176949.fb2 The Mysterious Mr Quin - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 11

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Der Mann im Meer

Mr Sattersway fühlte sich alt. Eigentlich hätte das niemanden zu erstaunen brauchen, denn nach Meinung vieler Leute war er auch alt. Junge Leute sagten zum Beispiel zu ihren Eltern: »Der alte Sattersway? Ach, der muss doch bald hundert sein – mindestens über achtzig.« Und selbst die reizendsten jungen Frauen erklärten kühl: »Ach, der Sattersway! Ja, er ist schon ziemlich alt. Sicherlich sechzig.« Was fast noch schlimmer war, denn er war neunundsechzig. Er selbst fand sich dagegen gar nicht alt. Neunundsechzig war ein interessantes Alter, das Alter der unbegrenzten Möglichkeiten, wo sich endlich die Erfahrungen eines ganzen Lebens bezahlt machten. Aber sich alt zu fühlen, das war etwas anderes, das war ein Zustand der Erschöpfung, der Entmutigung, wo man sich deprimierende Fragen zu stellen begann. Wer war er eigentlich? Ein kleiner, vertrockneter alter Mann, ohne Frau und Kinder, keine Angehörigen, nur mit einer wertvollen Kunstsammlung, die ihm im Augenblick seltsamerweise höchst unbefriedigend erschien. Es gab niemanden, den es interessierte, ob er lebte oder tot war…

An diesem Punkt seiner Grübeleien rief sich Mr Sattersway zur Ordnung. Solche Überlegungen waren morbide und brachten nichts ein. Wenn er eine Frau gehabt hätte, würde sie ihn vielleicht gehasst haben – oder er sie –, und Kinder bedeuteten Kummer und Sorgen; er hätte ihnen Zeit opfern und sich um sie kümmern müssen, was ihm äußerst unangenehm gewesen wäre.

Sicher und bequem zu leben, sagte sich Mr Sattersway energisch, das war das wichtigste.

Da fiel ihm der Brief ein, den er am Morgen erhalten hatte. Er nahm ihn aus der Tasche und las ihn voll Vergnügen noch einmal. Er stammte von einer Herzogin, und das allein schon freute Mr Sattersway. Zugegeben, der Brief begann mit der Bitte um eine Spende für wohltätige Zwecke. Das war auch der Grund, warum ihm die Herzogin überhaupt geschrieben hatte. Doch er war so charmant abgefasst, dass Mr Sattersway über diese Tatsache hinwegsah. So hieß es da unter anderem:

»Sie haben also die Riviera verlassen. Wie ist denn die Insel? Billig? Cannotti hat dieses Jahr seine Preise schrecklich erhöht, und ich kann nicht mehr an die Riviera fahren. Vielleicht versuche ich es nächstes Jahr einmal mit Ihrer Insel, wenn Sie zufrieden waren, obwohl ich die fünftägige Schiffsfahrt hasse. Trotzdem, wenn Sie etwas empfehlen, kann man sicher sein, dass es dort sehr angenehm ist, vielleicht sogar zu angenehm. Eines Tages werden Sie wie jene Leute, die nur an sich und ihre Bequemlichkeit denken. Allerdings dürfte Sie ein Umstand davor bewahren, Sattersway, und das ist Ihr ungewöhnliches Interesse am Leben anderer…«

Während Mr Sattersway den Brief faltete, sah er im Geist die Herzogin vor sich, mit all ihrer Gemeinheit, ihrer plötzlichen, gefährlichen Freundlichkeit, ihrer scharfen Zunge, ihrer unerschöpflichen Energie.

Energie! Ja, die brauchte jeder. Er holte noch einen Brief aus der Tasche, mit einer deutschen Marke auf dem Umschlag. Er stammte von einer jungen Sängerin, für die er sich interessierte. Es war ein herzlicher Dankesbrief.

»Wie kann ich Ihnen jemals danken, mein lieber Mr Sattersway? Unglaublich, dass ich in ein paar Tagen die Isolde singen werde…«

Ein Jammer, dass sie ihr Debüt als Isolde gab! Ein charmantes, hart arbeitendes Kind, diese Olga, mit einer schönen Stimme, doch ohne jedes Temperament. Mr Sattersway summte leise: »Ich befehle es. Ich, Isolde!« Nein, das Kind hatte nicht den rechten Geist für die Rolle, das Temperament, den unbezähmbaren Willen, alles das, was sich in diesem »Ich, Isolde!« ausdrückte.

Nun, jedenfalls hatte er für jemanden etwas getan. Diese Insel deprimierte ihn. Warum, ach, warum hatte er nur die Riviera verlassen, die er so gut kannte und wo man ihn so gut kannte? Hier interessierte sich kein Mensch für ihn. Keiner wusste offenbar, dass er der Mr Sattersway war, der Freund von Herzoginnen und Gräfinnen, von Sängern und Schriftstellern. Kein Mensch auf dieser Insel war gesellschaftlich oder künstlerisch von Bedeutung. Die meisten Leute lebten seit sieben, vierzehn oder einundzwanzig Jahren hier und schätzten sich und andere danach ein, wie lange sie schon hier wohnten.

Mit einem tiefen Seufzer machte sich Mr Sattersway zu dem kleinen Hafen auf, der unterhalb des Hotels lag. Die Straße führte an prachtvollen Bougainvillea-Klettersträuchern vorbei, eine Masse von prunkvollem Scharlachrot, bei dessen Anblick er sich noch älter und grauer vorkam.

»Ich werde wirklich alt«, murmelte er. »Alt und müde.«

Er war froh, als er die mit Bougainvillea bewachsenen Mauern hinter sich gelassen hatte und die weiße Straße mit dem blauen Meer am Ende hinunterging. Ein Hund von nicht feststellbarer Rasse stand mitten auf dem Fahrweg in der Sonne, gähnte und streckte sich.

Wie aus heiterem Himmel fegte plötzlich ein altes Auto um die Ecke, traf den Hund mit voller Wucht und fuhr weiter, ohne anzuhalten. Der Hund stand ein paar Augenblicke bewegungslos da, starrte Mr Sattersway mit vorwurfsvollen Augen an und sackte dann zusammen.

Mr Sattersway trat näher und beugte sich über ihn. Der Hund war tot. Über die Grausamkeit des Lebens nachsinnend ging Mr Sattersway weiter. Was für einen seltsamen benommenen Blick der Hund in den Augen gehabt hatte. Als wollte er sagen: »Ach, du schöne Welt, an die ich geglaubt habe. Warum hast du mir das angetan?«

Mr Sattersway spazierte weiter, an den Palmen und verstreut daliegenden weißen Häusern vorbei, am schwarzen Lavastrand, gegen den die Brandung andonnerte und wo vor langer Zeit ein bekannter englischer Schwimmer ins Meer hinausgetragen worden und ertrunken war, vorbei an den Tümpeln zwischen den Felsen, in denen Kinder und alte Damen badeten und es schwimmen nannten, und die steile Straße entlang, die zur Klippe hinaufführte. Denn dort oben befand sich ein Haus, das passenderweise La Paz hieß. Ein weißes Haus mit verblassten grünen Fensterläden, die immer fest geschlossen waren, einem verwilderten schönen Garten und einem Pfad zwischen Zypressen, der zu einem Plateau am Ende des Felsens führte. Von dort hatte man einen weiten Blick – tief, tief hinab in das dunkelblaue Wasser.

Zu diesem Aussichtspunkt wollte Mr Sattersway. Er hatte eine große Vorliebe für den Garten entwickelt. Das Haus selbst hatte er noch nie betreten. Es schien unbewohnt zu sein. Manuel, der spanische Gärtner, pflegte den Besuchern mit einer schwungvollen Geste guten Morgen zu wünschen und überreichte den Damen einen kleinen Strauss und den Herren eine Blüte fürs Knopfloch. Dabei grinste er über das ganze Gesicht.

Manchmal erfand Mr Sattersway Geschichten über den Besitzer der Villa. Am liebsten stellte er sich eine spanische Tänzerin vor, die einmal für ihre Schönheit berühmt gewesen war und sich jetzt hier verbarg, damit die Öffentlichkeit niemals erfuhr, wie alt und hässlich sie geworden war.

Er malte sich aus, wie sie in der Abenddämmerung aus dem Haus trat und durch den Garten schritt. Manchmal war er versucht, Manuel zu fragen, doch er widerstand der Verlockung. Er wollte lieber bei seinen Träumen bleiben.

