176949.fb2 The Mysterious Mr Quin - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 10

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Der Vogel mit dem gebrochenen Flügel

Mr Sattersway blickte in den strömenden Regen hinaus und fröstelte. Er konnte sich auf kaum ein Landhaus besinnen, das ordentlich geheizt war, aber er tröstete sich mit dem Gedanken, dass er bereits in wenigen Stunden im Zug nach London sitzen würde. Wenn man die sechzig überschritten hatte, fühlte man sich in London am wohlsten.

In diesem Haus voller junger Menschen kam er sich alt und etwas verloren vor. Vier der jungen Leute waren gerade in die Bibliothek gegangen, um sich mit Tischrücken die Zeit zu vertreiben. Sie hatten ihn zum Mitmachen aufgefordert, aber er hatte abgelehnt. Er fand das eintönige Aufzählen des Alphabets und das Durcheinander von bedeutungslosen Worten, das gewöhnlich dabei herauskam, nicht gerade unterhaltend.

Ja, in London war er am besten aufgehoben! Wie gut, dass er sich von Madge Keeley nicht hatte überreden lassen, als sie vor einer halben Stunde angerufen und ihn nach Laidell eingeladen hatte. Gewiss, sie war eine reizende junge Person, aber London war für ihn doch am besten.

Während Mr Sattersway fröstelnd vor dem Fenster stand, fiel ihm der Kamin in der Bibliothek ein, in dem meist ein anständiges Feuer brannte. Er öffnete die Tür und tappte vorsichtig ins verdunkelte Zimmer.

»Wenn ich nicht störe…«

»Hieß das n oder m? Wir müssen noch einmal anfangen… Nein, natürlich stören Sie nicht, Mr Sattersway! Wissen Sie, es sind schon aufregende Dinge passiert. Der Geist nennt sich Ada Spiers und sagt, dass John bald eine gewisse Gladys Bun heiraten wird.«

Mr Sattersway machte es sich in einem großen Lehnstuhl vor dem Kamin bequem. Bald fielen ihm die Augen zu, und er döste ein. Hin und wieder erwachte er und fing einige Gesprächsfetzen auf.

»P-a-b-z-l… das kann nicht stimmen, außer es ist ein Russe. John, du hast geschummelt! Doch, das habe ich gesehen! Ich glaube, dies ist ein neuer Geist.«

Wieder nickte Mr Sattersway ein. Plötzlich fuhr er aus dem Schlaf hoch. Ein Name hatte ihn geweckt.

»Ist Quin richtig?«

»Ja! Er hat einmal für ›ja‹ geklopft.«

»Quin, wollen Sie jemandem hier etwas ausrichten? Ist es etwas für mich? Für John? Für Sarah? Für Evelyn? Nein… Aber sonst ist keiner hier… Ach, haben Sie vielleicht eine Nachricht für Mr Sattersway?… Er sagt ›ja‹! Mr Sattersway, da ist eine Nachricht für Sie.«

»Was sagt er denn?«

Mr Sattersway war nun hellwach und hatte sich gespannt und erwartungsvoll in seinem Stuhl aufgerichtet.

Der Tisch wackelte, und eins der Mädchen begann mitzuzählen. »Lai… das ist doch Unsinn. Kein Wort fängt mit Lai an.«

»Weiter«, sagte Mr Sattersway so eindringlich, dass sie ohne zu fragen fortfuhren.

»Laidel… und noch ein l. Das scheint alles zu sein.«

»Weiter!«

»Würden Sie bitte weitersprechen?«

Eine Pause trat ein.

»Mehr hat er anscheinend nicht zu sagen, der Tisch rührt sich nicht. Zu dumm!«

»Nein«, sagte Mr Sattersway nachdenklich. »Für dumm halte ich das nicht.«

Er erhob sich, verließ das Zimmer, schritt geradewegs auf das Telefon zu und ließ sich mit Laidell verbinden.

»Kann ich Miss Keeley sprechen? Madge, sind Sie es, mein Kind? Ich muss nun doch nicht so dringend nach London zurück, wie ich dachte. Darf ich Ihre liebe Einladung noch annehmen und zu Ihnen kommen? Ja, schön… Dann bin ich kurz vor dem Abendessen da.« Seine welken Wangen waren sonderbar gerötet, als er auflegte. Mr Quin, der mysteriöse Mr Harley Quin! Mr Sattersway zählte an den Fingern ab, wie oft er mit diesem unergründlichen Mann in Berührung gekommen war. Überall, wo er auftauchte, passierte etwas. Was war in Laidell geschehen? Oder würde es erst noch geschehen?

Was es auch sein mochte, Mr Sattersway war überzeugt, dass er in Laidell gebraucht wurde.

Laidell war ein großes Haus. David Keeley, der Besitzer, gehörte zu jenen stillen, unscheinbaren Menschen, denen man meist nicht mehr Beachtung schenkte als einem Möbelstück. Jedoch stand seine Unauffälligkeit in keinem Verhältnis zu seinem Verstand. David Keeley war ein hervorragender Mathematiker und hatte ein Buch verfasst, das dem größten Teil der Menschheit immer unverständlich bleiben würde. Aber wie so vielen eminent begabten Menschen fehlte es ihm an der körperlichen und geistigen Ausstrahlung, die eine Persönlichkeit ausmachte. In seinem Bekanntenkreis nannte man ihn scherzhaft »den Unsichtbaren«. Diener übergingen ihn beim Servieren, und Gäste unter seinem eigenen Dach vergaßen ab und zu, ihn zu begrüßen oder sich von ihm zu verabschieden.

Madge, seine Tochter, war ganz anders geartet. Sie war ein prachtvoller junger Mensch, eine lebensprühende, tatkräftige Persönlichkeit; gesund an Leib und Seele und auffallend hübsch dazu.

