

»Könnte sie nicht von einem Fahrzeug dorthin geschleift worden sein? Einem Lkw vielleicht?«, fragte ein Constable, der bisher lautstark eine Tasse Instantbrühe geschlürft hatte. »Oder können Sie das ausschließen?«

»Ja, auf Grund der wenigen Reifenabdrücke, die wir haben«, erklärte Leach und griff nach seinem Kaffeebecher, den er auf einem mit Akten und Computerausdrucken beladenen Schreibtisch an seiner Seite abgestellt hatte.

Er war lockerer, als Lynley nach der ersten Begegnung vor vierzig Minuten in seinem Büro erwartet hatte. Lynley nahm es als gutes Omen für die bevorstehende Zusammenarbeit.

»Aber warum nicht mehrere Fahrzeuge, Sir?«, erkundigte sich ein anderer Beamter. »Das erste fährt sie nieder, und der Fahrer gerät in Panik und flüchtet. In ihrer schwarzen Kleidung wird sie von den beiden nächsten vorüberkommenden Autofahrern nicht gesehen und nochmals überrollt.«

Leach trank einen Schluck Kaffee und schüttelte den Kopf. »Es wäre doch sehr unwahrscheinlich, dass in derselben Nacht im selben Viertel drei unachtsame Autofahrer dieselbe Person überfahren, ohne den Unfall zu melden. Und wie soll sie, wenn wir Ihrer Theorie folgen, unter dem Vauxhall gelandet sein? Dafür gibt es nur eine Erklärung, Potashnik, und die ist der Grund dafür, dass wir uns mit dem Fall befassen.«

Seinen Worten folgte zustimmendes Gemurmel von allen Seiten.

»Ich würde wetten, dass der Typ, der die Sache gemeldet hat, unser Fahrer ist«, rief jemand von hinten.

»Möglich«, stimmte Leach zu. »Pitchley hat sofort seinen Anwalt hinzugezogen und keinen Ton mehr gesagt. Das stinkt natürlich, da haben Sie Recht. Aber er wird uns schon noch einiges erzählen, denke ich, wenn wir sein kostbares Auto lange genug unter Verschluss halten.«

»Nimm einem Kerl seinen Porsche, und er singt wie ein Kanarienvogel«, behauptete ein Constable, der ganz vorn saß.

»Genau darauf zähle ich«, stimmte Leach zu. »Ich behaupte weder, dass er der Fahrer war, der sie niedergefahren hat, noch, dass er es nicht war. Aber ganz gleich, wie der Hase läuft, er wird seinen Porsche nicht zurückbekommen, solange er uns nicht gesagt hat, warum die Tote seine Adresse bei sich trug. Wenn wir ihn nur dann zum Reden bringen können, wenn wir den Porsche in Gewahrsam behalten, werden wir genau das tun. So und jetzt…«

Leach begann mit der Aufgabenverteilung. Die meisten Männer seines Teams wurden in das Gebiet rund um den Unfallort beordert, um die Bewohner der umliegenden Häuser - teils Einfamilien-, teils Mehrfamilienhäuser - darüber zu befragen, was sie in der vergangenen Nacht gesehen, gehört oder sonst irgendwie wahrgenommen hatten. Einige andere Beamte wurden angewiesen, sich ständig über die Arbeit der Spurensicherung und des Labors zu informieren, also die Fortschritte bei der Untersuchung von Eugenie Davies' Wagen zu verfolgen, alle Angaben bezüglich des am Körper der Toten sichergestellten Spurenmaterials zu koordinieren, das am Leichnam gesicherte Material mit dem von dem beschlagnahmten Porsche zu vergleichen, alle Reifenabdrücke auf der Straße in West Hampstead und auf dem Körper und der Kleidung Eugenie Davies' auszuwerten. Eine letzte Gruppe von Beamten - die größte - wurde mit der Fahndung nach einem Fahrzeug mit beschädigterVorderfrontbeauftragt.

»Karosseriewerkstätten, Parkplätze und -garagen, Mietwagenfirmen, Straßen, Höfe und Parkbuchten an der Schnellstraße«, instruierte Leach.

