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Mr Sattersway wusste selbst nicht genau, warum er die Einladung angenommen hatte. Die Denmans gehörten nicht zu den Kreisen, in denen er gewöhnlich verkehrte, weder bewegten sie sich in der großen Welt, noch waren sie Künstler, die Mr Sattersway besonders mochte. Sie waren Philister, und dazu noch langweilige Philister. Mr Sattersway hatte sie in Biarritz kennen gelernt und damals ihre Einladung, sie zu besuchen, angenommen. Er hatte sich in ihrem Haus gelangweilt und war doch immer wiedergekommen – wirklich höchst seltsam. Und jetzt war er erneut zu ihnen unterwegs.
Warum? Diese Frage stellte er sich an jenem 21. Juni wieder, während er in seinem Rolls-Royce dahinglitt und sich immer weiter von London entfernte.
John Denman war vierzig Jahre alt, ein solider, angesehener Geschäftsmann. Seine Freunde waren nicht Mr Sattersways Freunde, und seine Gedankenwelt war eine andere. Denman war zwar in seinem Beruf sehr erfolgreich, doch Fantasie besaß er nicht.
Warum fahre ich nur hin?, überlegte Mr Sattersway. Und die Antwort, die ihm einfiel, war so seltsam und unglaublich, dass er sie am liebsten verdrängt hätte. Denn der wahre Grund für seinen Besuch war der Umstand, dass ein Zimmer des Hauses – übrigens ein bequemes, gepflegtes Haus – seine Neugier besonders reizte. Es handelte sich um Mrs Denmans Wohnzimmer.
Nicht dass es eine besondere Ausstrahlung besaß. Soweit Mr Sattersway es beurteilen konnte, besaß Mrs Denman keine Persönlichkeit. Er hatte noch nie eine Frau getroffen, die so farblos war wie sie. Sie war eine gebürtige Russin. John Denman hatte sich beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Russland aufgehalten und dann bei den russischen Truppen gekämpft. In den Wirren der Revolution wäre er beinahe umgekommen. Er brachte eine Russin nach England mir, ein Flüchtlingsmädchen ohne Geld. Gegen den Willen seiner Eltern hatte er sie geheiratet.
Mrs Denmans Wohnzimmer war in keiner Weise bemerkenswert. Es war solide eingerichtet, mit stabilen Hepplewhite-Möbeln, und besaß eher eine maskuline Note als weiblichen Charme. Nur ein Gegenstand passte nicht zu der übrigen Einrichtung: ein chinesischer Lackwandschirm in hellem Gelb und blassem Rosa. Jedes Museum hätte sich glücklich geschätzt, ihn zu besitzen. Es war ein seltenes und schönes Sammlerstück!
In diesem würdevollen englischen Zimmer wirkte er völlig fehl am Platz. Der Wandschirm hätte der Mittelpunkt eines Raumes sein müssen, um den herum sich alle übrigen Dinge harmonisch gruppierten. Und doch konnte Mr Sattersway den Denmans nicht vorwerfen, sie besäßen keinen Geschmack, denn das übrige Haus war perfekt eingerichtet.
Er schüttelte den Kopf. So unwichtig diese Sache auch war, sie beschäftigte ihn. Nur deshalb kam er wieder und wieder in dieses Haus. Vielleicht war es nur die Laune einer Frau, doch diese Lösung überzeugte ihn nicht. Mrs Denman war eine zu nüchterne Person mit harten Zügen, die so korrekt Englisch sprach, dass kein Mensch sie für eine Ausländerin hielt.
Sein Wagen hielt vor dem Haus, und Mr Sattersway stieg aus, in Gedanken immer noch mit dem chinesischen Wandschirm beschäftigt. Das Anwesen hieß Ashmead, hatte fünf Morgen Grund und lag in Melton Heath, einem dreißig Meilen von London entfernt gelegenen Ort, der sich etwa zweihundertfünfzig Meter über dem Meer erhob und zum größten Teil von Leuten bewohnt wurde, die über ein großzügiges Einkommen verfügten.
Der Butler empfing Mr Sattersway sehr zuvorkommend. Mr und Mrs Denman seien nicht da – sie waren bei einer Probe –, und er solle sich ganz wie zuhause fühlen. Sie seien bald zurück.
Mr Sattersway befolgte den guten Rat und schlenderte durch den Garten. Nachdem er die Blumenbeete inspiziert hatte, spazierte er einen schattigen Weg entlang und stand plötzlich vor einer Pforte, die nicht verschlossen war. Er ging hindurch. Dahinter lag eine schmale Straße.
Mr Sattersway blickte nach rechts und nach links. Es war eine ganz reizende Straße, die nach guter alter Art viele Kurven hatte. Mr Sattersway fiel die Adresse auf der Einladung ein, die ihm seine Gastgeber geschickt hatten: Ashmead, Harlequins Lane. Ihm fiel auch ein, dass die Bewohner des Ortes noch einen anderen Namen für die Straße hatten. Mrs Denman hatte es ihm einmal erzählt.
»Die Straße des Harlekin«, murmelte Mr Sattersway. »Ich frage mich, ob…« Er bog um eine Kurve.
Später grübelte er darüber nach, warum er nicht erstaunt war, als er plötzlich einem Freund gegenüberstand, einem sehr eigenwilligen Freund: Mr Harley Quin. Die beiden Männer schüttelten sich die Hand.
»Sie sind auch hier!«, rief Mr Sattersway.
»Ja. Ich wohne im selben Haus wie Sie.«
»Sie wohnen dort?«
»Ja. Erstaunt Sie das?«
»Nein«, antwortete Mr Sattersway zögernd. »Nur – Sie bleiben nie lange am gleichen Ort, nicht wahr?«
»Nur so lange, wie es notwendig ist«, erwiderte Mr Quin. »Ich verstehe.«
Ein paar Minuten gingen sie schweigend weiter.