Sie begrüßte Mr Sattersway herzlich. »Wie schön, dass Sie doch noch kommen konnten!«

»Es war sehr freundlich von Ihnen, mir meine Meinungsänderung nicht übel zu nehmen. Wie gut Sie aussehen, Madge!«

»Ach, das tue ich immer!«

»Ich weiß, und das meinte ich eigentlich auch nicht. Blühend sehen Sie aus; ja, das wollte ich sagen. Ist irgendetwas geschehen, mein Kind? Irgendetwas – hm – Besonderes?«

Sie lachte und errötete ein wenig. »Es ist wirklich schlimm mit Ihnen, Mr Sattersway. Immer erraten Sie alles!«

Er ergriff ihre Hand. »Aha! Er, der Herrlichste von allen, hat sich eingefunden!« Das klang etwas steif und altmodisch, aber Madge nahm keinen Anstoß daran. Sie fand seine altmodische Art liebenswert.

»Ja, es stimmt. Nur sollte es eigentlich noch niemand wissen. Dass Sie das Geheimnis erraten haben, macht aber nichts, Mr Sattersway. Sie sind immer so nett und verständnisvoll.«

Mr Sattersway nahm regen Anteil an den Romanzen anderer Menschen. Er war sentimental und altmodisch. »Ich darf wohl nicht fragen, wer der Glückliche ist? Nun, dann kann ich nur hoffen, dass er der Ehre, die Sie ihm erweisen, würdig ist.«

Er ist ein Schatz, der alte Mr Sattersway, dachte Madge. »Oh«, sagte sie, »ich glaube, wir werden uns fabelhaft verstehen. Wir haben so vieles gemeinsam und teilen die gleichen Interessen; das ist furchtbar wichtig, nicht wahr? Außerdem kennen wir uns schon so lange und wissen alles übereinander. Man kann ein schönes, sicheres Gefühl haben, wenn es so ist, finden Sie nicht?«

»Ohne Frage«, antwortete Mr Sattersway. »Obgleich ich nicht glaube, dass man alles über einen anderen Menschen wissen kann. Gerade das macht das Leben so abwechslungsreich und interessant.«

»Ich lasse es jedenfalls darauf ankommen«, meinte Madge lachend, während sie die Treppe hinaufgingen, um sich vor dem Essen umzukleiden.

Mr Sattersway verspätete sich, weil er seinen Diener nicht mitgebracht hatte. Er geriet immer etwas aus der Ruhe, wenn ein Fremder seine Koffer auspackte. Als er herunterkam, war die Tischgesellschaft bereits versammelt, und Madge sagte unverblümt, wie es unter jungen Menschen üblich geworden war: »Oh, da ist ja auch Mr Sattersway. Gehen wir hinein, ich bin schon am Verhungern!«

Sie schritt mit einer grauhaarigen Dame voran, einer auffallenden Erscheinung mit regelmäßigen schönen Zügen und klarer, etwas scharfer Stimme.

»Guten Abend, Sattersway«, sagte Mr Keeley.

Mr Sattersway schrak zusammen. »Guten Abend«, antwortete er. »Verzeihen Sie, ich hatte Sie nicht gesehen.«

»Das tut niemand«, bemerkte Mr Keeley trübe.

Sie betraten das Esszimmer. Am breiten Mahagonioval des Tisches fand Mr Sattersway seinen Platz zwischen seiner jungen Gastgeberin und einem brünetten, etwas zu klein geratenen Mädchen, dessen burschikose laute Stimme und nur auf Wirkung bedachtes, klingendes Lachen ihn unangenehm berührten. Sie schien Doris zu heißen und gehörte zu dem Typ junger Mädchen, der ihm am wenigsten lag. Madges Tischnachbar war ein etwa dreißigjähriger Mann, dessen Ähnlichkeit mit der grauhaarigen Dame die beiden als Mutter und Sohn auswies.

Neben ihm…

Mr Sattersway hielt den Atem an. Er konnte nicht genau sagen, was es war. Schönheit war es nicht. Es war viel ungreifbarer, unbestimmbarer als bloße Schönheit.

Die Frau hörte Mr Keeleys etwas schwerfälligen Ausführungen zu und hielt den Kopf dabei leicht zur Seite geneigt. Sie war da und war es doch nicht! Irgendwie schien sie aus einer leichteren Substanz gemacht zu sein als alle anderen Mitglieder der Tafelrunde. Etwas an der Haltung ihres Körpers war schön, mehr als schön. Sie sah auf und blickte Mr Sattersway eine Sekunde lang in die Augen. Plötzlich fiel ihm das Wort ein, nach dem er gesucht hatte.

Betörend – das war es! Sie war betörend! Sie hätte ein Fabelwesen sein können, eine Fee aus einem Zauberberg. Neben ihr schienen die anderen nur allzu wirklich.

Trotzdem erregte sie auf sonderbare Weise sein Mitgefühl, als sei sie behindert durch die ihr fehlende Realität. Er suchte nach einem Vergleich, der ihr gerecht würde, und fand einen: Sie war wie ein Vogel mit einem gebrochenen Flügel.

Befriedigt wandte er seine Aufmerksamkeit wieder der Unterhaltung mit Doris über Mädchenpfadfinder zu und hoffte, dass sie seine Geistesabwesenheit nicht bemerkt hatte. Als sie ein Gespräch mit ihrem anderen Tischnachbarn anfing, einem Mann, den Mr Sattersway kaum wahrgenommen hatte, wandte er sich an Madge.

»Wer ist die Dame neben Ihrem Vater?«, fragte er leise.

»Mrs Graham? Ach, nein, Sie meinen Mabelle. Kennen Sie sie nicht? Mabelle Annesley, eine geborene Clydesley, eine aus dem unglücklichen Zweig der Familie.«

Er erschrak. Ja, er erinnerte sich an die unglücklichen Clydesleys. Ein Bruder hatte sich erschossen, eine Schwester war ertrunken, und eine andere war bei einem Erdbeben umgekommen. Eine vom Unheil verfolgte Familie. Diese Frau musste die jüngste von ihnen sein.

Plötzlich riss Madge ihn aus seiner Grübelei. Während die Gespräche rundum weiterplätscherten, berührte sie seine Hand unter dem Tisch und machte eine fast unmerkliche Kopfbewegung nach links.

»Das ist er«, sagte sie.