»So ein Unfall hinterlässt Spuren am Fahrzeug.«

»Dann ist aber der Porsche aus dem Rennen«, bemerkte eine Beamtin.

»Den Porsche brauchen wir, um unseren Mann zum Reden zu bringen«, erwiderte Leach. »Aber wer weiß, ob Pitchley nicht irgendwo noch einen zweiten Wagen versteckt hat. Wir dürfen diese Möglichkeit jedenfalls nicht außer Acht lassen.«

Nach der Besprechung setzte sich Leach in seinem Büro mit Lynley und Havers zusammen, um ihnen als Leiter der Ermittlungen seine Anweisungen zu geben. Die Art, wie er das tat, legte nahe, dass es in diesem Fall nicht allein um Mord ging, sondern dass mehr auf dem Spiel stand. Was genau, verriet er ihnen allerdings nicht. Er nannte ihnen lediglich mit der Bemerkung, dass dies ihr Ausgangspunkt sei, Eugenie Davies' Adresse in Henley. Er nehme an, sagte er mit eigenartiger Betonung, sie besäßen Erfahrung genug, um zu wissen, wie sie mit den Erkenntnissen, die dort möglicherweise auf sie warteten, umzugehen hätten.

»Was sollte das denn heißen?«, fragte Barbara, als sie in Henley in die Bell Street einbogen, wo in einem Schulhof Kinder herumtobten. »Und wieso teilt er uns das Haus zu, während die anderen sämtliche Straßen in West Hampstead abklappern? Ich kapier das nicht.«

»Webberly wollte unsere Mitarbeit. Hillier hat seinen Segen dazu gegeben.«

»Und das allein ist Grund genug, wenn Sie mich fragen, Glacehandschuhe überzuziehen.«

Lynley widersprach nicht. Er wusste so gut wie Barbara, dass Hillier sie beide nicht ins Herz geschlossen hatte. Und Webberlys Verhalten bei dem Gespräch am vergangenen Abend hatte einiges vermuten lassen, aber klar ausgesprochen worden war nichts.

»Wir werden wahrscheinlich bald genug dahinter kommen, worum es geht, Havers«, sagte er. »Wie war gleich wieder die Adresse?«

»Friday Street fünfundsechzig«, antwortete sie und fügte mit einem Blick auf den Stadtplan hinzu: »Die nächste links, Sir.«

Eugenie Davies hatte nur ein paar Häuser von der Themse entfernt gewohnt, in einer hübschen Straße, wo es neben reinen Wohnhäusern einige Geschäfte und Arztpraxen gab. Das Haus war sehr klein, kaum größer, dachte Lynley, als Barbara Havers' Minibungalow in London, mit pinkfarbenem Anstrich, zwei Stockwerken und möglicherweise einer Mansarde, wenn man das winzige Dachfenster einbezog. Das reinste Puppenhaus, und so hieß es auch, wie das Emailschild an seiner Fassade verriet -Doli Cottage.

Lynley parkte ein Stück entfernt, gegenüber einer Buchhandlung. Er kramte den Schlüsselbund der Verstorbenen aus seiner Tasche, und Havers nutzte die Gelegenheit, um sich eine Zigarette anzuzünden und ihrem Kreislauf einen Nikotinstoß zu verpassen.

»Wann geben Sie dieses widerwärtige Laster endlich auf?«, fragte er, während er die Fassade des Hauses nach Anzeichen einer Alarmanlage überprüfte und dann den Schlüssel ins Schloss schob.

Havers inhalierte tief und sah ihn mit tabakseligem Lächeln herausfordernd an. »Hör sich das einer an!«, sagte sie zum Himmel hinauf. »Kann ja sein, dass es Zeitgenossen gibt, die noch unerträglicher sind als bekehrte Raucher, aber ich kenne keine. Ein Pädophiler, der sich am Tag seiner Festnahme zu Jesus bekennt? Ein Konservativer mit sozialem Gewissen? Hm, nein, die kommen da nicht ran.«

Lynley lachte. »Machen Sie sie auf der Straße aus, Havers.«

»Etwas anderes würde ich mir nicht einfallen lassen.« Sie schnippte die Zigarette über ihre Schulter auf die Fahrbahn, nachdem sie sich noch drei rasche Züge gegönnt hatte.