Nachdem Mr Sattersway ein paar Worte mit Manuel gewechselt und eine orangefarbene Rosenknospe in Empfang genommen hatte, schritt er über den Zypressenpfad zum Felsplateau. Es war herrlich, dort zu sitzen, am Rand zum Nichts, die glatte Wand unter sich. Er musste dabei an Tristan und Isolde denken, an den Beginn des dritten Aktes, wo Tristan und Kurwenal am einsamen Strand warten. Dieses endlose Warten, bis Isolde erscheint und Tristan in ihren Armen stirbt. Nein, dachte Mr Sattersway, die kleine Olga würde nie eine gute Isolde werden, Isolde, die königliche Hassende und die königliche Liebende… er erschauerte. Erfühlte sich alt, einsam. Was hatte er vom Leben gehabt? Nichts, gar nichts. Nicht einmal soviel wie der Hund, der eben auf der Straße überfahren worden war.

Ein unerwarteter Laut schreckte ihn aus seinen Überlegungen hoch. Schritte hatte Mr Sattersway nicht gehört. Das Erste, woran er die Gegenwart des anderen bemerkte, war das Wort: »Verdammt!«

Mr Sattersway blickte auf. Ein junger Mann starrte ihn mit unverhohlener Überraschung und Enttäuschung an. Mr Sattersway erkannte ihn wieder. Es war ein neuer Gast, der am vergangenen Tag eingetroffen war und über den er sich bereits Gedanken gemacht hatte. Mr Sattersway nannte ihn bei sich einen jungen Mann, weil er im Vergleich zu den unentwegten Alten im Hotel noch jung war, doch ganz sicher hatte er den vierzigsten Geburtstag hinter sich, vermutlich ging er bereits aufs halbe Jahrhundert zu. Trotzdem passte der Ausdruck »junger Mann« irgendwie auf ihn – Mr Sattersway täuschte sich gewöhnlich in solchen Dingen nicht –, weil er in gewisser Weise noch unreif wirkte. So wie viele ausgewachsene Hunde noch etwas von dem kleinen Hund an sich haben, der sie einmal gewesen sind.

Der Bursche ist nie erwachsen geworden, dachte Mr Sattersway, das heißt, nicht richtig.

Obwohl der Mann nichts Jungenhaftes an sich hatte. Er war fast plump und erweckte den Eindruck von jemandem, der sich in materieller Hinsicht jeden Wunsch erfüllt und sich keine Freude versagt hatte. Er hatte braune Augen – ziemlich runde –, helles Haar, das grau zu werden begann, einen kleinen Schnurrbart und eine frische Gesichtsfarbe.

Die Frage, die Mr Sattersway beschäftigt hatte, war der Grund, warum dieser Mann auf die Insel gekommen war. Er sah aus, als ob er gern auf die Jagd ging, Polo, Golf oder Tennis spielte und gern mit hübschen Frauen flirtete. Doch auf der Insel gab es nichts zu jagen oder zu schießen. Man konnte höchstens Krocket spielen, und die einzige Person, die von Weitem an eine hübsche Frau erinnerte, war die alte Miss Baba Kindersley.

Natürlich gab es einige Künstler, die von der Schönheit der Gegend angezogen wurden, doch Mr Sattersway hielt den Unbekannten nicht für einen Künstler. Er trug klar und deutlich den Stempel des Spießbürgers.

Während Mr Sattersway alle diese Dinge im Kopf herumwälzte, begann sein Gegenüber zu sprechen, da er, wenn auch etwas spät, gemerkt hatte, dass das eine Wort, welches er bis jetzt geäußert hatte, in gewisser Weise zu Kritik Anlass gab.

»Entschuldigen Sie bitte«, sagte er etwas verlegen. »Ich dachte nämlich… nun, ich war nicht auf Sie gefasst. Ich hatte angenommen, dass hier niemand sei.«

Er lächelte entwaffnend. Er hatte ein charmantes Lächeln, freundlich, offen.

»Es ist ein recht einsamer Ort«, stimmte Mr Sattersway zu und rückte höflich auf der Bank etwas zur Seite. Der andere nahm die stumme Einladung an und setzte sich.

»Ich finde eigentlich nicht«, sagte er. »Mir scheint eher, als sei immer jemand hier!«

Ein Ton von Missbilligung schwang in diesen Worten mit, und Mr Sattersway überlegte, warum. Er hatte geglaubt, der Unbekannte sei kein Einzelgänger. Warum wollte er dann unbedingt allein sein? Vielleicht ein Rendezvous? Nein, sicherlich nicht. Wieder musterte ihn Mr Sattersway verstohlen. Wo hatte er diesen bestimmten Ausdruck kürzlich gesehen? Diesen Blick von Bestürzung und Betroffenheit.

»Sind Sie schon einmal hier gewesen?«, fragte Mr Sattersway, mehr um das Schweigen zu brechen als aus wahrem Interesse.

»Ja. Gestern Abend, nach dem Essen.«

»Tatsächlich! Ich dachte, das Tor sei dann geschlossen.«

Der junge Mann zögerte kurz und sagte dann irgendwie trotzig: »Ich bin drübergeklettert.«

Da blickte Mr Sattersway ihn voll Interesse an. Er besaß eine gute Spürnase. Schließlich war der Unbekannte erst gestern Nachmittag angekommen und hatte kaum die Zeit gehabt, die Schönheit des Hauses und des Gartens noch bei Tageslicht zu sehen. Trotzdem war er sobald wie möglich hingegangen, obwohl es inzwischen bereits dunkel geworden war. Mr Sattersway wandte den Kopf und blickte zu dem Haus mit den verblassten grünen Fensterläden hinüber. Es lag wie immer verlassen da, die Läden geschlossen. Nein, die Lösung des Geheimnisses war nicht dort.

»Und Sie haben hier tatsächlich jemanden getroffen?«

Der Unbekannte nickte. »Ja. Er muss vom andern Hotel gewesen sein. Er trug ein Maskenkostüm.«

»Ein Maskenkostüm?«

»Ja. Eine Art Harlekin.«

»Was?«

Die Frage kam wie ein Peitschenknall von Mr Sattersways Lippen.

Der andere blickte ihn überrascht an.

»In den Hotels werden häufig Maskenbälle veranstaltet, soviel ich weiß.«

»Ja, natürlich«, murmelte Mr Sattersway. »Natürlich.« Er schwieg. Dann holte er tief Luft und fügte hinzu: »Bitte, entschuldigen Sie meine Aufregung. Wissen Sie zufällig, was eine Katalyse ist?«

Der junge Mann sah ihn verständnislos an. »Nie davon gehört. Was ist das?«

Mr Sattersway zitierte ernst: »Eine chemische Reaktion, deren Ausgang vom Vorhandensein einer gewissen Substanz abhängt, die selbst unverändert bleibt.«

»Aha!«, sagte der junge Mann unsicher.

»Ich habe einen Freund… sein Name ist Mr Quin, und auf ihn trifft das genau zu. Seine Gegenwart ist ein Zeichen, dass sich etwas ereignen wird. Weil er da ist, kommen seltsame Ereignisse ans Tageslicht, werden Entdeckungen gemacht. Und doch – er selbst nimmt an den Dingen nicht teil. Ich glaube, dass Sie gestern Abend diesem meinem Freund begegnet sind.«

»Er ist ziemlich plötzlich erschienen, der Bursche. Er hat mir einen schönen Schreck eingejagt. Den einen Augenblick war er noch nicht da, und im nächsten stand er neben mir. Beinahe, als wäre er aus dem Wasser hochgestiegen.«

Mr Sattersway sah auf das Meer hinaus.

»Natürlich ist das Unsinn«, meinte der andere. »Aber ich hatte diesen Eindruck. In Wirklichkeit könnte nicht einmal eine Fliege sich irgendwo festhalten.« Er blickte über den Rand. »Eine glatte, gerade Wand. Wenn man da hinunterfällt – na, das wäre das Ende.«

»Ein idealer Ort für einen Mord«, erwiderte Mr Sattersway scherzend.

Der andere sah ihn verständnislos an. Dann sagte er vage: »Ach, ja! Natürlich!«

Stirnrunzelnd saß er da und klopfte mit seinem Spazierstock auf den Boden. Plötzlich fiel Mr Sattersway ein, wo er diesen Ausdruck der Bestürzung und des Grolls schon einmal gesehen hatte. Der Hund hatte ihn vorhin so angesehen. Mit der gleichen erschütternden Frage im Blick. Er hatte der Welt vertraut, und was hatte sie ihm dafür angetan!

Er entdeckte noch weitere ähnliche Eigenschaften, die gleiche Unbeschwertheit, die gleiche Lebensfreude ohne sich viele Gedanken um das Morgen zu machen. Man lebte den Augenblick, die Welt war schön, voll sinnlicher Freuden, die Sonne, der Himmel, das Meer… und dann, was dann? Der Hund war von einem Auto überfahren worden. Was würde mit dem Mann passieren?