Mr Sattersway nickte kurz zum Zeichen, dass er verstanden hatte. Also hatte sie sich den jungen Graham ausgesucht. Nun, dem ersten Eindruck nach – und Mr Sattersway war ein kluger Beobachter – hätte sie gar keine bessere Wahl treffen können. Ein angenehmer junger Mann, der mit beiden Beinen im Leben stand. Sie würden ein feines Paar abgeben: anständige, fröhliche junge Menschen, ohne Flausen im Kopf.

Nach dem Essen verließen die Damen den Raum, denn in Laidell hielt man noch an althergebrachten Formen fest. Mr Sattersway rückte zu Graham auf und versuchte, ihn ins Gespräch zu ziehen. Im Großen und Ganzen fand er seinen ersten Eindruck bestätigt, trotzdem schien etwas nicht recht mit dem Bild übereinzustimmen, das er sich von dem jungen Mann gemacht hatte. Roger Graham wirkte fahrig und zerstreut, und seine Hand zitterte, als er sein Glas absetzte.

Irgendwo drückt ihn der Schuh, dachte Mr Sattersway. Sicher ist alles nur halb so schlimm, wie er glaubt, aber dennoch wüsste ich gern, was ihn so beschäftigt.

Mr Sattersway pflegte nach den Mahlzeiten zwei Verdauungstabletten einzunehmen, hatte aber vergessen, sie mit herunterzubringen und musste sie aus seinem Schlafzimmer holen. Wieder im unteren Stock angekommen, ging er durch einen langen Flur auf das Wohnzimmer zu und kam dabei auf halbem Wege an einem Raum vorbei, der das Terrassenzimmer hieß. Er warf einen Blick durch die offene Tür und blieb stehen.

Das Mondlicht strömte durch die in kleine Rechtecke unterteilten Fensterscheiben und warf ein sonderbar regelmäßiges Muster auf den Fußboden. Auf der niedrigen Fensterbank saß eine leicht zur Seite geneigte Gestalt und zupfte sacht die Saiten einer Ukulele, nicht in einem Jazzrhythmus, sondern in einem uralten Takt – wie das Trappeln von Zirkuspferden, dachte Mr Sattersway.

Er blickte gebannt zu ihr hinüber. Ihr Kleid aus blauem Chiffon mutete ihn mit seinen Rüschen und Falten wie das Gefieder eines Vogels an. Sie saß über ihr Instrument gebeugt und sang mit verhaltener Stimme.

Langsam, Schritt für Schritt, ging er auf sie zu. Als sie aufblickte, war er schon beinahe an ihrer Seite, aber sie schien nicht überrascht oder erschrocken.

»Hoffentlich störe ich nicht«, sagte er.

»Setzen Sie sich doch, bitte!«

Er ließ sich auf einem polierten Eichenstuhl in ihrer Nähe nieder, und sie summte wieder leise vor sich hin.

»Heute Abend ist alles wie verzaubert«, sagte sie nach einer Weile. »Finden Sie nicht?«

Ja, es war ein seltsamer Abend.

»Die anderen haben mich gebeten, meine Ukulele zu holen«, erläuterte sie. »Aber als ich hier vorbeikam, wollte ich zuerst noch ein wenig allein sein, ganz für mich, in der Dunkelheit beim Mondschein.«

»Dann sollte ich…« Mr Sattersway hatte sich schon halb erhoben, aber sie hielt ihn zurück.

»Nein, gehen Sie nicht. Sie stören mich nicht, wirklich nicht! Eigenartig, aber Sie gehören irgendwie dazu.«

Er setzte sich wieder.

»Heute Nachmittag hatte ich auch schon ein merkwürdiges Erlebnis«, sagte sie. »Ich ging noch etwas im Wald spazieren und sah plötzlich einen Mann zwischen den Bäumen – einen großen, dunklen Mann. Einen solchen Menschen habe ich noch nie gesehen. So stellt man sich verlorene Seelen vor. Die Sonne ging gerade unter, und in diesem Licht – wie er da zwischen den Bäumen umherwanderte –, kam er mir wie eine Art Harlekin vor.«

»Ach«, sagte Mr Sattersway und beugte sich gespannt vor.

»Ich wollte ihn ansprechen, er sah einem meiner Bekannten sehr ähnlich, aber dann war er auf einmal im Dickicht verschwunden.«

»Ich glaube, ich kenne ihn«, sagte Mr Sattersway.

»So? Eininteressanter Mensch, nicht wahr?«

»Ja, das ist er.«

Eine Weile saßen sie stumm beieinander. Mr Sattersway überlegte, was er nun tun sollte. Das Erlebnis des Mädchens schien ein deutlicher Fingerzeig, dass er handeln sollte, und seine Aufgabe hatte sicher etwas mit diesem Mädchen zu tun – aber was? »Manchmal, wenn man unglücklich ist, möchte man allein sein«, sagte er tastend.

»Ja, das ist schon wahr.« Dann begriff sie: »Ach so, Sie meinen mich? Nein, bei mir ist es genau umgekehrt. Ich wollte allein sein, weil ich glücklich bin.«

»Glücklich?«

»Schrecklich glücklich!«

Obwohl sie es leise gesagt hatte, zuckte Mr Sattersway beim Ton ihrer Stimme unwillkürlich zusammen. Was dieses sonderbare Mädchen unter Glücklichsein verstand, war offenbar ein ganz anderes Gefühl, als jenes, das Madge Keeley mit demselben Wort bezeichnet hätte. Für Mabelle Annesley bedeutete Glück eine verzehrende, ungezügelte Ekstase – etwas, das über das menschliche Maß hinausging.

»Das – das wusste ich nicht«, sagte er linkisch.

»Nein, wie sollten Sie auch. Und – wirklich glücklich bin ich noch nicht. Ich weiß nur, dass ich glücklich sein werde – bald.« Sie beugte sich vor. »Ich weiß nicht, ob Sie das Gefühl kennen. Es ist, wie wenn man mitten in einem Wald umherirrt – einem großen, dichten Wald voll dunkler Schatten, und man weiß nicht, ob man je wieder hinausfindet –, und dann, ganz plötzlich, lichten sich die Bäume, und man sieht das Land seiner Träume vor sich, leuchtend und schön. Man muss nur noch ein paar Schritte tun, und man ist da.«

»So vieles sieht von Weitem schön aus«, sagte Mr Sattersway. »Manche der grauenvollsten Dinge auf der Welt scheinen uns zunächst am schönsten.«

Schritte näherten sich, und Mr Sattersway wandte sich um. Ein blonder, dumm – fast stumpf – aussehender Mann stand im Türrahmen. Es war der Mann, den er bei Tisch kaum beachtet hatte; offenbar ihr Ehemann.