»Diese Straße …«, begann Mr Sattersway und brach ab.
»Gehört mir«, ergänzte Mr Quin.
»Das dachte ich mir. Irgendwie hatte ich es vermutet. Sie hat noch einen anderen Namen. Die Leute im Ort nennen sie auch Lovers Lane, die Straße der Liebenden. Wussten Sie das?«
Mr Quin nickte. »Vermutlich gibt es in jedem Ort eine solche Straße.«
»Vermutlich.« Mr Sattersway seufzte. Er kam sich plötzlich alt vor, nicht mehr auf dem Laufenden, ein kleiner, vertrockneter Kauz.
»Wo wohl die Straße endet?«, fragte er.
»Sie endet – hier«, erwiderte Mr Quin.
Sie hatten die letzte Biegung erreicht. Dahinter lag eine Abfallhalde. Beinah vor ihren Füßen öffnete sich eine große Grube. Dort blitzten Dosen in der Sonne, andere waren so verrostet, dass sich kein Sonnenstrahl mehr in ihnen verfing. Alte Schuhe lagen da, Zeitungen und Papier und Hunderte von anderen Dingen, für die sich kein Mensch mehr interessierte.
»Eine Müllhalde«, rief Mr Sattersway und schnaufte empört.
»Manchmal kann man dort die schönsten Dinge entdecken«, meinte Mr Quin.
»Ich weiß, ich weiß«, sagte Mr Sattersway und zitierte etwas selbstgefällig: »›Bringt mir die beiden schönsten Dinge in dieser Stadt!‹ sagte Gott. Sie wissen, wie es weitergeht?«
Mr Quin nickte.
Mr Sattersway blickte zu einem eingefallenen kleinen Haus, das am Rand der Grube stand. »Eine nicht besonders schöne Aussicht!«, meinte er.
»Ich glaube, damals war es noch keine Müllgrube«, antwortete Mr Quin. »Soviel ich weiß, wohnten die Denmans nach ihrer Heirat zuerst dort. Als die alten Leute starben, zogen sie in das große Haus. Dann begann man den Steinbruch auszubeuten, und das Haus verfiel.«
Sie wandten sich ab und schlenderten zurück.
»Sicherlich kommen an warmen Sommerabenden viele Liebespaare her«, sagte Mr Sattersway lächelnd.
»Wahrscheinlich.«
»Liebende«, sagte Mr Sattersway. Nachdenklich wiederholte er das Wort, ohne die übliche Verlegenheit, die einen Engländer bei solchen Ausdrücken gewöhnlich befällt. Das lag an Mr Quins Gegenwart.
Der andere nickte, ohne etwas zu erwidern.
»Sie haben Liebenden Kummer erspart, ja, mehr noch, sie vor dem Tod gerettet. Und Sie waren der Anwalt der Toten«, sagte Mr Sattersway.
»Ich glaube, Sie sprechen eher von sich selbst. Was Sie getan haben. Nicht, was ich getan habe.«
»Es kommt aufs Selbe heraus«, antwortete Mr Sattersway. »Das wissen Sie sehr gut! Sie haben gehandelt – durch mich. Aus irgendwelchen Gründen wollen Sie persönlich nicht offen in Aktion treten.«
»Manchmal tue ich es«, sagte Mr Quin.
In seiner Stimme schwang ein neuer Ton mit. Gegen seinen Willen erschauerte Mr Sattersway ein wenig. Es begann kühl zu werden, fand er. Doch die Sonne stand so hell am Himmel wie vorher.
In diesem Augenblick tauchte eine junge Frau an der nächsten Biegung vor ihnen auf. Sie war sehr hübsch, mit blondem Haar und blauen Augen, und trug einen rosafarbenen Baumwollrock. Mr Sattersway erkannte sie sofort. Es war Molly Stanwell, der er früher schon begegnet war.
Sie winkte ihnen grüßend zu. »John und Anna mussten wieder weg«, rief sie. »Sie wussten zwar, dass Sie eintreffen, aber sie wollten unbedingt bei der Probe dabei sein.«
»Was wird denn geprobt?«, fragte Mr Sattersway.
»Eine große Maskerade. Ich weiß auch nicht, wie man es richtig nennt. Es wird viel gesungen und getanzt und all so was. Mr Manly – Sie erinnern sich doch an ihn? – hat eine gute Stimme. Er spielt den Pierrot, ich bin Pierrette. Zwei echte Tänzer wurden für die Hauptrollen engagiert – für Harlekin und Kolombine, wissen Sie. Und ein Haufen Mädchen werden tanzen. Lady Roscheimer möchte die Dorfmädchen unbedingt im Singen unterrichten. Sie gibt sich wirklich große Mühe. Die Musik ist ganz nett, aber sehr modern, fast keine richtigen Melodien. Von Claude Wickam. Vielleicht kennen Sie ihn?«
Mr Sattersway nickte. Er kannte viele Leute. Das war mehr oder weniger sein Hobby. Er wusste über das ehrgeizige Genie Claude Wickam Bescheid und auch über Lady Roscheimer, eine dicke Person mit einer Schwäche für junge Männer, die einen Hang zur Kunst hatten. Und er war auch über Sir Leopold Roscheimer informiert, den es freute, wenn seine Frau glücklich war, und dem es nichts ausmachte, wenn sie es auf ihre Weise tat. Eine seltene Eigenschaft bei Ehemännern.
Sie lernten Claude Wickam beim Tee kennen. Er stopfte sich den Mund mit allem voll, was ihm in die Finger geriet, redete ununterbrochen und gestikulierte heftig mit seinen schmalen weißen Händen. Er war kurzsichtig und trug eine dicke Hornbrille.