Der Gegenstand seiner Überlegungen riss Mr Sattersway aus seinen Gedanken und er sagte wie zu sich selbst: »Man fragt sich wirklich, wozu das alles sein soll.«

Vertraute Worte, Worte, die gewöhnlich ein Lächeln auf Mr Sattersways Lippen hervorriefen, da sie ungewollt den angeborenen Egoismus des Menschen verrieten, der glaubt, dass jedes Zeichen von Leben zu seiner Freude oder zu seinem Leid erschaffen wurde. Mr Sattersway antwortete nicht, und der andere fuhr mit einem kleinen, etwas entschuldigenden Lachen fort:

»Wie man so schön sagt, jeder Mann sollte ein Haus gebaut, einen Baum gepflanzt und einen Sohn gezeugt haben.« Er schwieg und fügte dann hinzu: »Ich glaube, ich habe einmal eine Saat gesät…«

Mr Sattersway bewegte sich unruhig. Seine Neugierde war erwacht, jenes immer wache Interesse am Leben anderer Leute, das die Herzogin in ihrem Brief erwähnt hatte. Mr Sattersway war ein guter Zuhörer und erkundete stets den richtigen Augenblick, da er den andern durch eine passende Bemerkung zum Weitererzählen ermuntern konnte. Nun erfuhr er die ganze Geschichte.

Anthony Cosdon, so hieß der Unbekannte, hatte genau das Leben geführt, das Mr Sattersway sich vorgestellt hatte. Er war kein guter Redner, doch sein Zuhörer füllte die Pausen geschickt aus. Ein sehr durchschnittliches Leben – ein durchschnittliches Einkommen, eine kurze Militärzeit, viel Sport, wenn sich die Gelegenheit dazu ergab, eine Menge Freunde, viele Vergnügungen, genug Frauen. Die Art Leben, bei dem man nicht viel nachdenkt und keine echten Gefühle aufkommen. Offen gesagt, ein kreatürliches Leben. Doch es gibt Schlimmeres, dachte Mr Sattersway, ja, viel Schlimmeres. Die Welt war für Anthony Cosdon völlig in Ordnung gewesen. Er hatte geschimpft, weil alle Leute schimpften, aber es war ihm nie ernst gewesen, bis es dann passierte.

Schließlich kam er zum Kern der Sache, ziemlich zusammenhanglos und vage. Er hatte gar nichts gemerkt, jedenfalls nichts Besonderes. Er ging zum Arzt, und der empfahl ihm, einen Spezialisten aufzusuchen. Und dann – die unfassbare Wahrheit. Sie hatten versucht, es nicht so schlimm darzustellen, redeten von Vorsicht und einem ruhigen Leben, doch sie hatten nicht verheimlichen können, dass alles nur Schwindel war, dass sie es ihm nur vorsichtig beibringen wollten. Es lief auf Folgendes hinaus: sechs Monate. Mehr Zeit gaben sie ihm nicht. Ganze sechs Monate!

Er blickte Mr Sattersway wieder mit jenem Ausdruck von Bestürzung in den braunen Augen an. Natürlich sei das ein Schock gewesen. Man wisse nicht… man wisse einfach nicht, wie man sich verhalten solle.

Mr Sattersway nickte ernst und mitfühlend.

Es sei ein wenig schwierig, was man da tun solle, meinte Anthony Cosdon. Was man mit seiner Zeit anfange. Eine ziemlich dumme Situation, einfach dazusitzen und zu warten, bis es aus sei. Er fühle sich nicht krank – noch nicht. Das käme später, hatten die Spezialisten erklärt, das stand fest. Es schien ein solcher Unsinn zu sein, sterben zu müssen, wenn man es gar nicht wolle. Das Beste sei, hatte Anthony Cosdon sich überlegt, weiterzumachen wie bisher. Doch irgendwie funktionierte es nicht.

An dieser Stelle unterbrach ihn Mr Sattersway. Ob es nicht, deutete er vorsichtig an, eine Frau gebe…

Offensichtlich nicht. Natürlich kenne er viele Frauen, aber nicht so eine. Seine Freunde seien ein sehr fröhlicher Haufen. Sie mochten keine Toten, wie er andeutete. Er wollte nicht ein wandelnder Leichnam sein. Das sei für jeden peinlich. Deshalb sei er weggefahren.

»Sie kamen auf diese Insel. Warum?« Mr Sattersway fahndete nach einer Erklärung. Er spürte, dass es eine geben musste, doch er wusste nicht, wo er sie suchen sollte. »Waren Sie etwa schon einmal hier?«, fragte er.

»Ja«, gestand Cosdon fast gegen seinen Willen. »Vor Jahren, als junger Mann.«

Und plötzlich, anscheinend unbewusst, warf er einen kurzen Blick über die Schulter zurück zu dem weißen Haus.

»Ich erinnere mich an diesen Felsen«, sagte er und deutete mit dem Kopf in Richtung des Meeres. »Ein Schritt zur Ewigkeit.«

»Und das ist der Grund, warum Sie gestern Abend herkamen«, stellte Mr Sattersway gelassen fest.

Cosdon sah ihn bestürzt an. »Ach! Ich meine… eigentlich…«, protestierte er lahm.

»Gestern Abend war jemand hier. Heute Nachmittag saß ich auf der Bank. Es rettete Ihnen das Leben – zweimal.«

»So könnte man es ausdrücken, wenn Sie wollen. Aber, verdammt noch mal, es ist schließlich mein Leben. Damit kann ich anfangen, was ich will!«

»Das ist eine ziemlich abgedroschene Redensart«, erwiderte Mr Sattersway etwas mürrisch.

»Natürlich verstehe ich Ihren Standpunkt«, erklärte Cosdon großzügig. »Natürlich müssen Sie versuchen, mich davon abzubringen. Ich würde es genauso machen, selbst wenn ich wüsste, dass der andere im Grunde genommen Recht hat. Und Sie wissen genau, dass ich Recht habe. Ein sauberes, schnelles Ende ist besser als ein Dahinsiechen, nichts als Schwierigkeiten und Kosten. Außerdem habe ich keinen Menschen auf der Welt, der mir nahe steht…«

»Und wenn es anders wäre?«, fragte Mr Sattersway scharf.

Cosdon holte tief Luft. »Ich weiß es nicht. Ich glaube, selbst. dann wäre es die beste Lösung. Aber ich habe niemanden…«

Er schwieg abrupt. Mr Sattersway musterte ihn neugierig. Er war ein unverbesserlicher Romantiker und fragte wieder, ob es nicht doch irgendwo eine Frau gebe. Cosdon verneinte. Er habe sich nicht zu beklagen, erklärte er. Im Großen und Ganzen habe er ein schönes Leben gehabt. Es sei nur bedauerlich, dass es bald vorbei sei. Jedenfalls habe er alles gehabt, so glaube er, was es wert sei, gehabt zu haben. Außer einem Sohn. Er hätte gern einen Sohn gehabt. Es sei ein schöner Gedanke für den Vater, zu wissen, dass sein Sohn noch lebe, wenn er selbst längst gestorben sei. Trotzdem, wiederholte er, habe er ein gutes Leben gehabt.

An diesem Punkt begann Mr Sattersway die Geduld zu verlieren. Niemand, so erklärte er, der noch im Entwicklungsstadium sei, könne behaupten, vom Leben etwas zu verstehen. Da Cosdon nicht begriff, was Mr Sattersway meinte, erklärte Mr Sattersway es ihm genauer. »Sie haben noch nicht einmal angefangen zu leben. Sie stehen immer noch am Anfang.«

Cosdon lachte. »Wie das? Meine Haare sind grau, ich bin bald fünfzig…«

Mr Sattersway unterbrach ihn. »Das hat damit nichts zu tun. Das Leben besteht aus physischen und geistigen Erfahrungen. Ich, zum Beispiel, bin neunundsechzig Jahre alt und bin es auch geistig. Ich habe – direkt oder durch andere – fast alle Erfahrungen gemacht, die man im Leben machen kann. Sie sind wie jemand, der von einem ganzen Jahr spricht und nur Eis und Schnee erlebt hat. Die Knospen im Frühling, die schwülen Tage des Sommers, die fallenden Blätter im Herbst – Sie kennen sie nicht. Sie wissen nicht einmal, dass es so etwas gibt. Und Sie kehren sogar schon der Möglichkeit, das alles noch zu erleben, den Rücken.«

»Sie scheinen zu vergessen«, antwortete Cosdon trocken, »dass ich in jedem Fall nur noch sechs Monate habe.«