Lynley öffnete die Tür. Sie führte direkt in ein Wohnzimmer, klein, karg wie eine Klosterzelle, mit Restbeständen der Heilsarmee möbliert, wie es schien.

»Und ich glaubte, bonjour tristesse wär meine Spezialität«, bemerkte Barbara.

Treffend beschrieben, dachte Lynley. Die Möbel waren klassisches Nachkriegsdesign, zu einer Zeit fabriziert, als alle Energien des Landes in den Wiederaufbau einer durch Bomben zerstörten Hauptstadt gesteckt worden waren. Ein abgewetztes graues Sofa, das an der einen Wand stand, bildete zusammen mit einem Sessel der gleichen faden Farbe und zwei Beistelltischchen aus hellem Holz, die jemand ohne viel Erfolg aufzupolieren versucht hatte, eine Sitzgruppe um einen Couchtisch, auf dem mehrere Zeitschriften lagen. Die drei Lampen im Zimmer hatten Fransenschirme, zwei von ihnen hingen schief, der dritte hatte ein Brandloch, das man zur Wand hätte drehen können, wenn man gewollt hätte. Die Wände waren kahl, bis auf einen Druck über dem Sofa, der ein hässliches kleines Mädchen aus viktorianischer Zeit mit einem Kaninchen im Arm zeigte. Zwischen den Büchern in den beiden Regalen rechts und links vom mauselochgroßen, offenen Kamin klafften hier und da Lücken, offenbar von Gegenständen hinterlassen, die dort ihren Platz gehabt hatten und entfernt worden waren.

»Arm wie eine Kirchenmaus«, stellte Barbara fest, während sie - die Hände in Latex - die Zeitschriften auf dem Couchtisch durchsah und fächerförmig auslegte, sodass Lynley selbst von seinem Platz beim Regal an den Titelblättern erkennen konnte, dass die Hefte alle uralt waren.

Er wandte sich den Büchern zu, während Barbara in die Küche ging, die an das Wohnzimmer anschloss.

»Hier gibt's immerhin ein Stück moderner Technik«, rief sie.

»Sie hat einen Anrufbeantworter, Inspector. Und das Licht blinkt.«

»Schalten Sie ein«, sagte Lynley.

Die erste geisterhafte Stimme erscholl aus der Küche, als Lynley seine Lesebrille aus der Jackentasche zog, um sich die wenigen Bände in den Regalen näher anzusehen.

»Eugenie? Ian hier«, sagte ein Mann mit tiefer, sonorer Stimme, während Lynley nach einem Buch mit dem Titel The Little Flower griff und es aufschlug. Dem Klappentext entnahm er, dass es sich um die Biografie einer katholischen Heiligen namens Therese handelte: Französin, eine von mehreren Schwestern, Nonne, früh verstorben an irgendeinem Leiden, das sie sich im Winter in der unbeheizten Zelle eines französischen Klosters zugezogen hatte.

»Tut mir Leid, dass wir uns gestritten haben«, fuhr die Geisterstimme fort. »Ruf mich an, ja? Bitte! Ich hab mein Handy bei mir.«

Langsam und deutlich gab er die Nummer an.

»Ich hab sie«, rief Havers aus der Küche.

»Das ist eine Cellnet-Nummer«, sagte Lynley und griff zum nächsten Buch, als nebenan die nächste Stimme - die einer Frau - erklang. »Eugenie, ich bin's, Lynn. Dank tausendmal für deinen lieben Anruf. Ich war gerade spazieren, als du angerufen hast. Das war sehr aufmerksam von dir. Ich hätte nicht erwartet… Ach, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Irgendwie halte ich mich aufrecht. Ich danke dir jedenfalls für deine Fürsorge. Wenn du mich zurückrufst, können wir eingehender miteinander sprechen. Aber du kannst dir sicher vorstellen, was ich im Moment durchmache.«

Lynley stellte fest, dass auch dieses Buch eine Biografie war. Diesmal ging es um eine Heilige namens Klara, eine frühe Anhängerin des Franz von Assisi: Sie verschenkte alles, was sie besaß, gründete einen Nonnenorden, führte ein Leben in der Askese und starb in Armut. Er nahm ein drittes Buch zur Hand.