John Denman, sehr aufrecht, rosig, etwas ölig, lauschte mit einem Ausdruck gelangweilter Aufmerksamkeit. Wie es Mr Sattersway schien, unterhielt sich Wickam nur mit Denman. Anna Denman saß hinter der Teekanne, wie immer schweigsam und ausdruckslos.
Mr Sattersway warf ihr verstohlen einen Blick zu. Sie war groß, hager, mit schwarzem, in der Mitte gescheiteltem Haar und wettergegerbter Haut, die sich über den hohen Backenknochen spannte. Eine Frau, die viel Zeit im Freien verbrachte und nicht viel für Kosmetika übrig hatte. Wie eine Holzpuppe, leblos… und trotzdem…
Ja, dachte Mr Sattersway, hinter diesem Gesicht steckt mehr, nur merkt man es nicht. »Wie bitte«, sagte er zu Claude Wickam. »Was haben Sie eben gesagt?«
Claude Wickam, der sich gern reden hörte, begann noch einmal von vorn. Russland, so meinte er, sei das einzige interessante Land auf dieser Erde. Dort experimentiere man noch. »Ein großartiges Land!«, rief er und stopfte sich ein Sandwich in den Mund. »Nehmen Sie nur das russische Ballett«, fuhr er mit vollem Mund fort. Er erinnerte sich an seine Gastgeberin und wandte sich an sie. Was sie denn vom russischen Ballett halte?
Offensichtlich war die Frage nur als Einleitung zu der wichtigen Überlegung gedacht, was Wickam selbst davon hielt, aber die Antwort seiner Gastgeberin war so ungewöhnlich, dass er den Faden verlor.
»Ich habe es nie gesehen.«
»Wie bitte?« Er starrte sie entgeistert an. »Aber… sicherlich…«
Ihre Stimme war ausdruckslos wie immer. »Vor meiner Heirat war ich Tänzerin. Deshalb…«
»Eulen nach Athen tragen«, sagte ihr Mann.
»Tanzen!« Sie zuckte mit den Achseln. »Ich kenne alle Tricks. Es interessiert mich nicht.«
»Ach!« Es dauerte ein paar Augenblicke, bis Wickam seine Fassung wiedergewann.
»Wenn wir schon von Experimenten sprechen«, sagte Mr Sattersway, »so ist den Russen eines besonders geglückt.«
Claude Wickam wirbelte herum. »Ich weiß, wen Sie meinen!«, rief er. »Sie meinen die Kharsanowa! Die unsterbliche, die einzige Kharsanowa! Haben Sie sie tanzen gesehen?«
»Dreimal«, erwiderte Mr Sattersway. »Zweimal in Paris, einmal in London. Ich werde es nie vergessen.«
Er sprach mit fast andächtiger Stimme.
»Ich habe sie auch gesehen«, sagte Wickam. »Ich war erst zehn. Ein Onkel nahm mich mit. Mein Gott! Es ist mir ewig unvergesslich.«
Begeistert warf er ein Stück Kuchen in ein Blumenbeet.
»In einem Berliner Museum steht eine kleine Statue von ihr«, sagte Mr Sattersway. »Sie ist zauberhaft. Diese Zerbrechlichkeit – als könnte man sie mit einem Fingerschrippen zerbrechen. Ich habe sie als Kolombine gesehen, als den sterbenden Schwan.« Er schwieg und schüttelte den Kopf. »Was für eine Begabung. Eine Tänzerin wie sie kommt so schnell nicht wieder. Sie war noch so jung. In den ersten Tagen der Revolution kam sie ums Leben, sinnlos gemordet.«
»Dummköpfe! Verrückte! Affen!«, rief Wickam. Er verschluckte sich an seinem Tee.
»Ich habe mit der Kharsanowa studiert«, sagte Mrs Denman. »Ich erinnere mich noch gut an sie.«
»Sie war wundervoll, nicht wahr?«, sagte Mr Sattersway.
»Ja, ganz wundervoll!«
Dann verabschiedete sich Wickam. Als er verschwunden war, seufzte John Denman erleichtert, worüber seine Frau lachen musste.
Mr Sattersway nickte. »Ich weiß, was Sie denken. Aber trotz allem – die Musik, die der Junge komponiert, ist noch echte Musik.«
»Vermutlich«, antwortete Denman trocken.
»Ganz bestimmt. Wie lange es allerdings dauert, das ist etwas anderes.«
John Denman blickte ihn neugierig an. »Was meinen Sie damit?«
»Er hatte schon so früh Erfolg. Das ist gefährlich. War es immer.« Er sah Mr Quin an. »Finden Sie nicht auch?«
»Sie haben immer Recht!«, entgegnete Mr Quin.
»Gehen wir doch in mein Wohnzimmer hinauf«, sagte Mrs Denman. »Es ist so angenehm dort.«
, Sie ging ihnen voraus, und die Herren folgten ihr. Mr Sattersway holte tief Luft, als er den chinesischen Wandschirm sah. Da merkte er, dass Mrs Denman ihn beobachtete.