»Zeit ist wie alles andere relativ«, bemerkte Mr Sattersway. »Diese sechs Monate können die längsten und die ereignisreichsten Ihres ganzen Lebens sein.«

Cosdon wirkte nicht überzeugt. »Sie an meiner Stelle«, sagte er, »würden sich genauso verhalten.«

Mr Sattersway schüttelte den Kopf. »Nein«, erwiderte er nur. »Erstens bezweifele ich, dass ich den Mut dazu hätte. So etwas braucht Mut, und ich bin nicht besonders tapfer. Und zweitens…«

»Nun?«

»Ich möchte immer wissen, was morgen passiert.«

Plötzlich stand Cosdon auf und lachte. »Nun, Sir, es war sehr freundlich, dass Sie mir zugehört haben. Ich weiß eigentlich gar nicht, warum… jedenfalls, besten Dank. Ich habe viel zu viel geredet. Vergessen Sie’s!«

»Und wenn man morgen einen Unfall meldet, soll ich es dabei bewenden lassen? Und nicht sagen, dass es auch Selbstmord sein könnte?«

»Das liegt ganz bei Ihnen. Es freut mich jedenfalls, dass Sie eines eingesehen haben: Sie können mich nicht daran hindern.«

»Mein lieber junger Mann«, entgegnete Mr Sattersway freundlich, »ich kann Ihnen kaum immer auf den Fersen bleiben. Früher oder später würden Sie mir entwischen und Ihre Absicht ausführen. Doch für heute dürfte Ihnen die Lust vergangen sein. Sie würden kaum wollen, dass ich als Ihr Mörder dastehe, der Sie über den Klippenrand gestoßen hat.«

»Das stimmt«, sagte Cosdon. »Wenn Sie hier bleiben…«

»Ich bleibe hier«, erwiderte Mr Sattersway entschieden.

Cosdon lachte gutmütig. »Dann muss ich meinen Plan für den Augenblick aufschieben. In diesem Fall gehe ich am besten ins Hotel zurück. Bis später, vielleicht.«

Mr Sattersway blieb allein auf der Bank sitzen und blickte aufs Meer hinaus. »Und nun?«, überlegte er laut. »Was kommt als Nächstes? Es passiert immer etwas. Ich frage mich…«

Er erhob sich und trat an den Klippenrand. Eine Weile stand er da und starrte in das schäumende Wasser hinab. Doch auch dadurch kam ihm keine Erleuchtung, und so schlenderte er den Pfad zwischen den Zypressen zurück. Er betrachtete das stille Haus mit den geschlossenen Läden und grübelte erneut darüber nach, wer darin gewohnt und was für ein Leben dort geherrscht hatte. Einem plötzlichen Impuls folgend ging er die rissigen Steinstufen hinauf und legte eine Hand auf einen der ausgeblichenen grünen Läden. Zu seinem Erstaunen schwang er unter seiner Berührung zurück. Einen Augenblick zögerte er, dann öffnete er ihn. Mit einem ärgerlichen kleinen Ausruf trat er einen Schritt zurück. Eine Frau stand in der Fenstertür und sah ihn an. Sie war in Schwarz und trug eine schwarze Spitzenmantilla.

Mr Sattersway stürzte sich in einen Schwall italienisch und deutsch vorgebrachter Entschuldigungen, weil ihm in der Eile keine spanischen Worte einfielen. Er sei bestürzt und beschämt, erklärte er hastig. Die Signora müsse ihm vergeben. Worauf er sich hastig entfernte, ohne dass die Frau etwas gesagt hatte.

Als er halb durch den Garten war, rief sie ein paar Worte hinter ihm her, die Mr Sattersway wie Pistolenschüsse in den Ohren klangen: »Kommen Sie zurück!«

Es war ein Befehl, wie man ihn etwa einem Hund gibt, doch es schwang soviel Autorität darin mit, dass Mr Sattersway sich hastig umwandte und automatisch zurücktrottete, ehe sich überhaupt ein Gefühl des Protests in ihm regte. Er gehorchte wie ein Hund.

Die Frau stand immer noch bewegungslos da. Ruhig musterte sie ihn von Kopf bis Fuß.

»Sie sind Engländer«, sagte sie. »Das dachte ich mir.«

Mr Sattersway entschuldigte sich erneut, diesmal auf Englisch. »Wenn ich gewusst hätte, dass Sie Engländerin sind«, meinte er, »hätte ich Ihnen mein Verhalten besser erklären können. Ich möchte mich von ganzem Herzen für mein ungehobeltes Benehmen entschuldigen. Ich fürchte, es gibt keine Erklärung dafür, nur unverzeihliche Neugier. Ich wünschte mir so sehnlich zu wissen, wie es im Innern des Hauses aussieht.«

Plötzlich lachte sie, ein tiefes, herzliches Lachen. »Wenn Sie es wirklich wissen möchten«, sagte sie, »dann kommen Sie lieber herein.«

Sie trat zur Seite, und Mr Sattersway machte aufgeregt ein paar Schritte in das Zimmer: Es war dunkel, da die übrigen Läden geschlossen waren, doch er konnte erkennen, dass es nur spärlich und eher schäbig möbliert war und überall Staub lag.

»Dieses Zimmer bewohne ich nicht«, sagte die Frau.

Sie schritt ihm voran, und Mr Sattersway folgte ihr, aus dem Zimmer und durch einen Gang in einen anderen Raum. Die Fenster gingen aufs Meer, und die Sonne schien herein. Auch hier waren die Möbel nicht von besserer Qualität, doch ein paar abgetretene Teppiche lagen da, die einmal sehr schön gewesen waren, ein großer Wandschirm aus Leder stand an der einen Wand, und überall gab es Blumen in schönen Vasen.

»Sie trinken doch Tee mit mir«, sagte Mr Sattersways Gastgeberin und fügte beruhigend hinzu: »Er ist sehr gut.«

Sie ging hinaus und rief etwas auf Spanisch. Dann kehrte sie zurück und setzte sich auf ein Sofa, dem Gast gegenüber. Zum ersten Mal hatte Mr Sattersway Gelegenheit, sie sich genauer anzusehen.

Sie war eine starke Persönlichkeit, und er kam sich bei ihrem Anblick noch grauer und vertrockneter und älter vor als gewöhnlich. Sie war groß, braun gebrannt, dunkel und hübsch, wenn auch nicht mehr jung. Seit sie wieder im Zimmer war, schien die Sonne zweimal so hell zu strahlen, und plötzlich durchrieselte Mr Sattersway ein seltsames Gefühl von Wärme und Lebendigkeit. Sie besaß so viel Vitalität, dachte er, dass sie davon noch eine Menge für andere Leute übrig hatte.

Ihm fiel ihre energische Stimme wieder ein, und er wünschte, dass sein Schützling Olga etwas von dieser Kraft besäße. Was für eine Isolde sie abgeben würde!, dachte er. Und doch hat sie vermutlich nicht den Schatten einer Singstimme. Wie schlecht im Leben alles verteilt war. Trotzdem fürchtete er sich etwas vor ihr. Er mochte keine beherrschenden Frauen.

Während sie so dasaß, hatte sie ihn unverhohlen gemustert. Dann nickte sie, als habe sie sich ein Urteil gebildet.

»Ich bin froh, dass Sie gekommen sind«, sagte sie. »Ich brauche dringend jemand, mit dem ich mich unterhalten kann. Und Sie sind an so etwas gewöhnt, nicht wahr?«

»Ich verstehe Sie nicht ganz.«

»Dass die Leute Ihnen etwas erzählen. Sie wissen genau, was ich meinte. Warum geben Sie es nicht zu?«

»Nun… vielleicht…«

Sie sprach weiter, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, ob er noch etwas sagen wollte oder nicht. »Man kann Ihnen alles erzählen. Weil Sie sich in eine Frau hineinversetzen können. Sie wissen, wie wir fühlen, was wir denken, was für komische Dinge wir manchmal tun.«

Sie schwieg. Ein großes, lächelndes spanisches Mädchen brachte den Tee herein. Er schmeckte ausgezeichnet – es war chinesischer –, und Mr Sattersway trank ihn mit Genuss.

»Wohnen Sie hier?«, fragte er unverbindlich.

»Ja.«

»Aber nicht ständig. Gewöhnlich ist das Haus leer. Jedenfalls hat man mir das erzählt.«

»Ich bin viel hier, mehr als man annimmt. Ich bewohne nicht alle Räume.«

»Gehört Ihnen die Villa schon lange?«

»Seit mehr als zwanzig Jahren. Davor habe ich schon ein Jahr hier gelebt.«

»Eine sehr lange Zeit«, bemerkte Mr Sattersway etwas geistlos, oder glaubte es jedenfalls.