»Eugenie!« Erregt und drängend, die Stimme eines Mannes, der Eugenie Davies offenbar nahe gestanden hatte, da er es nicht für nötig hielt, seinen Namen zu nennen. »Ich muss unbedingt mit dir sprechen. Ich musste noch einmal anrufen. Ich weiß, dass du da bist, bitte nimm ab!… Eugenie, nimm den verdammten Hörer ab.« Ein Seufzen. »Hör zu. Glaubst du im Ernst, ich würde mich über diese Wendung der Dinge freuen? Wie denn?… Nimm ab, Eugenie.« Schweigen, dann wieder ein Seufzen. »Na schön. Wie du willst. Wirf die Vergangenheit auf den Müll und schau nach vorn. Ich werd's auch so machen.« Damit wurde aufgelegt.

»Da könnte was zu holen sein«, rief Barbara.

»Wählen Sie eins-vier-sieben-eins, wenn die letzte Nachricht durch ist. Vielleicht haben wir Glück.«

Das dritte Buch behandelte, wie Lynley sah, das Leben der Teresa von Avila. Eine rasche Durchsicht des Klappentexts zeigte ihm, dass auf den Bücherborden thematische Einheit herrschte: Kloster, Armut, leidvoller Tod. Lynley runzelte nachdenklich die Stirn.

Aus der Küche erscholl die nächste Stimme. Wieder die eines Mannes, der seinen Namen nicht nannte. »Hallo, Liebste. Schläfst du noch, oder bist du schon unterwegs? Ich rufe nur wegen heute Abend an. Um welche Zeit? Ich bringe eine Flasche Rotwein mit, wenn's dir recht ist. Gib mir kurz Bescheid. Ich bin - ich kann es kaum erwarten, dich zu sehen, Eugenie.«

»Das war's«, verkündete Barbara. »Also, drücken Sie schön die Daumen, Inspector.«

»Ist doch klar«, antwortete er, während in der Küche Barbara die Nummer 1-4-7-1 wählte, um festzustellen, woher der letzte Anruf gekommen war.

Lynley ließ seinen Blick über die restlichen Bücher im Regal wandern und sah, dass es sich durchweg um Biografien katholischer Heiliger handelte, allesamt weiblichen Geschlechts. Werke aus jüngerer Zeit befanden sich nicht darunter, die meisten waren vor mindestens dreißig Jahren, einige sogar schon vor dem Krieg erschienen. In elf der Bücher stand auf dem Vorsatzblatt, mit kindlicher Hand geschrieben, der Name Eugenie Victoria Staines, vier trugen den Stempel eines Klosters der Unbefleckten Empfängnis, und fünf andere waren mit einer persönlichen Widmung versehen: Für Eugenie mit den besten Wünschen von Cecilia. Aus einem Buch dieser letzten Gruppe - einer Abhandlung über das Leben irgendeiner heiligen Rita - fiel ein kleiner Briefumschlag ohne Anschrift oder Poststempel. Das Schreiben, das darin lag, war vor neunzehn Jahren datiert und in einer Handschrift verfasst, die wie gestochen wirkte. Liebste Eugenie, Sie dürfen nicht verzweifeln. Gottes Wege sind unerforschlich, und keiner von uns kann sie begreifen. Wir können nur versuchen, die Prüfungen, die er uns auferlegt, zu bestehen, in dem Wissen, dass sie einen Sinn haben, den wir vielleicht im Moment nicht erkennen können. Aber eines Tages werden wir ihn erkennen, liebe Freundin. Daran müssen Sie glauben. Wir alle vermissen Sie bei der Morgenmesse und hoffen von Herzen, dass Sie bald zu uns zurückkehren werden. Die Liebe Christi und die meine begleiten Sie, Eugenie. Cecilia.