»Sie sind ein Mann, der vieles weiß«, sagte sie und nickte ihm leicht zu. »Was halten Sie von meinem Wandschirm?«
Er fand, dass ihre Frage in gewisser Weise eine Herausforderung war, und deshalb antwortete er nur zögernd, fast stotternd. »Nun, er ist… er ist schön. Mehr noch, er ist einzigartig.«
»Das stimmt«, sagte Denman, der zu ihnen getreten war. »Wir haben ihn bald nach unserer Heirat gekauft. Wir bekamen ihn für ein Zehntel seines Werts, trotzdem – nun, wir haben über ein Jahr daran zu kauen gehabt. Erinnerst du dich, Anna?«
»Ja. Sehr gut.«
»Eigentlich hätten wir ihn damals gar nicht kaufen dürfen. Heute ist das natürlich etwas anderes. Kürzlich war eine sehr interessante Auktion bei Christies. Genau die richtigen Gegenstände, um diesen Raum vollkommen zu machen. Nur chinesische Möbel. Dann hätten wir den ganzen anderen Kram verschwinden lassen können. Ob Sie’s glauben oder nicht, Sattersway, meine Frau wollte nichts davon hören.«
»Mir gefällt das Zimmer, wie es ist«, erklärte Mrs Denman.
Ein seltsamer Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. Wieder war Mr Sattersway irgendwie beunruhigt. Er blickte um sich und bemerkte zum ersten Mal, dass der Raum völlig unpersönlich war. Keine Fotografien, keine Blumen, keine Nippsachen. Sicherlich nicht das Zimmer einer Frau. Wenn der schöne Wandschirm nicht gewesen wäre, hätte man es für den Ausstellungsraum eines Möbelhauses halten können.
»Es ist nämlich so«, sagte Mrs Denman und lächelte ihn an, »dass wir diesen Wandschirm nicht nur mit Geld gekauft haben, sondern auch mit Liebe. Ich glaube, Sie verstehen, was ich meine. Weil er so schön und einzigartig war, hatten wir uns in ihn verliebt und verzichteten auf andere Dinge, auf Dinge, die wir eigentlich gebraucht hätten und die uns fehlten. Diese anderen chinesischen Einrichtungsgegenstände, von denen mein Mann sprach, würden wir nur mit Geld kaufen, nicht auch mit unserem Herzen.«
Ihr Mann lachte. »Na, wie du willst«, sagte er mit einer Spur Missbilligung in der Stimme. »Aber es ist so unharmonisch. Das englische Zeug ist auf seine Art ja ganz ordentlich, solide, echt – aber mittelmäßig.«
Sie nickte. »Gute, solide englische Ware«, murmelte sie.
Mr Sattersway starrte sie nachdenklich an. Er glaubte, einen verborgenen Sinn aus ihren Worten herauszuhören. Dieser mit gediegenen englischen Möbeln eingerichtete Raum, dazu der prachtvolle Wandschirm – nein, er kam nicht dahinter.
»Wir begegneten Miss Stanwell«, sagte er, das Thema wechselnd. »Draußen, in der schönen Straße hinter dem Haus. Sie erzählte, dass sie in der Vorstellung von heute Abend die Pierrette spielt.«
»Ja«, erwiderte Mr Denman. »Sie ist hervorragend.«
»Sie bewegt sich zu unbeholfen«, meinte seine Frau.
»Unsinn«, sagte Mr Denman. »Alle Frauen sind gleich, Sattersway. Vertragen es nicht, wenn man eine andere lobt. Molly ist ein hübsches Mädchen, und deshalb redet jede andere Frau schlecht von ihr.«
»Ich sprach vom Tanzen«, erwiderte Mrs Denman. Es klang etwas erstaunt. »Sie ist sehr hübsch, natürlich, doch ihre Füße bewegen sich nicht leicht genug. Du kannst mir da nichts vormachen. Vom Tanzen verstehe ich etwas.«
Mr Sattersway kam Mr Denman taktvoll zu Hilfe. »Wie ich hörte, sollen zwei richtige Balletttänzer herkommen?«
»Ja. Sie tanzen das eigentliche Ballett. Prinz Oranoff bringt sie in seinem Wagen mit.«
»Sergius Oranoff?«
Die Frage kam von Mrs Denman. Ihr Mann sah sie verwundert an.
»Du kennst ihn?«
»Ich habe ihn einmal gekannt – damals in Russland.«
Mr Sattersway hatte den Eindruck, dass John Denman beunruhigt war.
»Wird er dich wiedererkennen?«
»Ja, er wird mich wiedererkennen.«
Sie lachte, ein tiefes, fast triumphierendes Lachen. Nichts mehr an ihr erinnerte jetzt noch an eine hölzerne Puppe. Sie nickte ihrem Mann tröstend zu. »Der gute Sergius. Er bringt also die beiden Tänzer her. Er war schon immer am Tanzen interessiert.«
»Ich erinnere mich.«
John Denman schwieg abrupt, drehte sich um und verließ den Raum. Mr Quin folgte ihm. Mrs Denman ging zum Telefon und wählte. Mit einer energischen Geste hielt sie Mr Sattersway zurück, der ebenfalls hinausgehen wollte.
»Könnte ich Lady Roscheimer sprechen? Ach, Sie sind es selbst. Hier ist Anna Denman. Ist Prinz Oranoff schon eingetroffen? Was? Ach, mein Gott! Wie schrecklich!«
Sie lauschte noch ein paar Augenblicke, dann legte sie auf. Sie wandte sich an Mr Sattersway und sagte:
»Es hat einen Unfall gegeben. So wie Sergius fährt, muss man immer darauf gefasst sein. In all den Jahren hat er sich offensichtlich nicht verändert. Das Mädchen ist nicht sehr verletzt, nur eine Quetschung, und dazu der Schreck. Jedenfalls kann sie heute Abend nicht tanzen. Der Mann hat sich den Arm gebrochen. Sergius selbst ist nichts passiert. Der Teufel kümmert sich immer um seinesgleichen, wie es so schön heißt.«
»Und was ist mit der Aufführung heute Abend?«
»Eben, mein Freund! Es muss etwas geschehen!«
Sie setzte sich und überlegte. Plötzlich blickte sie auf und meinte: »Ich bin eine schlechte Gastgeberin, Mr Sattersway. Ich kümmere mich überhaupt nicht um Sie.«
»Ich versichere Ihnen, es macht mir nichts aus. Obwohl es da eine Sache gibt, Mrs Denman, die ich sehr gern wissen möchte.«
»Ja?«
»Wie sind Sie auf Mr Quin gestoßen?«
»Er ist oft hier«, antwortete sie nachdenklich. »Ich glaube, ihm gehört hier etwas Grund.«
»Das stimmt. Er hat es mir heute Nachmittag selbst erzählt«, erwiderte Mr Sattersway.