»Meinen Sie das eine Jahr? Oder die andern zweiundzwanzig?«

Mr Sattersways Interesse erwachte, und er erwiderte ernst: »Das hängt ganz davon ab.«

Sie nickte. »Ja. Es sind zwei verschiedene Zeitabschnitte, und sie haben nichts miteinander zu tun. Was ist lang? Was ist kurz? Selbst heute weiß ich es noch nicht.«

Sie schwieg eine Minute und geriet ins Grübeln. Dann meinte sie mit einem scheuen Lächeln: »Es ist lange her, seit ich mich mit jemandem unterhalten habe, sehr lange. Ich entschuldige mich nicht. Sie kamen an meine Tür, Sie wollten ins Innere schauen. Das tun Sie immer, nicht wahr? Sie öffnen die Läden und blicken wie durch ein Fenster auf die Wahrheit im Leben der Menschen. Falls sie es Ihnen erlauben. Manchmal tun Sie es auch ohne ihre Erlaubnis. Es dürfte schwierig sein, vor Ihnen etwas zu verbergen. Sie würden es doch erraten.«

Mr Sattersway hatte den seltsamen Drang, vollkommen ehrlich zu sein. »Ich bin neunundsechzig«, sagte er. »Alles, was ich vom Leben weiß, weiß ich durch andere. Manchmal ist diese Erkenntnis sehr bitter. Und doch weiß ich eine ganze Menge.«

Sie nickte nachdenklich. »Ja. Das Leben ist sehr seltsam. Ich kann mir gar nicht vorstellen, was für ein Gefühl das ist, nur Zuschauer zu sein.«

Mr Sattersway lächelte. »Ich glaube Ihnen gern, dass Sie sich so etwas nicht vorstellen können. Ihr Platz ist auf der Bühne, im Zentrum. Sie sind immer die Primadonna.«

»Was für eine seltsame Vorstellung.«

»Es stimmt. Sie haben viel erlebt… werden noch viel erleben. Sicherlich, manches war tragisch…«

Ihre Augen verengten sich.

»Wenn Sie länger bleiben, wird man Ihnen die Geschichte von dem Engländer erzählen, dass er jung und stark war und schön und seine junge Frau auf dem Felsen stand und zusah, wie er ertrank.«

»Ich habe sie schon gehört.«

»Jener Engländer war mein Mann. Dies war sein Haus. Er brachte mich her, als ich achtzehn war, und ein Jahr später starb er, von der Strömung auf die schwarzen Felsen geworfen, zerschunden und verstümmelt, zu Tode gequält.«

Mr Sattersway stieß einen entsetzten Ausruf aus. Sie beugte sich zu ihm und starrte ihm mit brennenden Augen ins Gesicht. »Sie sprachen von tragischen Ereignissen. Können Sie sich eine größere Tragödie vorstellen? Eine junge Frau, erst seit einem Jahr verheiratet, muss hilflos zusehen, wie ihr Mann um sein Leben kämpft – und den Kampf verliert. Entsetzlich!«

»Entsetzlich«, wiederholte Mr Sattersway bewegt. »Nichts könnte schlimmer sein.«

Plötzlich lachte sie. Sie richtete sich auf und sagte: »Sie irren sich! Es gibt etwas viel Schrecklicheres: Wenn eine Frau so etwas mit ansehen muss und hofft und betet, dass ihr Mann ertrinken möge.«

»Um Gottes willen!«, rief Mr Sattersway. »Sie wollen doch nicht andeuten…«

»Doch, das tue ich. So war es nämlich in Wirklichkeit! Ich kniete auf dem Plateau, ich kniete da und betete. Die spanischen Angestellten glaubten, ich würde um seine Rettung beten. Nein! Ich betete vielmehr darum, dass ich mir seine Rettung wünschte. Wieder und wieder sagte ich: ›Mein Gott, hilf mir, dass ich ihm nicht den Tod wünsche. Mein Gott, hilf mir, dass ich ihm nicht den Tod wünsche!‹ Doch es nützte nichts. Die ganze Zeit gab ich die Hoffnung nicht auf… und sie wurde wahr…«

Sie schwieg ein paar Augenblicke und fuhr dann in verändertem Ton fort: »Eine schreckliche Geschichte, nicht wahr? So etwas kann man nicht vergessen. Ich war so glücklich, als ich von seinem Tod erfuhr und wusste, dass er mich nicht mehr quälen konnte.«

»Mein armes Kind«, sagte Mr Sattersway erschüttert.

»Ich weiß. Ich war viel zu jung für so eine Erfahrung. So etwas sollte man erst durchmachen, wenn man älter ist, wenn man reifer und gegen derartige Gemeinheiten gewappnet ist. Kein Mensch ahnte, wie er in Wirklichkeit war. Als ich ihn kennen lernte, fand ich ihn wundervoll. Ich war glücklich und stolz, als er um meine Hand anhielt. Doch schon bald ging alles schief. Ständig ärgerte er sich über mich, nichts, was ich tat, passte ihm. Und ich habe mich so bemüht, ihm alles Recht zu machen. Und dann begann er Gefallen daran zu finden, mir wehzutun, mir Angst einzujagen. Das machte ihm vor allem Spaß. Er ließ sich alle möglichen Dinge einfallen – schreckliche Dinge. Ich möchte nicht darüber sprechen. Ich glaube wirklich, dass er etwas verrückt war. Wir waren allein in diesem Haus, ich war in seiner Gewalt, und die Grausamkeit wurde zu seinem Hobby« Ihre Augen wurden größer und dunkler. »Am schlimmsten war die Sache mit meinem Kind. Ich war schwanger. Und wegen seiner Grausamkeiten, wegen der Dinge, die er mir antat, wurde es tot geboren. Mein armes kleines Baby! Ich wäre beinahe gestorben. Ich wünschte, dass ich nicht überlebt hätte.«

Mr Sattersway wusste nicht, was er sagen sollte.

»Und dann wurde ich von ihm befreit – wie, das habe ich Ihnen schon erzählt. Ein paar Mädchen, die im Hotel wohnten, stachelten ihn dazu an. So passierte es dann. Alle Spanier sagten zu ihm, dass es Wahnsinn sei, hinauszuschwimmen. Aber er war eitel. Er wollte sich produzieren. Und ich… ich beobachtete, wie er ertrank. Und ich war froh darüber. Gott sollte so etwas nicht zulassen!«

Mr Sattersway streckte den Arm aus und nahm ihre Hand in die seine. Sie drückte sie fest, wie ein Kind es getan haben könnte. Die frauliche Reife war aus ihrem Gesicht verschwunden. Mr Sattersway konnte sich ohne Mühe vorstellen, wie sie mit neunzehn Jahren ausgesehen haben musste.

»Zuerst konnte ich mein Glück nicht fassen. Das Haus gehörte mir, ich konnte darin wohnen und niemand würde mich mehr quälen. Ich bin Waise, wissen Sie, hatte keine Verwandten, niemand machte sich Sorgen, was aus mir werden sollte. Das vereinfachte alles. Ich lebte weiter hier in diesem Haus, und mir schien es der Himmel auf Erden zu sein. Seitdem war ich nie wieder so glücklich. Aufzuwachen und zu wissen, dass alles in Ordnung ist, keine Schmerzen, kein Entsetzen, keine Angst, was er wieder tun würde. Ja, es war wie im Himmel damals.«

Sie schwieg lange. Schließlich sagte Mr Sattersway: »Und dann?«

»Der Mensch ist eben nie zufrieden. Zuerst genügte es mir einfach, frei zu sein. Nach einiger Zeit begann ich mich einsam zu fühlen. Ja, so war es. Ich dachte plötzlich wieder an mein totes Kind. Wenn ich nur mein Baby gehabt hätte. Ich wünschte es mir als Kind und auch als Spielzeug. Ich sehnte mich schrecklich nach etwas oder nach jemandem, mit dem ich spielen konnte. Es klingt verrückt und kindisch, doch so war es.«

»Ich kann Sie sehr gut verstehen«, sagte Mr Sattersway ernst.