»Sie warten schon alle, Mabelle«, sagte er.

Bei seinem Eintritt war alle Bewegtheit auf ihrem Gesicht erloschen. »Ich komme schon, Gerard«, sagte sie ernüchternd und unbeteiligt. »Ich habe mich noch etwas mit Mr Sattersway unterhalten.«

Mr Sattersway, der ihr durch die Tür folgte, warf im Vorbeigehen einen schnellen Blick auf den Mann hinter ihm und war betroffen über den hungrigen, gepeinigten Ausdruck auf seinem Gesicht. Armer Kerl, dachte er, den hat sie auch in ihren Bann gezogen, armer Kerl!

Das Wohnzimmer war hell erleuchtet. Madge und Doris machten ihrer Ungeduld Luft: »Mabelle, du kleines Scheusal – du bist eine Ewigkeit weg gewesen!«

Sie setzte sich auf einen niedrigen Hocker, stimmte ihr Instrument und begann zu singen. Die anderen fielen ein. Unglaublich, welche Unmenge schwachsinniger Liebeslieder geschrieben worden ist, dachte Mr Sattersway. Aber die rhythmischen, klagenden Melodien waren ergreifend, das musste er zugeben, wenn sie auch an einen schönen alten Walzer nicht entfernt heranreichten.

Die Luft war bereits rauchgeschwängert, und immer noch tönten die Lieder durchs Zimmer.

Keine Unterhaltung, dachte Mr Sattersway, keine gute Musik, keine Ruhe. Wenn doch die Menschen heutzutage nicht immer so grässlich laut sein würden!

Plötzlich brach Mabelle Annesley ab, lächelte ihm über die anderen hinweg zu und stimmte ein Lied von Grieg an:

»Mein Schwan – mein schöner…«

Es war eins seiner Lieblingslieder. Die Note kindlicher Überraschung am Ende gefiel ihm besonders:

»Warst nur ein Schwan denn? Ein Schwan denn?«

Der Abend näherte sich seinem Ende. Madge bot noch Getränke an, während ihr Vater die Ukulele nahm und geistesabwesend über die Saiten strich. Man wünschte sich hier und da gute Nacht und näherte sich unter letzten Gesprächen der Tür; alle redeten durcheinander. Nur Gerard Annesley schlüpfte den anderen voran unauffällig die Treppe hinauf.

Mr Sattersway wünschte Mr Graham auf dem Gang vor dem Wohnzimmer förmlich eine gute Nacht. Es gab zwei Treppen zum oberen Stock; eine in der Nähe, die andere am Ende des langen Korridors. Die letzte führte zu Mr Sattersways Zimmer hinauf, während Mrs Graham und ihr Sohn die erste Treppe benutzten, die vor ihnen bereits der stille Annesley hinaufgestiegen war.

»Nimm deine Ukulele lieber mit, Mabelle«, sagte Madge, »sonst vergisst du sie morgen noch, wo ihr so früh aufbrechen müsst.«

»Los, Mr Sattersway«, rief Doris ausgelassen und packte ihn am Arm. »Wer früh zu Bett geht, findet morgens eher aus den Federn!«

Madge hängte sich an seinen anderen Arm, und sie liefen begleitet von Doris’ lautem Lachen den Gang hinunter. Am Fuß der Treppe blieben sie stehen und warteten auf Mr Keeley, der in sehr viel gesetzterem Tempo folgte und im Gehen die Lampen ausschaltete. Zu viert stiegen sie die Treppe hinauf.

Am folgenden Morgen, als Mr Sattersway gerade zum Frühstück hinunter ins Esszimmer gehen wollte, hörte er ein zaghaftes Klopfen an seiner Tür, und Madge Keeley trat ein. Sie war totenblass und zitterte am ganzen Körper.

»Oh, Mr Sattersway!«

»Liebes Kind, was ist?« Er ergriff ihre Hand.

»Mabelle – Mabelle Annesley…«

Etwas Entsetzliches musste geschehen sein. Madge konnte es kaum aussprechen.

»Sie… sie hat sich erhängt – letzte Nacht. An ihrer Tür. Oh, es ist zu furchtbar!« Sie brach ab und schluchzte auf.

Sie hatte sich erhängt! Unmöglich! Unbegreiflich!

Er versuchte, Madge mit einigen sanften altväterlichen Worten etwas zu beruhigen, dann eilte er die Treppe hinunter. David Keeley stand benommen und untätig in der Eingangshalle.

»Ich habe die Polizei angerufen, Sattersway«, sagte er. »Das müsste man, hat der Arzt gesagt. Er ist gerade mit der Untersuchung der… der… o Gott, was für eine abscheuliche Geschichte! Sie muss entsetzlich unglücklich gewesen sein… es auf diese Weise zu tun. Eigenartig, das Lied gestern Abend. Schwan – Schwanengesang, wie? Sie sah auch aus wie ein Schwan – ein schwarzer Schwan.«

Ja.

»Schwanengesang«, wiederholte Keeley. »Sie muss es geplant haben, nicht wahr?«

»Man könnte es glauben; ja, gewiss, das könnte man denken.«

Er zögerte etwas und fragte dann, ob er die… falls es möglich wäre…

Sein Gastgeber verstand die gestammelte Frage. »Wenn Sie wollen? Ach ja, Sie haben ja eine Vorliebe für menschliche Tragödien.«

Er führte ihn die breite Treppe hinauf. Roger Graham bewohnte das dem oberen Treppenabsatz zunächst liegende Zimmer, und gegenüber, auf der anderen Seite des Korridors, lag das Zimmer seiner Mutter. Durch die Tür dieses Zimmers, die angelehnt stand, kräuselte sich ein feiner Rauchfaden.

