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AGATHO WAR EIN SCHLANKER, DRAH-
tiger Mann mit einem schmalen Gesicht. Er hatte dunkle Haut und ein Kinn voller schwarzer Bartstoppeln. Auch seine Augen und sein dichtes Haar waren tiefschwarz. Das Rot seiner schmalen Lippen wirkte dagegen so auffällig, als ob er es durch das Auftragen von Beerensaft noch betont hätte. Am meisten beeindruckten Fidelma jedoch seine schweren, wie bei einem Raubvogel halb geschlossenen Augenlider.
Der Priester betrat den Raum mit finsterem Blick.
«Ich bin gegen meinen Willen hier», sagte er auf lateinisch, der allgemeinen lingua franca gelehrter Christen.
«Ich werde es zu Protokoll nehmen», erwiderte Fidelma ebenfalls auf lateinisch. «Mit wem soll ich die Angelegenheit erörtern? Mit dem König, mit Bischof Colman oder Äbtissin Hilda?»
Mit einer verächtlichen Geste, die wohl andeuten sollte, daß es unter seiner Würde sei, darauf zu antworten, ließ er sich auf dem angebotenen Stuhl nieder. «Ihr wollt mich befragen?»
«Es scheint, als wärt Ihr die letzte Person gewesen, die Äbtissin Etain lebend gesehen hat.»
Agatho lachte.
«Nicht ganz.»
«Ach, nein?» fragten Fidelma und Eadulf erwartungsvoll wie aus einem Munde.
«Die letzte Person, die sie lebend gesehen hat, muß wohl die Person gewesen sein, die sie getötet hat.»
Fidelma sah in seine schwarzen Augen. Sie waren kalt und ausdruckslos. Es war schwer zu sagen, ob er sie herausfordern wollte oder ob er sich über sie lustig machte.
«Richtig», sagte Eadulf. «Und wir sind hier, um herauszufinden, wer sie umgebracht hat. Um welche Uhrzeit wart Ihr in ihrer Zelle?»
«Genau um vier.»
«Ganz genau?»
Wieder erschien das überhebliche Lächeln auf den schmalen, roten Lippen.
«So jedenfalls verkündete es der Stand der von Schwester Athelswith wohlbehüteten Klepsydra.»
«Aha», erwiderte Eadulf. «Und warum seid Ihr in ihre Zelle gegangen?»
«Um sie zu sehen natürlich.»
«Natürlich. Aber aus welchem Grund wolltet Ihr sie sehen?»
«Ich werde es Euch ganz offen sagen. Ich bin ein Anhänger Roms. Und es war meine feste Überzeugung, daß Äbtissin Etain einen schweren Irrtum beging, als sie sich dazu verleiten ließ, für die Ketzereien Columbans einzutreten. Ich suchte sie auf, um ihr den rechten Weg zu weisen.»
Fidelma starrte den Mann ungläubig an.
«Das ist alles?»
«Das ist alles.»
«Und wie wolltet Ihr bei der Äbtissin einen so raschen Gesinnungswechsel erreichen?»
Agatho blickte sich verschwörerisch um und lächelte dann.
«Ich habe ihr das hier gezeigt ...» Er öffnete seinen crumena, einen Lederbrustbeutel, und schüttelte den Inhalt in seine Hand.
Stirnrunzelnd beugte sich Eadulf vor.
«Aber das ist doch nur ein Holzsplitter.»
Agatho sah ihn verächtlich an.
«Das ist das lignum Sanctae Crucis», sagte er mit ehrfürchtig gesenkter Stimme und richtete den Blick zur Decke.
«Holz vom Kreuz unseres Herrn?» flüsterte Eadulf verblüfft.
«Ich sagte es bereits», erwiderte Agatho kühl.
Fidelmas Augen leuchteten, und ihre Lippen zitterten leicht.