»Es ist schwierig zu erklären, was dann geschah. Es passierte einfach, wissen Sie. Ein junger Engländer wohnte im Hotel. Einmal verirrte er sich in meinen Garten. Ich war wie eine Spanierin angezogen, und er nahm an, ich sei auch eine. Es machte mir Spaß, ihn an der Nase herumzuführen. Sein Spanisch war sehr schlecht, er konnte sich nur mühsam verständigen. Ich erzählte ihm, dass das Haus einer englischen Dame gehöre, die verreist sei. Ich behauptete, sie habe mir ein paar Brocken Englisch beigebracht. Es war so komisch, wirklich, wir hatten so viel Spaß. Selbst heute erinnere ich mich noch genau daran. Er verführte mich. Wir taten, als gehöre uns das Haus, als seien wir frisch verheiratet und würden dort wohnen. Ich schlug vor, einen Laden zu öffnen – den, den auch Sie heute öffneten. Er war nicht verschlossen, der Raum dahinter staubig und unaufgeräumt. Wir schlüpften hinein. Es war schrecklich aufregend. Wir taten, als sei es unser eigenes Haus.«

Sie schwieg und sah Mr Sattersway flehend an.

»Mir schien es wie ein Märchen, so schön. Und das Herrlichste war, dass es nicht wahr war. Es war nicht Wirklichkeit.«

Mr Sattersway nickte. Vielleicht verstand er sie besser als sie sich selbst – jene verängstigte einsame junge Frau, die sich in eine Scheinwelt gerettet hatte, weil sie ihr sicherer erschien als die Realität.

»Vermutlich war er ein sehr durchschnittlicher junger Mann. Auf Abenteuer aus, aber dabei ganz reizend. Wir ließen nicht ab von dem Spiel.«

Sie schwieg nachdenklich und fuhr dann mit einem Blick auf Mr Sattersway fort:

»Am nächsten Morgen kam er wieder zur Villa. Ich beobachtete ihn durch die geschlossenen Fensterläden meines Schlafzimmers. Natürlich ahnte er nicht, dass ich im Haus war. Er dachte immer noch, dass ich ein kleines spanisches Bauernmädchen sei. Er stand da und wartete. Er hatte mich gebeten, ihn wieder im Garten zu treffen. Ich hatte es ihm zwar versprochen, doch ich hatte nicht die Absicht, mein Versprechen zu halten. Er stand einfach da und machte ein besorgtes Gesicht. Vermutlich machte er sich Sorgen um mich. Ich fand das nett von ihm… Überhaupt war er sehr nett…«

Wieder schwieg sie.

»Am nächsten Morgen reiste er ab«, sagte sie dann. »Ich habe ihn nie mehr wiedergesehen… Neun Monate später brachte ich einen Jungen zur Welt. Die ganze Zeit über war ich unbeschreiblich glücklich. Ein Kind zu bekommen, ganz friedlich, ohne dass mir jemand wehtat oder mich quälte! Ich wünschte, dass ich meinen englischen Freund nach seinem Vornamen gefragt hätte! Ich hätte den Jungen nach ihm genannt. Es schien mir so herzlos, wenn ich es nicht tat, irgendwie unfair. Er hatte mir geschenkt, was ich mir am meisten auf der Welt wünschte, und er würde es nicht einmal erfahren. Natürlich sagte ich mir, dass er die Sache nicht so ansehen würde. Vermutlich hätte er sich nur geärgert oder sich Sorgen gemacht, wenn er es gewusst hätte. Ich war einfach ein amüsanter Zeitvertreib für ihn gewesen, nicht mehr.«

»Und Ihr Sohn?«, fragte Mr Sattersway.

»Er ist großartig! Ich nannte ihn John. Ich wünschte, Sie könnten ihn kennen lernen! Jetzt ist er zwanzig. Er wird Bergwerksingenieur. Er ist der beste und liebste Sohn, den es gibt. Ich erzählte ihm, dass sein Vater vor seiner Geburt gestorben sei.«

Mr Sattersway sah sie nachdenklich an. Eine seltsame Geschichte. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass sie noch nicht zu Ende erzählt hatte, dass da noch mehr war.

»Zwanzig Jahre sind eine lange Zeit«, meinte er. »Haben Sie nie daran gedacht, wieder zu heiraten?«

Sie schüttelte den Kopf, und die Röte stieg ihr in die Wangen.

»Das Kind genügte Ihnen – immer?«

Ihr Blick wurde weich.

»Was für seltsame Dinge passieren können!«, murmelte sie. »Wirklich, sehr seltsame Dinge. Sie würden es nicht glauben… Doch, vielleicht glauben Sie mir sogar. Ich liebte Johns Vater damals nicht. Ich wusste wohl gar nicht, was Liebe war. Ich hielt es für selbstverständlich, dass der Junge mir ähnlich sehen würde, doch ich täuschte mich. Man hätte denken können, dass er gar nicht von mir sei. Er glich seinem Vater. Er war sein genaues Ebenbild. So lernte ich jenen Mann näher kennen – durch seinen Sohn. Wegen seines Sohnes begann ich, ihn zu lieben. Ich liebe ihn auch jetzt noch. Ich werde ihn immer lieben. Sie mögen sagen, dass es nur Einbildung sei, dass ich mir ein Ideal erträumt habe, aber es stimmt nicht. Ich liebe den Mann, den wirklichen Menschen! Ich würde ihn jederzeit wiedererkennen, obwohl es über zwanzig Jahre her ist, dass wir uns begegneten. Seit zwanzig Jahren liebe ich ihn. Ich werde ihn lieben bis in den Tod.«

Sie schwieg. Dann fragte sie herausfordernd: »Halten Sie mich für verrückt? Weil ich solche seltsamen Dinge sage?«

»Aber meine Liebe!«, erwiderte Mr Sattersway und ergriff wieder ihre Hand.

»Sie verstehen mich wirklich?«

»Ich glaube, ja. Aber da ist noch mehr, nicht wahr? Sie haben mir noch nicht alles erzählt.«

Sie runzelte die Stirn. »Ja. Wie klug von Ihnen, das zu erraten. Ich wusste sofort, dass Sie zu den Menschen gehören, vor denen man nichts verbergen kann. Aber ich möchte es Ihnen nicht erzählen, weil es für Sie so besser ist.«

Sie sah ihn trotzig an.

Das ist der Augenblick der Wahrheit, überlegte Mr Sattersway. Ich habe alle Trümpfe in der Hand. Ich sollte herausbekommen können, was es ist. Wenn ich geschickt agiere, werde ich es erfahren.

Nach einer kleinen Pause meinte er vorsichtig: »Etwas ist schief gelaufen.«

Er beobachtete, wie sie kurz die Lider senkte, und wusste, dass er auf dem richtigen Weg war. »Etwas ist schief gegangen, ganz plötzlich, nach all den Jahren.«

Er spürte, wie er ihrem Geheimnis näher kam, das sie im tiefsten Winkel ihres Herzens vor ihm zu verbergen versuchte. »Der Junge… es hat etwas mit dem Jungen zu tun. Alles andere wäre Ihnen gleichgültig.«

Sie stieß einen schwachen Seufzer aus, und er wusste, dass er sich nicht getäuscht hatte. Ein grausames Spiel, aber notwendig. Ihr Wille stand gegen den seinen. Sie besaß einen unbeugsamen, rücksichtslosen Geist, doch auch hinter Mr Sattersways freundlichem und bescheidenem Benehmen verbarg sich eine eiserne Entschlossenheit. Voll Verachtung dachte er an die Männer, deren Beruf es war, etwas so gewöhnliches wie ein Verbrechen aufklären zu müssen. Aber mit dem Geist aufzuspüren, Hinweise zusammenzutragen, dieses Hinabtauchen nach der Wahrheit, diese Freude, wenn man dem Ziel immer näher kam… Gerade ihr leidenschaftlicher Versuch, die Wahrheit vor ihm zu verbergen, half ihm. Er spürte, wie sie sich trotzig versteifte, als er sich weiter und weiter herantastete.

»Es ist besser, wenn ich es nicht weiß, sagen Sie? Besser für mich? Aber Sie sind keine sehr rücksichtsvolle Frau. Es würde Ihnen nichts ausmachen, einem Fremden vorübergehend Unannehmlichkeiten zu bereiten. Also muss es mehr sein. Wenn Sie es mir verraten, machen Sie mich zum Mittäter. Das klingt nach einem Verbrechen. Seltsam! Ich würde Ihre Person nie mit so etwas in Zusammenhang bringen. Nur mit einer einzigen Art von Verbrechen. Einem Verbrechen, das sich gegen Sie selbst richtet.«

Da musste sie den Blick senken. Mr Sattersway beugte sich vor.

»Das ist es also! Sie wollen sich das Leben nehmen.«

Sie stieß einen leisen Schrei aus. »Wie haben Sie das nur erraten? Ich begreife es nicht!«

»Aber warum? Sie sind nicht lebensmüde. Ich habe noch nie eine Frau gesehen, die so überschäumt vor Leben wie Sie.« Sie stand auf und trat ans Fenster, wobei sie sich eine Strähne ihres dunklen Haares aus der Stirn schob.