Mr Sattersway war einen Augenblick verdutzt. Er hatte Mrs Graham nicht für eine Frau gehalten, die schon so früh am Tag rauchte. Er hatte vielmehr den Eindruck gehabt, dass sie überhaupt nicht rauchte.

Sie gingen den Flur entlang und blieben vor der vorletzten Tür stehen. David Keeley trat ein, und Mr Sattersway folgte ihm.

Das Zimmer war nicht sehr groß. Offenbar hatte ein Mann hier übernachtet; männliche Kleidungsstücke lagen herum. Eine Verbindungstür führte in ein zweites Zimmer. Ein Seilende baumelte noch vom Haken an der hohen Tür. Auf dem Bett…

Mr Sattersway blickte auf den wirren Haufen Chiffon hinab, der mehr denn je an das zerzauste Gefieder eines Vogels erinnerte. Nach einem flüchtigen Blick auf das Gesicht vermied er es, es noch einmal anzusehen.

Er musterte die Tür mit dem herabhängenden Seilende, durch die sie eingetreten waren. »Stand sie offen?«

»Ja. Das Zimmermädchen behauptet es wenigstens.«

»Und Annesley hat im Nebenzimmer geschlafen? Hat er denn nichts gehört?«

»Nein, nichts, sagt er.«

»Beinahe unglaublich«, murmelte Mr Sattersway. Er blickte zurück auf die leblose Gestalt auf dem Bett.

»Wo ist er?«

»Wer? Annesley? Unten beim Arzt.«

Sie stiegen ins Erdgeschoss hinunter. Inzwischen war ein Polizeiinspektor eingetroffen, und Mr Sattersway begrüßte ihn angenehm überrascht als einen alten Bekannten, Inspektor Winkfield. Der Inspektor begab sich mit dem Arzt in den oberen Stock und ließ wenig später alle Mitglieder der Hausgesellschaft bitten, sich im Wohnzimmer zu versammeln.

Die Jalousien waren herabgelassen, und das ganze Zimmer wirkte begräbnishaft. Doris sah verängstigt und bedrückt aus. Ab und zu führte sie ihr Taschentuch an die Augen. Madge hatte sich wieder ganz in der Gewalt und blickte sich wachsam und energisch um. Mrs Graham saß gefasst, wie zu erwarten war, mit ernstem, unbewegtem Gesicht auf einem Stuhl. Ihr Sohn schien von der Tragödie am schwersten betroffen zu sein und wirkte an diesem Morgen völlig aufgelöst. David Keeley hielt sich wie üblich im Hintergrund.

Der unglückliche Ehemann saß etwas abseits von den anderen mit benommenem Ausdruck da, als hätte er das Geschehen noch nicht erfasst.

Mr Sattersway unterdrückte seine innere Erregung. Er wirkte äußerlich beherrscht. Nun würde er sich bald einer wichtigen Aufgabe entledigen müssen.

Inspektor Winkfield war mit Dr. Morris eingetreten, hatte die Tür hinter sich geschlossen und räusperte sich. »Dies ist ein trauriges Ereignis – ein sehr trauriges Ereignis«, begann er. »Unter den gegebenen Umständen muss ich Ihnen einige Fragen stellen und hoffe auf Ihr Verständnis. Ich möchte mit Mr Annesley anfangen.

Sie werden entschuldigen, Sir, wenn ich Sie frage, aber hat Ihre Gattin je Selbstmordabsichten geäußert?«

Mr Sattersway öffnete impulsiv den Mund, schloss ihn aber wieder. Er wollte nicht voreilig sein: Was er sagen musste, hatte Zeit.

»Ich… nein, ich glaube nicht.«

Annesleys Stimme klang so sonderbar, so unsicher, dass ihn alle verstohlen musterten.

»Sie wissen es nicht genau, Sir?«

»Doch, ich bin ganz sicher.«

»Hm… wussten Sie, dass Ihre Frau – hm – unglücklich war?«

»Nein… nein, auch das wusste ich nicht.«

»Sie hat Ihnen also nie gesagt, dass sie, zum Beispiel, deprimiert war?«

»Ich… nein, nichts.«

Der Inspektor mochte seine Schlüsse aus Annesleys Antworten ziehen, aber er behielt sie für sich und ging zum nächsten Punkt über. »Würden Sie mir kurz den gestrigen Abend schildern?«

»Wir… gingen alle nach oben zu Bett. Ich schlief sofort ein und habe nichts gehört. Ich wachte heute Früh vom Schrei des Zimmermädchens auf und lief nach nebenan. Da sah ich, wie meine Frau… wie sie…«

»Ja, das genügt. Wir brauchen das nicht weiterzuverfolgen: Wann haben Sie gestern Abend Ihre Frau zuletzt gesehen?«

»Ich… unten.«

»Unten?«

»Ja. Wir sind alle zusammen aus dem Wohnzimmer gekommen, und ich bin gleich nach oben gegangen. Die anderen haben sich noch auf dem Flur unterhalten.«

»Und Sie haben sie danach nicht mehr gesehen? Haben Sie ihr denn nicht Gute Nacht gewünscht, als sie nach oben kam?«

»Da schlief ich schon.«

»Aber sie ist doch nur ein paar Minuten nach Ihnen zu Bett gegangen, nicht wahr, Sir?«, fragte er, zu David Keeley gewandt.

Keeley nickte.

»Sie war nach einer halben Stunde noch nicht oben«, beharrte Annesley störrisch.