«Aber wie wolltet Ihr damit die Äbtissin davon überzeugen, Rom statt Iona zu unterstützen?» fragte sie ernst.
«Aber das ist doch ganz klar», entgegnete er selbstzufrieden. «Ich dachte, wenn sie das Kreuz des Herrn in meinen Händen sieht, würde sie erkennen, daß Christus mich erwählt hat, um durch mich zu sprechen - genauso, wie er durch Paulus von Tarsus gesprochen hat.»
Eadulf warf Fidelma einen verwirrten Seitenblick zu.
«Christus hat Euch erwählt? Wie meint Ihr das?» fragte er.
Agatho schniefte mißbilligend. Offenbar hielt er Eadulf für reichlich begriffsstutzig.
«Ich sage die Wahrheit. Habt Vertrauen. Gott befahl mir, in die Wälder von Witebia zu gehen, und als ich auf eine Lichtung kam, wies mich eine Stimme an, einen Splitter vom Boden zu nehmen, weil dies das lignum Sanctae Crucis sei. Dann befahl mir die Stimme, zurückzugehen und allen Irregeleiteten die Wahrheit zu predigen. Habt Vertrauen! Bald wird alles offenbart!»
«Und hat Etain Euren Worten Glauben geschenkt?» fragte Fidelma sanft.
Agatho drehte sich zu ihr um, die Augen noch immer halb geschlossen.
«Leider nicht. Sie war gefangen.»
«Gefangen?» fragte Eadulf verwirrt.
«Ja, sie konnte die Wahrheit nicht sehen. Sagte nicht der heilige Apostel Johannes: <Die Wahrheit wird euch frei machen>? Sie war unfrei. Sie hatte kein Vertrauen. Der große Augustinus schrieb: <Vertrauen heißt glauben, was man nicht sehen kann. Der Lohn für dieses Vertrauen ist, das zu sehen, was man glaubt. >»
«Und was habt Ihr getan, als Äbtissin Etain Euch nicht glauben wollte?» fragte Eadulf.
Agatho richtete sich auf.
«Ich habe mich zurückgezogen. Was hätte ich sonst tun sollen? Ich wollte meine reine Seele nicht länger der Gegenwart einer Ungläubigen aussetzen.»
«Wie lange wart Ihr bei Etain von Kildare?»
Der Mann zuckte die Achseln.
«Höchstens zehn Minuten. Ich zeigte ihr das Kreuz des Herrn und sagte ihr, daß Christus durch mich spreche und sie die Oberherrschaft Roms anerkennen müsse. Als sie mich wie ein Kind behandelte, verließ ich sie wieder. Ich wußte, daß es für sie keine Hoffnung auf Erlösung gab. Das ist alles.»
Eadulf wechselte einen kurzen Blick mit Fidelma.
«Also gut. Im Augenblick haben wir keine weiteren Fragen. Ihr könnt jetzt gehen.»
Agatho ließ den Holzsplitter zurück in seinen crumena gleiten.
«Aber Ihr beide glaubt mir - jetzt, wo Ihr das wahre Kreuz gesehen habt?»
Eadulf lächelte angestrengt. «Natürlich. Wir werden später mit Euch darüber sprechen, Agatho.»
Nachdem der Priester den Raum verlassen hatte, sagte Eadulf mit besorgter Miene: «Wahnsinnig! Der Mann ist völlig wahnsinnig.»
«Wenn wir nicht vergessen, daß wir alle wahnsinnig geboren werden», erwiderte Fidelma nachsichtig, «erschließen sich uns viele Geheimnisse dieser Welt.»
«Aber ein Wirrkopf wie dieser Agatho hätte die Äbtissin sehr wohl töten können, wenn sie sich weigerte, an seine Botschaft zu glauben.»
«Vielleicht. Aber irgendwie überzeugt mich das nicht. Eine Schlußfolgerung können wir allerdings auf jeden Fall ziehen.»
Eadulf blickte sie erwartungsvoll an.