»Da Sie bereits soviel erraten haben, kann ich Ihnen auch noch den Rest der Geschichte erzählen. Ich hätte Sie nicht ins Haus lassen sollen! Ich hätte wissen müssen, dass Sie mehr als nur die Oberfläche sehen! Sie gehören zu dieser Art von Menschen. Was den Grund betrifft, so hatten Sie Recht. Es handelt sich um meinen Sohn. Er hat keine Ahnung. Als er das letzte Mal während der Ferien bei mir war, sprach er sehr bedauernd von einem Freund, und damals fand ich etwas Wichtiges heraus: Wenn er entdeckt, dass er ein uneheliches Kind ist, bricht es ihm das Herz! Er ist stolz, schrecklich stolz! Da ist ein Mädchen… Ach, ich will gar keine Einzelheiten erzählen. Aber er kommt bald, und dann möchte er alles über seinen Vater erfahren – alles! Natürlich sind auch die Eltern des Mädchens daran interessiert. Wenn er die Wahrheit entdeckt, wird er mit ihr brechen, sich verkriechen, sein Leben ruinieren. Ja, ich weiß, was Sie sagen wollen: Er sei noch jung, unerfahren, dickköpfig und so weiter. Vielleicht stimmt das alles, aber spielt es eine Rolle? Er ist nun einmal so, wie er ist! Es würde ihm das Herz brechen! Doch wenn vor seiner Ankunft ein Unfall passiert, werden alle Fragen im Kummer um mich untergehen. Er wird meine Papiere durchsehen, nichts finden und höchstens ärgerlich sein, weil ich ihm so wenig erzählt habe. Doch er wird die Wahrheit nicht vermuten. Es ist die beste Lösung. Man muss für sein Glück bezahlen, und ich war so glücklich… und der Preis ist nicht hoch. Etwas Mut… ein Sprung… vielleicht eine Sekunde Angst…«

»Aber mein liebes Kind…«

»Versuchen Sie nicht, mich zu überreden!« Ihre Augen sprühten Funken. »Ich möchte die üblichen Argumente nicht hören! Mein Leben gehört mir! Bisher wurde ich gebraucht. John brauchte mich. Doch jetzt nicht mehr. Er braucht eine Freundin, eine Geliebte, und er wird sich ihr umso mehr zuwenden, wenn ich nicht mehr da bin. Mein Leben ist sinnlos geworden, mein Tod ist es nicht. Es ist mein gutes Recht, mit meinem Leben zu tun, was ich will.«

»Sind Sie sicher?«

Sein ernster Ton überraschte sie. Sie antwortete leicht stockend: »Es braucht mich niemand… das kann ich am besten beurteilen…«

Mr Sattersway unterbrach sie. »Nicht unbedingt«, meinte er.

»Was heißt das?«

»Hören Sie zu! Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen. Ein Mann kommt an einen verschwiegenen Ort, sagen wir, um Selbstmord zu begehen. Zufällig ist dort bereits jemand, deshalb kann er seinen Plan nicht ausführen und bleibt am Leben. Der zweite Mann hat also dem ersten das Leben gerettet, nicht weil er ihn brauchte oder in seinem Leben eine Rolle spielte, sondern weil er in einem gewissen Augenblick an einem bestimmten Ort war. Wenn Sie sich heute umbringen, wird vielleicht in fünf, sechs Jahren ein anderer Mensch sterben oder in sein Unglück laufen, nur weil Sie dann nicht zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort sein können. Vielleicht ist es ein wild gewordenes Pferd, das eine Straße entlangläuft, bei Ihrem Anblick scheut und so das Kind nicht zu Tode trampelt, das im Rinnstein spielt. Dieses Kind wächst heran und wird vielleicht ein großer Musiker oder entdeckt ein Mittel gegen den Krebs. Oder weniger dramatisch, es wächst heran und lebt ein durchschnittliches Leben mit all seinen Freuden und Leiden.«

Sie starrte ihn erstaunt an. »Was für ein seltsamer Mensch Sie sind. Was Sie da sagen… ich habe mir diese Dinge noch nie überlegt.«

»Sie finden, Ihr Leben gehöre Ihnen«, fuhr Mr Sattersway fort. »Doch haben Sie den Mut, die Möglichkeit zu bestreiten, dass Sie in einem gigantischen Drama unter der Leitung eines göttlichen Regisseurs mitspielen? Vielleicht kommt Ihr Stichwort erst am Ende des Stücks, vielleicht haben Sie gar keine Sprechrolle, und doch kann der Ausgang des Stücks von Ihnen abhängen, weil durch Ihr Fehlen ein Mitspieler seinen Einsatz vergisst. Das ganze Gebäude könnte einstürzen. Sie als Individuum müssen nicht unbedingt wichtig für jemanden sein, doch Sie als Person, die sich zu irgendeinem Zeitpunkt an irgendeinem Ort befindet, könnte unvorstellbar wichtig sein.«

Sie setzte sich, von seinen Worten beeindruckt. »Was soll ich tun?«, fragte sie nur.

Das war für Mr Sattersway der Augenblick des Triumphes. Er gab seine Befehle. »Ich verlange von Ihnen jetzt nur eines. Dass Sie in den nächsten vierundzwanzig Stunden nichts Unüberlegtes tun.«

Sie antwortete nicht sofort. Nach einer Pause meinte sie: »Einverstanden.«

»Ich habe noch etwas auf dem Herzen – eine Bitte.«

»Ja?«

»Lassen Sie den Laden in dem Zimmer, in das ich heute zuerst kam, unverschlossen, und halten Sie dort heute Abend Wache.«

Sie sah ihn neugierig an und nickte dann.

»Und jetzt«, erklärte Mr Sattersway, der die Folgen des anstrengenden Gesprächs zu spüren begann, »muss ich wirklich gehen. Gott segne Sie, meine Liebe!«

Er wirkte irgendwie verlegen. Das kräftige spanische Mädchen erwartete ihn im Gang und ließ ihn durch eine Seitentür hinaus. Neugierig blickte sie ihm nach.

Es wurde eben dunkel, als er im Hotel eintraf. Auf der Terrasse saß eine einsame Gestalt. Mr Sattersway ging zielstrebig auf sie zu. Er war aufgeregt, und das Herz klopfte ihm bis in den Hals. Er wusste, dass es unendlich wichtig war, wie er sich jetzt verhielt. Ein falscher Schritt…

Doch er bemühte sich, seine Aufregung zu verbergen und ganz ungezwungen und unverbindlich mit Anthony Cosdon zu reden.

»Ein warmer Abend«, bemerkte er. »Während ich auf der Klippe so dasaß, habe ich jedes Zeitgefühl verloren.«

»Sind Sie die ganze Zeit über dort gewesen?«

Mr Sattersway nickte. Die Schwingtür des Hotels öffnete sich, und ein Gast trat heraus. Dabei fiel ein Lichtstrahl auf Cosdon. Mr Sattersway sah das dumpfe Leid, die verständnislose Resignation auf Cosdons Gesicht.

Für ihn ist es schlimmer, als es für mich wäre, dachte Mr Sattersway. Fantasie, ein lebhafter Geist – die können einem sehr helfen. Sogar den Schmerz kann man damit bekämpfen. Das verständnislose blinde Leiden eines Tieres – das ist entsetzlich.

Plötzlich sagte Cosdon rau: »Ich gehe nach dem Essen noch etwas spazieren. Sie verstehen schon. Aller guten Dinge sind drei. Und ich bitte Sie inständig, sich nicht einzumischen. Ich weiß ja, dass Sie es gut meinen und so weiter, doch glauben Sie mir, es hat keinen Zweck!«

Mr Sattersway straffte sich. »Ich mische mich nie in anderer Leute Angelegenheiten«, erklärte er, womit er Sinn und Zweck seiner ganzen Existenz verleugnete.

»Ich weiß genau, was Sie denken…«, fuhr Cosdon fort.

Dann wurde er unterbrochen.

»Entschuldigen Sie«, sagte Mr Sattersway, »da bin ich nicht Ihrer Meinung. Kein Mensch kann wissen, was der andere denkt. Man bildet es sich nur ein, und meistens täuscht man sich.«

»Na ja, schon möglich.« Cosdons Stimme klang zweifelnd und leicht bestürzt.