»Er ist so…« Sie schwieg. Ihre Blicke trafen sich. »Ich meine, dass Sie ihn viel besser kennen als ich«, schloss sie.
»Ich?«
»Habe ich nicht Recht?«
Er war unsicher. Seine friedliche kleine Seele fand sie beunruhigend. Offenbar wollte sie ihn zwingen, mehr zu sagen, als er zu sagen bereit war. Er sollte in Worte fassen, was er nicht einmal sich selbst eingestehen wollte.
»Sie wissen Bescheid«, sagte sie. »Ich glaube, Sie wissen vieles, Mr Sattersway.«
Das war eine Schmeichelei, doch ausnahmsweise beflügelte sie Mr Sattersway nicht. Er schüttelte in ungewohnter Bescheidenheit den Kopf. »Was weiß der Mensch schon?«, sagte er. »So wenig – ach, so wenig!«
Sie nickte. Dann nahm sie den Faden wieder auf und sagte in seltsam bedrücktem Ton:
»Angenommen, ich erzähle Ihnen ein Geheimnis – würden Sie mich auslachen? Nein, Sie würden es nicht tun. Angenommen also, dass man zu seiner Fantasie Zuflucht nimmt, um…«, sie schwieg einen Augenblick,»… um weiterarbeiten, weiterleben zu können. Dass man sich etwas einredet, das es in Wahrheit gar nicht gibt, dass man sich eine gewisse Person erträumt… Sie verstehen, man macht sich etwas vor, nichts weiter. Doch eines Tages…«
»Ja?«, ermunterte Mr Sattersway sie. Er war höchst neugierig.
»Eines Tages bewahrheitet sich der Traum. Alles, was man sich in seiner Fantasie vorgestellt hatte, das Unmögliche, das Unglaubliche… wurde wahr! Ist das Wahnsinn? Sagen Sie es mir, Mr Sattersway! Ist das Wahnsinn, oder glauben Sie auch an so etwas?«
»Ich…« Seltsam, dass er nicht imstande war, etwas zu erwidern. Die Worte schienen ihm in der Kehle stecken zu bleiben.
»Verrückt«, sagte Mrs Denman. »Völlig verrückt!«
Sie rauschte aus dem Zimmer und ließ Mr Sattersway mit seinem unausgesprochenen Glaubensbekenntnis allein zurück.
Als Mr Sattersway zum Abendessen hinunterkam, unterhielt sich Mrs Denman mit einem anderen Gast, einem großen dunkelhaarigen Mann mittleren Alters. Sie machte ihn sogleich mit ihm bekannt: »Prinz Oranoff – Mr Sattersway.«
Die beiden Männer verbeugten sich. Mr Sattersway hatte den Eindruck, dass er durch sein Erscheinen ein Gespräch unterbrochen hatte, das nun nicht wieder aufgenommen wurde. Doch nichts deutete auf irgendwelche Spannungen hin. Der Russe unterhielt sich mit Mr Sattersway über Themen, die diesem besonders am Herzen lagen. Er war ein Mann von feinem Kunstverstand, und sie stellten bald fest, dass sie viele gemeinsame Freunde besaßen. John Denman trat zu ihnen, und Oranoff drückte sein Bedauern über den Autounfall aus.
»Es war nicht meine Schuld. Zwar liebe ich die Geschwindigkeit, aber ich bin ein guter Fahrer. Es war Schicksal – oder Zufall.« Er zuckte die Achseln. »Man kann nichts dagegen machen.«
»Da spricht der Russe aus Ihnen, Sergius«, sagte Mrs Denman.
»Verwandte Seelen, Anna«, sagte er schlagfertig.
Mr Sattersway blickte sie der Reihe nach an. John Denman, hellhäutig, sicher, englisch, und die beiden anderen, dunkel, schlank, sich seltsam ähnlich. In seiner Erinnerung begann es sich zu regen – was war es noch? Ach, ja! Jetzt fiel es ihm wieder ein: der erste Akt der Walküre. Sigmund und Sieglinde – so ähnlich – und der fremde Hunding. Seine Gedanken schweiften ab. War deshalb Mr Quin hier? Denn an eines glaubte er ganz fest: Wo immer Mr Quin auftauchte, war eine menschliche Tragödie nicht fern. Oder war dies hier nichts weiter als die übliche Dreiecksgeschichte?
Irgendwie war er enttäuscht. Er hatte sich mehr erhofft.
»Was hast du unternommen, Anna?«, fragte Denman. »Sicherlich wird die Vorstellung abgesagt. Ich hörte dich mit der Roscheimer telefonieren.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das ist nicht nötig.«
»Aber ohne Ballett geht es doch nicht?«
»Natürlich kann man ohne Harlekin und Kolombine kein komisches Stück aufführen«, stimmte ihm seine Frau trocken zu. »Ich tanze die Kolombine.«
»Du?« Er war erstaunt und beunruhigt, wie Mr Sattersway schien.