«Schwester Athelswith hat einige, aber nicht alle Menschen gesehen, die Etain an ihrem Todestag in ihrem cubiculum aufgesucht haben. Und ich bezweifele, daß sie Etains Mörder bemerkt hat.»
Es klopfte, die Tür öffnete sich, und Schwester Athelswith steckte den Kopf herein.
«König Oswiu möchte Euch umgehend sprechen und erwartet Euch in Mutter Hildas Gemach», flüsterte sie aufgeregt.
Kurz darauf standen Schwester Fidelma und Bruder Eadulf schweigend vor dem König. Oswiu war allein im Raum und schaute vom Fenster hinunter auf den Hafen von Witebia. Seine Stirn war von tiefen Sorgenfalten zerfurcht.
«Ich habe Euch rufen lassen, um zu erfahren, ob Ihr mir schon irgendein Ergebnis mitteilen könnt? Seid Ihr der Entdeckung des Täters nähergekommen?»
Seine Stimme verriet, daß er unter großem Druck stand.
«Leider haben wir noch nichts Greifbares zu berichten, Oswiu von Northumbrien», entgegnete Fidelma.
Der König biß sich auf die Lippe und machte ein besorgtes Gesicht. «Habt Ihr mir denn gar nichts zu sagen?» fragte er fast flehentlich.
«Nichts, womit Ihr etwas anfangen könntet», antwortete Fidelma ruhig. «Wir müssen vorsichtig zu Werke gehen. Oder gibt es einen besonderen Grund, weshalb Euch plötzlich die Zeit so drängt?»
Der König zuckte schicksalsergeben die Achseln.
«Ihr seid wie immer sehr schnell von Begriff, Fidelma. Ja. Die Spannungen werden stärker.» Oswiu seufzte. «Bruderkrieg liegt in der Luft. Mein Sohn Alhfrith verschwört sich gegen mich. Es heißt, daß er bereits Krieger um sich schart, um die irischen Geistlichen mit Gewalt zu vertreiben, während meine Tochter Aelflaed angeblich die Anhänger Columbans versammelt, weil sie die Klöster gegen Alhfrith schützen will. Ein einziger Funke genügt, und das gesamte Königreich steht in Flammen. Beide Seiten geben einander die Schuld am Tod Etains. Was soll ich den Leuten sagen?»
Der König klang so verzweifelt, daß Fidelma fast Mitleid mit ihm hatte.
«Aber wir wissen einfach nicht mehr, Hoheit», beharrte Eadulf.
«Ihr habt doch alle befragt, die Etain an ihrem Todestag aufgesucht haben.»
Fidelma lächelte gequält.
«Offenbar verfügt Ihr über einen auskunftsfreudigen Zuträger. Vielleicht Schwester Athels-with?»
Oswiu nickte verlegen.
«Ist es denn ein Geheimnis?»
«Kein Geheimnis, Oswiu», erwiderte Fidelma. «Aber Schwester Athelswith sollte etwas vorsichtiger sein. Schließlich könnten ihre Berichte auch den Falschen zu Ohren kommen. Immerhin gibt es einen Zeugen, den wir noch nicht vernommen haben.»
«Ich habe Schwester Athelswith angewiesen, mir unverzüglich Bescheid zu geben, sobald Ihr Eure Befragungen beendet habt», rechtfertigte sich Oswiu.
«Ihr sagtet gerade, Euer Sohn Alhfrith würde sich gegen Euch verschwören», kam Fidelma auf seine frühere Äußerung zurück. «War das ernst gemeint?»
In einer unschlüssigen Geste breitete Oswiu die Arme aus.
«In seinen ehrgeizigen Söhnen hat ein König keine Freunde», antwortete er bedrückt. «Denn welches Ziel könnte der Sohn eines Königs haben, als selbst den Thron zu besteigen?»
«Alhfrith möchte König werden?»