»Es ist Ihr Leben«, sagte Mr Sattersway. »Niemand kann Ihre Entscheidung beeinflussen oder ändern. Unterhalten wir uns lieber über ein weniger schmerzliches Thema. Zum Beispiel diese alte Villa. Sie besitzt einen seltsamen Charme, so abgelegen und geschützt vor der Welt. Wer weiß, was für ein Geheimnis sie birgt. Ich geriet in Versuchung und habe probiert, ob ein Laden offen ist.«

»Das haben Sie getan?« Cosdon wandte ihm ruckartig das Gesicht zu. »Natürlich war er verschlossen?«

»Nein«, erwiderte Mr Sattersway. »Er war offen.« Dann fügte er freundlich hinzu: »Der Dritte von der Ecke aus.«

»Aber!«, rief Cosdon, »das war doch…«

Er schwieg, doch Mr Sattersway hatte den plötzlichen Hoffnungsschimmer in seinen Augen bemerkt.

Ein leichtes Unbehagen blieb bei Mr Sattersway zurück. Sein Lieblingsbild benutzend überlegte er, ob er die wenigen Sätze, die er in diesem Drama sprechen musste, auch richtig vorgebracht hatte. Denn es waren sehr wichtige Sätze gewesen.

Doch eigentlich war er mit sich als Schauspieler zufrieden. Auf dem Weg zu den Klippen würde Cosdon bestimmt feststellen wollen, ob der Laden offen war. Dieser Versuchung würde er nicht widerstehen können. Die Erinnerung an das Liebesabenteuer vor über zwanzig Jahren hatte ihn an diesen Ort geführt. Dieselbe Erinnerung würde ihn zu dem Haus locken. Und danach?

Morgen werde ich es wissen, dachte er, während er sich zum Abendessen umzog.

Am nächsten Morgen gegen zehn Uhr setzte Mr Sattersway erneut den Fuß in den Garten von La Paz. Manuel wünschte ihm lächelnd einen guten Morgen und reichte ihm eine Rosenknospe, die sich Mr Sattersway sorgfältig ins Knopfloch steckte. Dann schlenderte er auf das Haus zu. Ein paar Minuten stand er da und betrachtete das friedliche weiße Haus, die verblassten grünen Läden. Alles war still. Hatte er etwa nur geträumt?

In diesem Augenblick öffnete sich eine Fenstertür, und die Frau, mit der sich Mr Sattersway in Gedanken beschäftigt hatte, trat heraus. Mit federnden Schritten, als könne sie ihr Glück kaum fassen, kam sie auf Mr Sattersway zu. Ihre Augen leuchteten, ihre Wangen waren gerötet, eine strahlende Verkörperung der Freude. Kein Zögern, kein Zagen, kein Zittern war mehr an ihr zu bemerken. Sie ging direkt auf Mr Sattersway zu, legte ihm die Hände auf die Schultern und küsste ihn, nicht nur einmal, sondern immer wieder. Wie große dunkelrote Rosen, sehr samtig – so sah er es, wenn er später an die Szene zurückdachte. Sonnenschein, Sommer, zwitschernde Vögel – das alles wurde ihm plötzlich sehr stark bewusst. Wärme, Kraft und eine ungeheure Lebensfreude…

»Ich bin so glücklich!«, rief sie. »Wieso wussten Sie es? Wie konnten Sie es überhaupt wissen? Sie sind wie die gute Fee im Märchen.« Sie schwieg atemlos, als könne sie vor Freude nicht weitersprechen. Dann holte sie tief Luft und sagte:

»Wir fahren heute hinüber… zum Konsul… und lassen uns trauen. Wenn John eintrifft, wartet sein Vater schon auf ihn. Wir erzählen ihm einfach, dass es irgendwelche Missverständnisse gegeben hat. Ach, er wird keine Fragen stellen! Oh, ich bin so glücklich… so glücklich!«

Sie strahlte soviel Glück und Freude aus, dass sich Mr Sattersway wie von einer warmen, heiteren Welle umspült fühlte.

»Anthony findet es großartig, dass er einen Sohn hat. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass es ihm wichtig ist.« Voll Vertrauen sah sie Mr Sattersway in die Augen. »Ist es nicht seltsam, wie sich am Ende immer alles zum Guten wendet?«

Da hatte er zum ersten Mal ein ganz klares Bild von ihr. Sie war immer noch ein Kind, mit ihrer Vorliebe für eine Scheinwelt, für Märchen, die stets gut endeten… »und sie lebten glücklich bis an ihr Ende…«

»Wenn Sie Freude in die letzten Monate seines Lebens bringen«, sagte Mr Sattersway, »dann ist dies in der Tat ein großes Glück.«

Sie riss erstaunt die Augen auf. »Aber!«, rief sie, »Sie glauben doch nicht, dass ich es zulasse? Er darf nicht sterben! Nach all den Jahren… wenn er endlich zu mir gekommen ist! Ich kenne eine Menge Leute, die die Ärzte aufgegeben hatten und die heute noch leben! Wieso sterben? Natürlich wird er nicht sterben!«

Er sah sie an. Was für eine Kraft sie ausstrahlte, was für Lebensfreude, welchen Mut. Und wie schön sie war! Auch er kannte einige Ärzte, die sich in der Diagnose einmal getäuscht hatten. Der persönliche Einfluss – man wusste nie, wie viel oder wie wenig er zählte.

Voll Verachtung und Belustigung sagte sie: »Sie glauben doch nicht, dass ich so etwas zulasse? Dass er stirbt?«

»Nein«, erwiderte Mr Sattersway schließlich sehr freundlich. »Irgendwie, meine Liebe, werden Sie es nicht zulassen.«

Kurz darauf schritt Mr Sattersway den Zypressenpfad entlang, bis zu der Bank auf dem Plateau. Dort saß schon jemand, wie er es erwartet hatte. Mr Quin stand auf und begrüßte ihn. Er sah aus wie immer – dunkel, schwermütig.

»Sie hatten vermutet, dass ich hier sein würde?«, fragte er lächelnd.

»Ja«, antwortete Mr Sattersway nur.

Sie setzten sich nebeneinander auf die Bank.

»Ich habe so eine Ahnung, dass Sie wieder einmal Schicksal gespielt haben«, meinte Mr Quin. »Nach Ihrer Miene zu schließen«, fügte er hinzu.

Mr Sattersway sah ihn vorwurfsvoll an. »Als ob Sie es nicht wüssten!«

»Sie beschuldigen mich ständig der Allwissenheit«, sagte Mr Quin.

»Wenn Sie keine Ahnung hatten, warum waren Sie dann vorletzte Nacht hier?«, entgegnete Mr Sattersway.

»Ach, das…«

»Ja?«

»Ich sollte einen… Auftrag ausführen.«

»Für wen?«

»Sie haben mich einmal sehr fantasievoll als den Fürsprecher der Toten bezeichnet.«

»Der Toten?«, wiederholte Mr Sattersway leicht verblüfft. »Ich verstehe Sie nicht.«

Mr Quin wies mit einem langen dünnen Finger auf das blaue Meer tief unter ihnen. »Vor mehr als zwanzig Jahren ist dort ein Mann ertrunken.«

»Ich weiß… doch ich begreife nicht, wieso…«

»Angenommen, der Mann liebte seine junge Frau, trotz allem. Die Liebe kann den Menschen zum Teufel oder Engel machen. Sie betete ihn auf eine mädchenhafte Art an, doch das Weibliche in ihr konnte er nie erreichen, und das machte ihn halb wahnsinnig. Er quälte sie, weil er sie liebte. Solche Dinge passieren immer wieder. Das wissen Sie genauso gut wie ich.«

»Ja«, musste Mr Sattersway zugeben. »Ich habe so etwas schon erlebt, doch sehr selten, sehr selten…«

»Und Sie haben auch schon miterlebt, wie jemand bereute, dass es so etwas wie Reue gibt… den Wunsch, wieder gutzumachen… koste es, was es wolle…«

»Ja, aber er starb zu früh…«

»Was ist der Tod?« Verachtung schwang in Mr Quins Stimme mit. »Sie glauben doch an ein Leben nach dem Tod, nicht wahr? Und wer sagt Ihnen, dass es nicht die gleichen Wünsche, die gleichen Bedürfnisse gibt? Und wenn der Wunsch stark genug ist, findet sich vielleicht ein Bote.«

Seine Stimme verklang.

Ein wenig zitternd stand Mr Sattersway auf. »Ich muss wieder ins Hotel«, sagte er. »Wenn Sie den gleichen Weg haben…«

Mr Quin schüttelte den Kopf. »Nein«, erwiderte er. »Ich kehre auf demselben Weg zurück, den ich gekommen bin.«

Mr Sattersway ging davon. Als er über die Schulter zurückblickte, sah er, wie sein Freund auf den Klippenrand zutrat.