Der Inspektor ließ seinen Blick langsam zu Mrs Graham hinüberschweifen. »Hat sie sich vielleicht noch eine Weile in Ihrem Zimmer mit Ihnen unterhalten, Madam?«

Täuschte sich Mr Sattersway, oder zögerte Mrs Graham wirklich einen Augenblick, bevor sie antwortete? Aber sie sprach ruhig und bestimmt. »Nein, ich bin direkt auf mein Zimmer gegangen und habe die Tür geschlossen. Gehört habe ich nichts.«

»Und Sie behaupten, Sir, Sie hätten geschlafen und nichts gemerkt? Die Verbindungstür stand doch offen.«

»Ich… ich glaube, ja«, antwortete Annesley. »Aber meine Frau hätte ohnehin die andere Tür vom Korridor aus benutzt.«

»Trotzdem: Es muss gewisse Geräusche gegeben haben. Erstickungslaute, Hämmern der Fersen gegen die Tür…«

»Nein!«, unterbrach Sattersway heftig. Er konnte nicht mehr an sich halten. Unter den verblüfften Blicken der Anwesenden wurde er nervös, errötete und stotterte: »Ich… ich bitte um Entschuldigung, Inspektor. Aber ich kann nicht länger schweigen. Sie sind auf dem Holzweg, völlig auf dem Holzweg! Mrs Annesley hat sich nicht das Leben genommen. Sie ist ermordet worden: Davon bin ich fest überzeugt!«

Totenstille trat ein. Schließlich fragte Inspektor Winkfield ruhig: »Was führt Sie zu dieser Annahme?«

»Ich… es ist ein Gefühl. Ein sehr starkes Gefühl.«

»Aber, Sir, dieses Gefühl, wie Sie sagen, kann doch nicht alles sein. Sie müssen einen bestimmten Grund für Ihre Behauptung haben.« Allerdings hatte er einen bestimmten Grund: Mr Quins geheimnisvolle Nachricht. Aber damit konnte man einem Polizeiinspektor kaum kommen. Mr Sattersway überlegte krampfhaft, wie er sich herausreden sollte. Schließlich fiel ihm etwas ein.

»Als ich mich gestern Abend mit ihr unterhielt, sagte sie, sie sei sehr glücklich. Ganz einfach: sehr glücklich. Eine Frau, die das sagt, nimmt sich nicht kurz darauf das Leben.« Und triumphierend fügte er hinzu: »Sie kehrte noch ins Wohnzimmer zurück und holte ihre Ukulele, um sie bei der Abreise heute Vormittag nicht zu vergessen. Sieht das etwa nach Selbstmord aus?«

»Nein«, gab der Inspektor zu. »Nein, eigentlich nicht.« Er wandte sich an David Keeley: »Hat sie die Ukulele mit hinaufgenommen?«

Der Hausherr dachte nach. »Doch. Als sie die Treppe hochging, hatte sie sie in der Hand. Ich entsinne mich, dass ich die Ukulele sah, als sie auf der Treppe um die Ecke bog, bevor ich das Licht hier unten ausschaltete.«

»Oh, aber jetzt liegt sie hier«, rief Madge und deutete mit dramatisch ausgestrecktem Arm auf einen Tisch.

»Merkwürdig«, sagte der Inspektor, durchquerte das Zimmer und drückte auf den Bedienungsknopf.

Der Butler erschien, bekam eine kurze Anweisung und machte sich auf die Suche nach dem Mädchen, das morgens die Zimmer aufräumte. Als sie erschien, sagte sie ohne Umschweife aus, das Instrument habe am frühen Morgen, als sie zum Staubwischen ins Zimmer gekommen sei, bereits auf dem Tisch gelegen.

Inspektor Winkfield entließ das Mädchen und bat danach ziemlich kurz angebunden auch die anderen, den Raum zu verlassen. Er wolle Mr Sattersway einige vertrauliche Fragen stellen. Niemand dürfe sich jedoch aus dem Haus entfernen.

»Ich… ich bin sicher. Inspektor, dass Sie die Untersuchung ausgezeichnet führen. Ausgezeichnet!«, sagte Mr Sattersway hastig, sobald sich die Tür hinter den anderen geschlossen hatte. »Ich dachte nur, weil ich, wie ich schon sagte, dieses starke Gefühl hatte…«

Der Inspektor brachte ihn mit erhobener Hand zum Schweigen. »Sie hatten völlig Recht, Mr Sattersway. Die Dame ist ermordet worden.«

»Sie wussten es also schon?«, fragte Mr Sattersway gekränkt.

»Gewisse Dinge gaben Dr. Morris zu denken.« Er blickte den Arzt an, der geblieben war und seine Aussage mit einem Kopfnicken bestätigte. »Wir haben alles gründlich unter die Lupe genommen und herausgefunden, dass die Frau sich nicht mit dem Strick, den sie um den Hals hatte, erhängte. Sie ist erwürgt worden, mit etwas viel Dünnerem als mit dem Strick. Vielleicht war es ein Stück Draht oder etwas Ähnliches. Unter dem Abdruck des Strickes fanden wir tiefe Einschnitte in der Haut. Der Mörder hat sie erwürgt und dann an die Tür ihres Zimmers gehängt, um Selbstmord vorzutäuschen.«

»Aber wer …?«

»Ja«, stimmte der Inspektor zu. »Wer, das ist die Frage! Was halten Sie vom Ehemann? Er schlief nebenan, er wünschte seiner Frau nicht Gute Nacht und hat angeblich nichts gehört? Wir brauchen wohl nicht lange zu suchen, nehme ich an. Wir müssen nur noch herausfinden, wie die beiden zueinanderstanden, und dabei könnten Sie uns helfen, Mr Sattersway. Sie sind hier sozusagen Kind im Hause und können sich besser umhören als wir. Stellen Sie fest, ob zwischen den beiden alles in Ordnung war.«

Mr Sattersway wurde förmlich. »Es gehört nicht zu meinen Gewohnheiten, meine Bekannten…«

»Es wäre nicht das erste Mal, dass Sie uns bei einem Mordfall helfen«, unterbrach ihn der Inspektor. »Ich erinnere mich noch an den Fall von Mrs Strangeways. Sie haben Talent zu so etwas, natürliche Begabung!«

Ja, er hatte diese Begabung. »Ich werde mein Bestes tun, Inspektor«, sagte er leise.

Hatte Gerard Annesley seine Frau getötet? Hatte er das? Mr Sattersway rief sich sein gequältes Gesicht, das ihn am Abend so betroffen hatte, ins Gedächtnis zurück. Er hatte sie geliebt und an seiner Liebe gelitten. Kummer trieb manche Menschen zu den merkwürdigsten Handlungen.