«Ich habe ihn um des lieben Friedens willen zum Unterkönig von Deira ernannt, er aber verlangt die Herrschaft über ganz Northumbrien. Das weiß ich. Und er weiß, daß ich es weiß. Währenddessen spielen wir den ergebenen Sohn und den treusorgenden Vater. Aber es könnte der Tag kommen ...»
Er zuckte die Achseln und versank in beredtes Schweigen.
«Eine Untersuchung wie die unsere erfordert einfach ein gewisses Maß an Zeit», griff Fidelma nach einer Weile den Faden wieder auf. «Es gibt so vieles zu bedenken.»
Oswiu sah sie nachdenklich an. «Natürlich, Schwester. Ich habe kein Recht, Euch zu drängen. Eure Suche gilt der Wahrheit. Ich jedoch habe ein Königreich zu bewahren, das sich zu spalten und schließlich unterzugehen droht.»
«Glaubt Ihr wirklich, die Menschen sind so fest von der einen oder anderen Seite überzeugt, daß sie mit Gewalt aufeinander losgehen werden?» fragte Eadulf.
Oswiu schüttelte den Kopf.
«Es sind die Menschen, die sich die Religion zunutze machen, nicht die religiösen Streitigkeiten selbst, die den Frieden unseres Landes gefährden. Alhfrith schreckt nicht davor zurück, die Menschen im Namen des Glaubens dazu aufzustacheln, ihn in seinem Streben nach der Macht zu unterstützen. Je länger Gerüchte darüber umgehen, wer Etain von Kildare getötet hat, desto mehr Zeit haben meine Widersacher, Haß zu säen und Vorurteile zu schüren.»
«Leider können wir Euch im Augenblick nur mitteilen, Oswiu, daß wir, sobald wir der Lösung näherkommen, Euch als ersten davon unterrichten werden», sagte Fidelma.
«Nun gut. Mit dieser Versicherung muß ich mich wohl zufriedengeben. Doch denkt an meine
Worte. Die Augen der Christenheit sind auf uns gerichtet. Es hängt viel von unserer Versammlung ab - und von den Entscheidungen, zu denen wir hier gelangen.»
Auf dem Weg durch den Kreuzgang zurück zum domus hospitale meinte Eadulf plötzlich: «Ich glaube, daß Ihr mit Eurem Verdacht richtig liegt, Fidelma. Wir sollten unbedingt mit diesem Taran sprechen.»
Mit einem spöttischen Lächeln zog Fidelma die Augenbrauen hoch.
«Ihr wißt also, was ich vermute, Eadulf?»
«Ihr glaubt, daß Alhfrith eine Verschwörung angezettelt hat, um Oswiu zu stürzen, und daß er die im Zuge der Synode auftretenden Spannungen dazu nutzen will, einen Bruderkrieg zu entfesseln.»
«Ja, da habt Ihr recht», bestätigte Fidelma.
«Und Ihr denkt, daß Alhfrith - mit Hilfe Wul-frics und vielleicht auch Tarans - Etain von Kildare töten ließ, um die Kluft weiter zu vertiefen.»
«Das wäre eine Möglichkeit. Wir müssen nur noch herausfinden, ob sie der Wahrheit entspricht.»
Fidelma und Eadulf betraten gerade gemeinsam Schwester Athelswiths officium, als die Glocke zum mitternächtlichen Angelus zu läuten begann.
Fidelma seufzte, während Eadulf sofort zu seinem Rosenkranz griff.
«Es ist schon spät. Wir werden uns morgen mit Taran treffen», erklärte sie. «Aber vergeßt nicht,
Erkundigungen über Athelnoth einzuziehen. Ich zähle ihn noch immer zum Kreis der Verdächtigen.»
Bruder Eadulf nickte und begann, das Ave-Maria zu beten:
Ora, pro nobis, sancta Dei Genetrix.
Bete für uns, o Heilige Mutter Gottes.