Sie nickte würdevoll. »Keine Angst, John, ich mache dir keine Schande. Du vergisst, dass es einmal mein Beruf war.«
Was für eine seltsame Sache das doch mit einer Stimme ist, dachte Mr Sattersway. Man kann etwas ausdrücken oder weglassen, obwohl man es sagt…
»Na ja«, meinte John Denman nicht sehr begeistert. »Das löst das halbe Problem. Wo willst du einen Harlekin finden?«
»Ich habe ihn schon gefunden – dort.«
Sie deutete auf die Tür, in der Mr Quin eben aufgetaucht war. Mr Quin lächelte sie an.
»Guter Gott, Quin!«, rief Denman. »Hatten Sie von der ganzen Sache eine Ahnung? Ich hätte mir so etwas nicht im Traum einfallen lassen.«
»Ein Fachmann verbürgt sich für Mr Quin«, sagte seine Frau. »Mr Sattersway wird dir die Antwort darauf geben.«
Mrs Denman nickte Mr Sattersway zu, der zu seiner Verblüffung plötzlich murmelte: »O ja, ich – ich bürge für ihn.«
Mr Denman wandte seine Aufmerksamkeit einem andern Thema zu. »Nach der Aufführung findet ein Maskenball statt. Ein großer Blödsinn. Wir werden Sie ordentlich ausstaffieren müssen, Mr Sattersway.«
Mr Sattersway schüttelte energisch den Kopf. »Mein Alter wird mich entschuldigen«, antwortete er. Dann fiel ihm etwas ein. »Man gebe mir eine Serviette! Ich klemme sie mir unter den Arm und spiele einen ältlichen Ober, der mal bessere Tage gesehen hat.«
Er lachte.
»Ein interessanter Beruf«, meinte Mr Quin. »In dem man viel erlebt.«
»Ich soll mich als Pierrot verkleiden«, bemerkte Denman düster. »Auf jeden Fall werde ich nicht schwitzen. Wie steht’s mit Ihnen?« Er blickte Oranoff an.
»Ich habe ein Harlekinkostüm«, erwiderte der Russe. Sein Blick wanderte kurz zu seiner Gastgeberin hinüber.
Mr Sattersway glaubte für einen Augenblick, eine gewisse Spannung zwischen den beiden zu spüren.
»Beinahe wären wir zu dritt gewesen«, sagte Denman und lachte. »Meine Frau hat mir mal ein solches Kostüm genäht, als wir gerade verheiratet waren, zu irgendeinem Anlass, den ich vergessen habe.« Er sah an sich hinunter. »Ich glaube nicht, dass ich heute noch hineinpasse.«
»Heute nicht mehr«, sagte seine Frau. Wieder lag eine seltsame Betonung in ihren Worten. Sie sah auf die Uhr. »Wenn Molly nicht bald kommt, können wir nicht länger warten.«
In diesem Augenblick erschien sie. Sie trug bereits ihr weiß-grünes Narrenkostüm und sah darin ganz reizend aus, wie Mr Sattersway fand.
Sie war sehr aufgeregt über ihren bevorstehenden Auftritt. »Ich bin schrecklich nervös!«, verkündete sie, während sie nach dem Essen Kaffee tranken. »Meine Stimme wird unsicher klingen, und vermutlich habe ich den ganzen Text vergessen.«
»Ihre Stimme ist sehr hübsch«, sagte Mrs Denman. »Ich würde mir an Ihrer Stelle deswegen keine Sorgen machen.«
»O doch! Wegen dem andern habe ich keine Angst. Ich meine, wenn’s ums Tanzen geht. Das klappt schon. Mit den Füßen kann man nicht viele Fehler machen, finde ich, nicht wahr?«
Sie blickte Mrs Denman bittend an, doch diese reagierte nicht darauf, sondern meinte: »Singen Sie etwas für Mr Sattersway. Es wird Ihnen das Lampenfieber nehmen.«
Molly ging zum Flügel. Mit frischer, heller Stimme sang sie eine alte irische Ballade:
»Sheila, schöne Sheila, was siehst du?
Was siehst du, was siehst du im Feuer?
Ich sehe einen Burschen, der mich liebt,
und ich sehe einen Burschen, der mich verlässt.
Und einen andern, einen Mann im Schatten,
der mir Kummer macht.«
Dann war das Lied zu Ende, und Mr Sattersway nickte begeistert.