Aber das war nicht alles. Es gab noch einen weiteren Punkt. Mabelle hatte gesagt, sie hätte das Gefühl, als fände sie aus einem dunklen Wald heraus und erwartete, glücklich zu werden. Aber nicht auf eine vernünftige, verständliche Weise. Glück bedeutete für sie etwas Irrationales, eine wilde Ekstase.

Falls Gerard Annesley die Wahrheit gesagt hatte, dann war Mabelle mindestens eine halbe Stunde später als er nach oben gegangen. Und doch hatte David Keeley sie auf der Treppe gesehen. In dem Flügel gab es noch zwei weitere Gastzimmer: Mrs Grahams Zimmer und das ihres Sohnes.

Ihres Sohnes. Aber er und Madge…

Madge hätte so etwas sicher gespürt – oder doch nicht? Madge war nicht besonders einfühlsam. Trotzdem: kein Rauch ohne Feuer…

Rauch!

Ja, er besann sich: ein dünner Rauchfaden… aus Mrs Grahams Tür. Impulsiv stand er auf und eilte die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Es war leer. Er zog die Tür hinter sich zu und schloss ab.

Er ging direkt zum Kamin, in dem Reste eines verkohlten Etwas lagen. Vorsichtig befühlte er es mit einem Finger. Es war ein Papierbündel – ein Stoß Briefe. Er hatte Glück: In der Mitte war nicht alles verbrannt.

Die leserlichen Fetzen waren unzusammenhängend, aber sie brachten ihn ein Stück weiter. Er entzifferte:

»Das Leben kann so wunderbar sein, Roger, mein Liebling! Ich habe bis jetzt nicht gewusst… Mein ganzes Leben ist ein Traum gewesen, bis ich dich kennen lernte, Roger… Gerard weiß es, glaube ich… Es tut mir leid, aber ich kann nichts dafür. Außer dir, Roger, gibt es keine Wirklichkeit mehr für mich! Bald werden wir zusammen sein… Was wirst du ihm in Laidell sagen, Roger? Du schreibst so unverständlich… aber ich habe keine Angst…«

Mr Sattersway schob die angekohlten Stücke äußerst behutsam in einen Umschlag, den er vom Schreibtisch nahm. Er schloss die Tür auf, öffnete und stand Mrs Grahams gegenüber.

Die Peinlichkeit der Situation verschlug ihm im ersten Augenblick die Sprache, dann aber entschied er sich für die Wahrheit.

»Ich habe Ihr Zimmer durchsucht, Mrs Graham, und etwas gefunden: ein Bündel nicht vollständig verbrannter Briefe.«

Mrs Graham erschrak, hatte sich aber sofort wieder in der Gewalt.

»Briefe von Mrs Annesley an Ihren Sohn.«

Einen Augenblick zögerte sie, dann antwortete sie ruhig: »Ich hielt es für richtig, sie zu verbrennen.«

»Warum?«

»Mein Sohn ist verlobt. Falls diese Briefe jetzt nach dem Selbstmord der armen Frau an die Öffentlichkeit gelangt wären, hätten sie viel Kummer und Verwirrung anrichten können.«

»Ihr Sohn hätte seine Briefe doch selbst verbrennen können.«

Darauf wusste sie keine Antwort, und Mr Sattersway bohrte weiter. »Sie haben diese Briefe also im Zimmer Ihres Sohnes gefunden, sie an sich genommen und hier verbrannt. Weshalb? Sie hatten Angst, Mrs Graham!«

»Ich bin keine ängstliche Natur, Mr Sattersway.«

»Nein, aber dies war ein verzweifelter Fall.«

»Verzweifelt?«

»Es geht um Ihren Sohn. Man hätte ihn unter Mordverdacht verhaften können.«

»Mord?«

Er sah, wie sie erbleichte, und fuhr schnell fort: »Sie haben gehört, wie Mrs Annesley gestern Abend das Zimmer Ihres Sohnes betrat. Hatte er ihr schon gestanden, dass er verlobt war? Nein, offensichtlich nicht. Gestern Abend hat er es getan. Sie stritten sich, und er…«

»Das ist eine Lüge!«

Sie waren so in ihr Wortgefecht vertieft, dass sie Roger Grahams Schritte überhörten und ihn erst bemerkten, als er bei ihnen stand.

»Lass nur, Mutter. Kein Grund zur Sorge. Kommen Sie mit in mein Zimmer, Mr Sattersway.«

Mrs Graham wandte sich ab und versuchte nicht, ihnen zu folgen.

Als Roger Graham die Tür seines Zimmers geschlossen hatte, sagte er: »Glauben Sie wirklich, dass ich Mabelle ermordet habe? Meinen Sie, ich hätte sie hier erwürgt und dann später, als alle schliefen, in ihr Zimmer geschafft und an der Tür aufgehängt?«

Mr Sattersway starrte ihn an und sagte überraschend: »Nein, das glaube ich nicht.«

»Gott sei Dank! Wie hätte ich sie denn umbringen können? Ich liebte sie doch! Jedenfalls glaube ich, dass ich sie geliebt habe. Ich weiß es selbst nicht genau. Ich weiß nur, dass ich mein Gefühl nicht erklären kann. Ich habe Madge sehr gern, habe sie schon immer gern gehabt. Sie ist ein feiner Kerl, und wir passen so gut zusammen! Mit Mabelle war es anders. Schwer, es auszudrücken. Es war eine Art… Betörung. Ich glaube, ich hatte Angst vor ihr.«

Mr Sattersway nickte.

»Es war Wahnsinn, ein Rausch! Natürlich konnte nichts daraus werden. So etwas… hält nicht lange. Jetzt weiß ich, was es heißt, verhext zu sein.«

»Ja, das verstehe ich«, stimmte Mr Sattersway nachdenklich zu.

»Ich wollte… mich von ihr lösen, wollte es ihr sagen – gestern Abend.«

»Aber Sie haben es dann doch nicht getan?«

»Nein«, erwiderte Graham langsam. »Ich… ich schwöre Ihnen, Mr Sattersway: Nachdem ich ihr unten Gute Nacht gewünscht hatte, habe ich sie nicht wiedergesehen.«

»Ich glaube Ihnen«, sagte Mr Sattersway und erhob sich.