Lynley schob das Blatt Papier wieder in den Umschlag und schlug das Buch zu. »Kloster der Unbefleckten Empfängnis, Havers«, rief er.

»Wollen Sie mir empfehlen, meinen Lebenswandel zu ändern, Sir?«

»Nur wenn Sie das Bedürfnis dazu haben. Nein, lassen Sie uns daran denken, dieses Kloster ausfindig zu machen. Wir suchen jemanden namens Cecilia, falls die Frau überhaupt noch am Leben ist, und ich vermute, wir werden sie dort finden.«

»In Ordnung.«

Lynley war Barbara während dieses kurzen Austauschs in die Küche gefolgt und sah sich um. Die gleiche Kargheit wie im Wohnzimmer. So wie es aussah, war hier seit mehreren Generationen nichts erneuert worden, das einzige halbwegs moderne Stück war der Kühlschrank, der allerdings auch schon mindestens fünfzehn Jahre auf dem Buckel zu haben schien.

Der Anrufbeantworter stand auf einer schmalen Arbeitsplatte aus Holz neben einem Pappmacheeständer, in dem mehrere Briefe steckten. Lynley nahm sie heraus, während Havers zu dem kleinen Küchentisch mit den zwei Stühlen ging, der an der einen Wand stand. Auf ihm war eine kleine Fotoausstellung aufgebaut: drei ordentliche Reihen mit jeweils vier gerahmten Fotografien boten sich hier dem interessierten Betrachter dar. Die Briefe in der Hand, trat Lynley zu Barbara, als diese sagte: »Ob das wohl ihre Kinder sind? Was meinen Sie, Inspector?«

In der Tat zeigten alle Aufnahmen dasselbe Sujet: zwei Kinder, die sich mit jedem Foto ein wenig weiterentwickelten. Auf dem ersten sah man einen kleinen Jungen - vielleicht fünf oder sechs Jahre alt -, der ungeschickt einen Säugling auf dem Arm hielt, ein kleines Mädchen, wie sich bei Besichtigung der späteren Bilder erwies. Der Junge wirkte mit seinem großäugig strahlenden Lächeln voll ängstlichen Eifers von der ersten bis zur letzten Aufnahme gleich bemüht zu gefallen. Das kleine Mädchen hingegen schien meist gar nicht zu bemerken, dass eine Kamera auf sie gerichtet war. Sie sah nach rechts, nach links, nach oben, nach unten. Nur einmal - da lag die Hand ihres Bruders an ihrer Wange - war es jemandem gelungen, sie dazu zu bewegen, in die Kamera zu blicken.

Havers sagte gewohnt unverblümt: »Sir, irgendwas stimmt bei der Kleinen nicht, oder? Das ist doch das Kind, das gestorben ist, nicht? Von dem Ihnen der Superintendent erzählt hat. Richtig?«

»Wir müssen uns das erst von jemandem bestätigen lassen«, meinte Lynley. »Es könnte auch ein anderes Kind sein. Eine Nichte oder ein Enkelkind.«

»Aber was denken Sie?«

»Ja«, sagte Lynley, »ich denke, es ist das kleine Mädchen, das damals ertrunken ist.« Und nicht infolge eines Unglücksfalls, wie man zunächst hatte glauben wollen.

Das Bild konnte nicht lange vor ihrem Tod gemacht worden sein. Webberly hatte ihm erzählt, dass sie mit zwei Jahren gestorben war, und Lynley hatte den Eindruck, dass sie zum Zeitpunkt dieser letzten Aufnahme nicht wesentlich jünger gewesen war. Aber Webberly hatte ihm nicht alles erzählt. Das erkannte er jetzt bei näherer Betrachtung der Fotografie.

Er spürte, wie Argwohn und Verdacht erwachten.

Und diese Regungen gefielen ihm beide nicht.