»Mrs Denman hat Recht: Ihre Stimme ist wundervoll. Vielleicht noch nicht fertig ausgebildet, aber so natürlich, voll jugendlichem Charme!«
»Das finde ich auch«, pflichtete Mr Denman ihm bei. »Nur keine Aufregung, Molly. Sie brauchen wirklich kein Lampenfieber zu haben! Jetzt brechen wir wohl am besten auf.«
Man trennte sich, um die Mäntel zu holen. Es war eine herrliche Nacht, und es wurde beschlossen, zu Fuß zu gehen. Der Besitz der Roscheimers lag nur ein paar hundert Meter die Straße hinunter… Mr Sattersway blieb bei seinem Freund stehen. »Seltsam«, sagte er, »bei dem Lied musste ich an Sie denken. Der andere Mann, der Mann im Schatten – das klingt nach einem Geheimnis, und wo es ein Geheimnis gibt, da denke ich sofort… nun, da muss ich sofort an Sie denken.«
»Bin ich denn so geheimnisvoll?«, fragte Mr Quin. Mr Sattersway nickte nachdrücklich. »Ja, das sind Sie! Bis heute Abend hatte ich zum Beispiel keine Ahnung, dass Sie ein Tänzer sind.«
»Ach, wirklich?«
»Hören Sie doch!«, sagte Mr Sattersway und summte das Liebesmotiv aus der Walküre. »Das ging mir während des ganzen Abends ständig im Kopf herum, wenn ich die beiden ansah.«
»Wen?«
»Prinz Oranoff und Mrs Denman. Merken Sie nicht, wie anders sie ist? Als hätte sich ein Laden geöffnet, ein Fensterladen, und man könnte ins Innere blicken.«
»Ja. Vielleicht haben Sie Recht.«
»Immer das gleiche alte Lied, was? Die beiden gehören zusammen. Sie stammen aus der gleichen Welt, denken die gleichen Gedanken, träumen die gleichen Träume. Man versteht ja, wie es dazu kam. Vor zehn Jahren muss Denman sehr gut ausgesehen haben, ein junger, prächtiger Mann, wie ein Romanheld. Und er rettete ihr das Leben. Alles ganz normal. Aber heute – was ist er heute? Ein netter Kerl, erfolgreich, wohlhabend und – offen gestanden – durchschnittlich. Aus gutem englischem Holz, beinahe wie die Möbel in ihrem Wohnzimmer. So englisch und durchschnittlich wie das hübsche Mädchen mit ihrer frischen Stimme. Ja, Sie mögen lächeln, Mr Quin, aber Sie können das nicht leugnen.«
»Das tue ich auch nicht. Was Sie sagen, trifft den Kern genau. Trotzdem…«
»Wieso trotzdem?«
Mr Quin neigte sich zu Mr Sattersway und fragte mit forschend auf ihn gerichteten Augen. »Haben Sie so wenig aus dem Leben gelernt?« Damit verließ er Mr Sattersway, der leicht beunruhigt war und ins Grübeln geriet. Plötzlich stellte er zu seinem Schrecken fest, dass die andern ohne ihn aufgebrochen waren. Er folgte ihnen durch den Garten und durch dieselbe Pforte, die er am Nachmittag benützt hatte. Die Straße lag im Mondlicht friedlich da, und während er durch die Pforte trat, sah er ein Paar, das sich eng umschlungen hielt. Einen Augenblick lang dachte er – ja, dann erkannte er, dass er sich nicht getäuscht hatte. Es waren John Denman und Molly Stanwell. Er hörte Denman mit rauer, ärgerlicher Stimme sagen: »Ich kann nicht ohne dich leben! Was sollen wir nur tun?«
Mr Sattersway wollte sich gerade abwenden, als er eine Hand auf seinem Arm spürte. Noch jemand hatte die Szene beobachtet.
Ein Blick in ihr Gesicht genügte Mr Sattersway, um zu erkennen, wie sehr er sich in seinen Vermutungen getäuscht hatte.
Ihre zornige Hand hielt ihn fest, bis das Paar die Straße hinuntergegangen und ihren Blicken entschwunden war. Er hörte sich unsinnige Dinge sagen, die sie trösten sollten und angesichts ihrer Qual ausgesprochen lächerlich waren.
»Bitte«, sagte sie, »lassen Sie mich nicht allein!«
Er fand ihre Bitte seltsam rührend. Schließlich war er doch einmal zu etwas nütze! Er redete weiter sinnloses Zeug, weil alles besser war, als zu schweigen, und sie schritten die Straße hinunter, auf das Haus der Roscheimers zu. Manchmal verkrampfte sich ihre Hand auf seinem Arm, und er begriff, dass sie über seine Gegenwart froh war. Erst als sie vor dem Haus standen, ließ sie ihn los.
»Jetzt werde ich tanzen«, sagte sie mit energisch vorgerecktem Kinn. »Keine Sorge, mein Freund. Ich werde gut tanzen.«
Mit diesen Worten ließ sie Mr Sattersway stehen. Lady Roscheimer, mit Diamanten behängt und voller Klagen über den Unfall, nahm ihn unter ihre Fittiche und reichte ihn dann an Claude Wickam weiter.
»Ich bin ruiniert!«, sagte Wickam. »Völlig am Ende. So etwas passiert mir ständig. Diese Bauerntrampel glauben, sie könnten tanzen! Ich wurde nicht einmal gefragt…«
Er redete und redete und schien nicht mehr aufhören zu wollen. Endlich hatte er einen verständnisvollen Zuhörer gefunden, einen Fachmann. Er schwelgte in Selbstmitleid und hörte erst auf, als die Musik begann.
Mr Sattersway tauchte aus seiner Benommenheit auf. Der Kritiker in ihm erwachte. Wickam war ein unglaublicher Idiot, doch von Musik verstand er etwas. Die Melodien waren leicht wie Spinnweben, nie sentimental oder verlogen.
Das Bühnenbild war beeindruckend. Lady Roscheimer sparte nie, wenn es um einen ihrer Schützlinge ging. Eine verträumte Waldwiese mit geschickten Lichteffekten, die die passende Atmosphäre von Unwirklichkeit schufen.
Zwei Gestalten tanzten, als hätten sie seit endloser Zeit so getanzt. Ein schlanker Harlekin mit Zauberstab und Maske und eine weiße Kolombine, die Pirouetten drehte wie in einem ewigen Traum… Mr Sattersway richtete sich auf. Ja, das hatte er schon einmal erlebt. Ganz sicher…
Im Geist war er jetzt weit von Lady Roscheimers Salon entfernt. Er stand in einem Berliner Museum und betrachtete die kleine Statue einer unsterblichen Tänzerin.
Harlekin und Kolombine tanzten weiter. Die ganze Welt schien ihnen zu gehören.
Eine menschlichere Gestalt tauchte auf, Pierrot, der durch den Wald wanderte und sang. Er hatte Kolombine gesehen und kannte keine Ruhe mehr. Das unsterbliche Paar verschwand, doch Kolombine blickte noch einmal zurück. Sie hatte ein Lied gehört, das aus einem menschlichen Herzen kam.
Dann der Dorfanger – tanzende Mädchen – Pierrots und Pierrettes. Auch Molly war darunter. Sie war keine gute Tänzerin, da hatte Mrs Denman Recht gehabt, doch ihre Stimme war reizend.