Roger Graham hatte Mabelle Annesley nicht ermordet. Er mochte vor ihr geflohen sein, aber er hätte sie nicht töten können. Angst hatte er gehabt; Angst vor ihrem wilden, verwirrenden Zauber. Er war aus seiner Betörung erwacht und hatte sich von ihr gelöst. Er hatte sich auf einen sicheren, vernünftigen, einen gangbaren Weg gerettet und dem Traum entsagt, der drohte, ihn ins Ungewisse zu fuhren.

Mr Sattersway ließ Graham in seinem Zimmer zurück und ging nach unten. Graham war also doch nur ein ganz normaler junger Mann und interessierte ihn deshalb nicht sonderlich. Mr Sattersway ließ sich nur vom Außergewöhnlichen der menschlichen Natur fesseln.

Das Wohnzimmer war leer. Die Ukulele lag auf einem Hocker am Fenster. Er nahm sie auf und zupfte selbstvergessen die Saiten. Er war mit dem Instrument nicht vertraut, hörte aber doch, dass es sehr verstimmt war, und drehte versuchsweise an einem Wirbel.

Doris trat ein und musterte ihn. »Das ist Mabelles Ukulele«, sagte sie vorwurfsvoll. »Die arme Mabelle!«

Doris’ Vorwurf reizte ihn. »Stimmen Sie sie für mich«, sagte er. »Wenn Sie etwas davon verstehen!«

»Natürlich«, entgegnete sie, verletzt beim Gedanken, jemand könnte ihre Beschlagenheit auf irgendeinem Gebiet anzweifeln.

Sie nahm ihm das Instrument ab, zupfte an einer Saite, drehte forsch an dem Wirbel, und die Saite riss.

»Nein, so was! Ach – nicht möglich! Das ist die falsche Saite, eine A-Saite, eine Nummer zu stark. Die musste natürlich beim Spannen kaputtgehen. So eine Dummheit!«

»Ja«, sagte Mr Sattersway. »So eine Dummheit. Auch Schlaue machen manchmal Dummheiten.«

Das klang so sonderbar, dass Doris ihn verblüfft anstarrte. Er nahm ihr die Ukulele aus der Hand; zog die gesprungene Saite und verließ damit das Zimmer. Er fand David Keeley in der Bibliothek.

»Da«, sagte er und hielt ihm die Saite hin.

»Was ist das?«, fragte Keeley.

»Die gesprungene Saite einer Ukulele.« Er holte tief Atem und fuhr fort: »Was haben Sie mit der anderen gemacht?«

»Mit welcher anderen?«

»Mit der Saite, mit der Sie sie erwürgt haben. Sie haben es schlau angefangen, nicht wahr? Es geschah sehr schnell – als wir anderen alle draußen auf dem Gang lachten und redeten. Mabelle ging zurück ins Wohnzimmer, um ihr Instrument zu holen. Sie hatten die Saite abgezogen, als Sie kurz zuvor mit der Ukulele herumhantierten, und als sie eintrat, haben Sie sie ihr um den Hals gelegt und sie erwürgt. Danach sind Sie zu uns herausgekommen und haben die Wohnzimmertür abgeschlossen. Später, mitten in der Nacht, haben Sie die Tote fortgeschafft und sie an der Tür ihres Zimmers aufgehängt. Und dann haben Sie eine neue Saite aufgezogen – aber die falsche. Nicht ganz so schlau, wie Sie meinten, Keeley.«

Keeley blieb stumm.

»Warum haben Sie es getan?«, fragte Mr Sattersway. »Warum, in Gottes Namen?«

Mr Keeley kicherte, ein seltsames kleines Kichern; Mr Sattersway musste gegen eine Welle der Übelkeit ankämpfen.

»Es war so furchtbar einfach«, sagte er. »Darum! Und außerdem… nie hat jemand meine Anwesenheit bemerkt! Nie hat jemand davon Notiz genommen, was ich tat! Ich wollte… ich wollte auch einmal zuletzt lachen.«

Wieder kicherte er und sah Mr Sattersway mit wirrem Blick an. Mr Sattersway war erleichtert, dass Inspektor Winkfield in diesem Augenblick eintraf.

Vierundzwanzig Stunden später erwachte Mr Sattersway in einem Eisenbahnabteil des Zuges nach London aus leichtem Schlummer und erblickte einen großen dunkelhaarigen Mann auf dem gegenüberliegenden Sitz. Er war nicht besonders überrascht.

»Mein lieber Mr Quin!«

»Ja, da bin ich.«

»Ich kann Ihnen kaum ins Gesicht sehen«, sagte Mr Sattersway beschämt. »Ich habe versagt.«

»Meinen Sie wirklich?«

»Ich habe sie nicht gerettet.«

»Aber Sie haben die Wahrheit entdeckt.«

»Ja, das stimmt. Einer der jungen Männer wäre vielleicht verhaftet und sogar schuldiggesprochen worden. So habe ich wenigstens einem Menschen das Leben gerettet. Aber die Frau, dieses eigenartige, zauberhafte Geschöpf…« Mr Sattersway konnte nicht weitersprechen.

Mr Quin musterte ihn.

»Ist der Tod das Schlimmste, was einem Menschen passieren kann?«

»Ich… vielleicht… nein!«

Mr Sattersway dachte zurück an Madge, an Roger Graham, an Mabelle, wie sie ihm im Mondlicht erschienen war, an den Ausdruck überirdischen Glücks auf ihrem Gesicht.

»Nein«, gab er zu. »Nein, vielleicht ist der Tod nicht das Schlimmste.«

Er sah ihr Kleid noch vor sich, den blauen Chiffon, der ihm wie das Gefieder eines Vogels erschienen war; eines Vogels mit einem gebrochenen Flügel.

Als er wieder aufblickte, war Mr Quin verschwunden. Aber er hatte etwas liegen lassen. Auf dem Sitz gegenüber lag eine roh behauene Figur aus mattblauem Stein. Ein Vogel. Als Kunstwerk hatte er vermutlich keinen großen Wert. Es war etwas anderes:

Eine unerklärliche Verzauberung ging von ihm aus.

Wenigstens fand Mr Sattersway das – und Mr Sattersway war ein Kenner.