Die Glocke, die zum ersten Mahl des Tages, dem jentaculum, rief, war schon verklungen, als Schwester Fidelma als letzte auf ihren Platz an einem der langen Tische im Refektorium schlüpfte. Die für diesen Tag als Vorleserin auserwählte Schwester gehörte zu den Anhängern Roms. Sie hatte bereits ihren Platz am Pult eingenommen und strafte die Nachzüglerin mit einem tadelnden Blick.
«Benedicamus, Domino», sagte sie kühl.
«Deo gratias», erwiderte Fidelma gemeinsam mit den anderen.
Dann stimmten die Schwestern das der Lesung vorausgehende Beati immaculati an und begannen zu essen.
Fidelma kaute gedankenverloren ihren Getreidebrei, ohne darauf zu hören, was die Rezitatorin mit schriller Stimme zum Vortrag brachte. Gelegentlich ließ sie den Blick durch das Refektorium schweifen, konnte Bruder Eadulf jedoch nirgends entdecken. Statt dessen sah sie Bruder Taran an einem Tisch in ihrer Nähe sitzen. Die dunklen Gesichtszüge des piktischen Mönchs wirkten angespannt. Erstaunt stellte sie fest, daß er in ein Gespräch mit Seaxwulf vertieft war. Der junge Mönch hatte ihr den Rücken zugewandt, aber sein strohblondes Haar, seine schlanken Schultern und seine gekünstelten Gesten waren unverwechselbar. Neugierig betrachtete sie Taran. Er wirkte ungehalten und redete beharrlich auf sein Gegenüber ein. Plötzlich trafen sich ihre Blicke, und Taran funkelte sie mit dunklen Augen an. Einen Augenblick lang war seine Miene wie versteinert, dann glitt ein salbungsvolles Lächeln über sein Gesicht, und er nickte ihr freundlich zu. Fidelma zwang sich, seinen Gruß höflich zu erwidern, und widmete sich dann wieder ihrer Mahlzeit.
Als sie das Refektorium verließ, sah sie Eadulf, der mit einigen sächsischen Mönchen in einer Ecke des Innenhofs ins Gespräch vertieft war. Da sie ihn nicht stören wollte, beschloß sie, einen Spaziergang zur Küste zu machen. Sie hatte schon so lange keine frische Seeluft mehr geatmet, und ihr letzter Ausflug war durch Tarans und Wulfrics heimliches Treffen vereitelt worden. Fidelma hatte das Gefühl, sie sei schon seit Ewigkeiten in der Abtei eingeschlossen.
Es verblüffte sie, daß Taran plötzlich einen so freundschaftlichen Umgang mit Wulfric und Seax-wulf pflegte. Sie fragte sich, ob das in irgendeiner Weise bedeutsam war und ob es mit Etains Tod zusammenhing.
Fidelma war ein wenig ratlos. Sie befand sich in einem seltsamen, fremden Land, und der Umstand, daß es der Tod ihrer Freundin war, den sie zu untersuchen hatte, verstärkte ihre Niedergeschlagenheit.
Durch das Seitentor der Abtei betrat sie den Pfad, der zur felsigen Küste führte. Außer ihr waren noch einige andere Spaziergänger unterwegs, doch es schien sie niemand weiter zu beachten, während sie mit nachdenklich gesenktem Kopf kräftig ausschritt.
Fidelma versuchte, ihre Gedanken zu ordnen und alle Ergebnisse ihrer bisherigen Ermittlungen noch einmal durchzugehen.
Seltsamerweise ertappte sie sich immer wieder bei dem Gedanken an Eadulf, den sächsischen Mönch.
Seitdem sie in den Rang einer dalaigh erhoben worden war, hatte sie nicht mehr mit jemandem zusammengearbeitet und war einzig und allein der Wahrheit verpflichtet gewesen. Niemals hatte sie jemanden nach seiner Meinung fragen und sich erst recht nicht mit einem Angehörigen eines fremden Volkes auseinandersetzen müssen. Das Verblüffende daran war jedoch, daß Eadulf für sie kein Fremder im üblichen Sinne des Wortes war. Das führte sie darauf zurück, daß er lange Zeit in Durrow und Tuaim Brecain gelebt hatte. Doch konnte das wirklich dieses seltsame Gefühl der Verbundenheit erklären, das sie allmählich für Eadulf entwickelte?
Dieses Northumbrien war ein merkwürdiges Land, regiert von seltsamen Sitten und Gebräuchen, die sich von der klar durchschaubaren Ordnung Irlands grundlegend unterschieden. Fidelma lachte in sich hinein. Wahrscheinlich empfanden die Sachsen ihre Ordnung als ebenso klar durchschaubar wie sie selbst die Gesetze und Bräuche Irlands. Sie dachte an die Zeile aus Homers Odyssee: «Kann ich für mein Teil, als das eig’ne Land, doch sonst nichts Süßeres erblicken.»
Sie war hierhergekommen, weil Etain von Kildare sie darum gebeten hatte. Jetzt war Etain tot, und Fidelma mußte feststellen, daß ihr dieses Land und sein Volk mit seinem Stolz und seiner Überheblichkeit, seinem kriegerischen Gebaren und seinen grausamen Strafen nicht gefielen. Es war ein Land, in dem alle nur an Vergeltung dachten und niemand dem Sünder die Möglichkeit gab, seine Schuld zu tilgen oder seine Opfer zu entschädigen. Sie sehnte sich nach Hause zurück, wäre am liebsten auf der Stelle nach Kildare zurückgekehrt. Sie mochte die Sachsen nicht. Aber Eadulf war auch ein Sachse .
Wieder waren ihre Gedanken bei Eadulf angekommen. Wütend auf sich selbst, beschleunigte Fidelma ihren Schritt.
Aber war Eadulf so wie die Mehrheit seiner Landsleute? Er besaß viele gute Eigenschaften. Fidelma stellte fest, daß sie ihn gern hatte, daß er sie erheiterte und daß sie seinen scharfen Verstand bewunderte. Und doch hegte sie eine tiefe Abneigung gegen die Sachsen.
Aber schließlich gab es ja auch genug Vertreter ihres eigenen Volkes, die sie nicht leiden konnte. Stolz und Überheblichkeit waren in allen Ländern verbreitet.
Fidelma seufzte tief. Sie hatte sich stets viel auf ihr logisches, methodisches Denken zugute gehalten. Es verstörte sie, daß sie nun so durcheinander war, obgleich sie doch dringend den Mord an Etain aufzuklären hatte. Welche Richtung sie auch einschlug, alle Überlegungen schienen bei Eadulf zu enden. Warum Eadulf? Weil sie mit ihm zusammenarbeiten mußte? Fidelma ahnte, daß es noch einen anderen Grund dafür gab.
Als Fidelma in die Abtei zurückkehrte, war Ea-dulf nirgends zu sehen. Deshalb begab sie sich in Schwester Athelswiths officium, um dort auf ihn zu warten. Sie wollte gerade Schwester Athelswith bitten, Bruder Taran zu rufen, um allein mit der Befragung zu beginnen, als die Tür aufschwang und diese hereingeplatzt kam.
«Schwester Fidelma! Schwester Fidelma!» rief sie verzweifelt.
Erstaunt erhob sich Fidelma von ihrem Stuhl.
Schwester Athelswith sah sie ängstlich an. Ihr Gesicht war gerötet. Offenbar war sie gerannt.
«Schwester, was ist geschehen?»
Athelswiths Augen waren schreckgeweitet. Sie erbleichte, und es dauerte eine Weile, bis sie endlich sprechen konnte.
«Der Erzbischof von Canterbury ... Er liegt tot in seinem cubiculum!»