Die Mädchen bitten Pierrot, mit ihnen zu tanzen, doch er weigert sich. Mit weißem Gesicht läuft er weiter – der ewig Liebende auf der Suche nach seinem Ideal. Es wird Abend, und Pierrot schläft erschöpft im Gras ein. Harlekin und Kolombine umtanzen ihn. Er erwacht und sieht sie. Er fleht sie an, bittet sie…
Sie ist unsicher. Harlekin winkt ihr, sie sieht ihn nicht mehr. Sie lauscht auf Pierrots Liebeslied, sie sinkt ihm in die Arme, und der Vorhang fällt.
Der zweite Akt spielt in Pierrots Hütte. Kolombine sitzt am Feuer, sie ist blass, bedrückt. Sie lauscht – auf was? Pierrot singt für sie, der Abend senkt sich herab, und Donner grollt. Kolombine wird unruhig, sie hört nicht mehr, was Pierrot singt. Ihre eigene Melodie erklingt, die Melodie von Harlekin und Kolombine. Und sie erinnert sich.
Ein Donner kracht. Harlekin steht in der Tür. Pierrot kann ihn nicht sehen, aber Kolombine springt mit einem glücklichen Lachen auf. Es donnert wieder, die Wände verschwinden, und Kolombine tanzt mit Harlekin in die stürmische Nacht hinaus.
Dunkelheit, und auch das Lied, das Pierrette singt, ist traurig. Das Licht geht langsam an. Wieder sieht man die Hütte. Jetzt sind Pierrot und Pierrette alt und grau. Sie sitzen in zwei Sesseln vor dem Feuer. Durch das Fenster fällt ein Mondstrahl, und das Motiv von Pierrots längst vergessenem Lied erklingt.
Leise Musik – Feenmusik – Harlekin und Kolombine sind draußen. Die Tür fliegt auf, und Kolombine tanzt herein. Sie beugt sich über den schlafenden Pierrot und küsst ihn auf den Mund.
Wieder ein rollender Donner. Kolombine verschwindet, das Fenster wird hell, und dahinter sieht man das Paar langsam davontanzen. Ein Holzscheit kracht im Feuer. Pierrette springt ärgerlich auf, läuft zum Fenster und lässt das Rollo herunter. Mit einem plötzlichen Misston ist das Stück aus.
Mr Sattersway saß sehr still da und klatschte nicht wie die übrigen Zuschauer. Schließlich stand er auf und ging hinaus. Er begegnete Molly Stanwell, die mit roten Wangen Komplimente entgegennahm. Er beobachtete John Denman, der sich mit einem neuen Ausdruck in den Augen einen Weg durch die Menge zu bahnen versuchte. Molly trat auf ihn zu, doch er schob sie zur Seite, ohne sie überhaupt zu bemerken. Er dachte jetzt an ganz jemand anderen.
»Wo ist meine Frau?«, fragte er. »Wo ist sie?«
»Ich glaube, sie ging in den Garten.«
Es war dann aber Mr Sattersway, der sie fand. Sie saß auf einem Stein unter einer Zypresse. Er trat auf sie zu und tat etwas Seltsames: Er küsste ihr die Hand.
»Ach!«, sagte sie. »Sie finden also, dass ich gut getanzt habe?«
»Sie haben getanzt, wie Sie immer getanzt haben, Madame Kharsanowa.«
Sie holte tief Luft. »Sie – Sie haben es erraten.«
»Es gibt nur eine Kharsanowa! Niemand, der Sie tanzen gesehen hat, könnte Sie vergessen. Aber warum? Warum…«
»Was denn sonst?«
»Wie bitte?«
»Oh! Sie verstehen genau! Sie kennen das Leben. Eine große Tänzerin… kann Liebhaber haben, das ja. Aber einen Mann… das ist etwas anderes. Und er… er wollte nicht nur mein Liebhaber sein. Er wollte, dass ich ihm gehörte, wie die… die Kharsanowa ihm nie hätte gehören können.«
»Ich verstehe«, antwortete Mr Sattersway. »Jetzt verstehe ich. Und deshalb gaben Sie Ihre Karriere auf?«
Sie nickte.
»Sie müssen ihn sehr geliebt haben«, bemerkte Mr Sattersway freundlich.
»Weil ich ihm ein solches Opfer brachte?« Sie lachte.
»Nein. Weil Sie es so leichten Herzens taten.«
»Ach so! Ja… vielleicht…«
»Und nun?«, fragte Mr Sattersway.
Sie wurde ernst. »Nun?« Sie schwieg. Dann sagte sie laut in die Dunkelheit hinein: »Bist du das, Sergius?«
Prinz Oranoff trat ins Mondlicht. Er ergriff ihre Hand und lächelte Mr Sattersway unbefangen zu.
»Vor zehn Jahren trauerte ich um Anna Kharsanowa«, sagte er einfach. »Sie war mein zweites Ich. Heute fand ich sie wieder. Wir werden uns nie mehr trennen.«
»Am Ende der Straße in zehn Minuten«, antwortete sie. »Ich werde dich nicht warten lassen.«
Oranoff nickte und ging. Mrs Denman wandte sich an Mr Sattersway und fragte lächelnd: »Nun, mein Freund, Sie sind nicht zufrieden?«
»Wissen Sie eigentlich«, sagte Mr Sattersway übergangslos, »dass Ihr Mann Sie sucht?«
Er sah die Erschütterung, die sich auf ihrem Gesicht spiegelte, doch ihre Stimme klang gelassen, als sie antwortete: »Nun, das mag schon sein.«
»Ich habe seine Augen gesehen. Er…« Er schwieg abrupt.
Sie blieb gelassen. »Ja, vielleicht für eine Stunde. Der Zauber eines Augenblicks, hervorgerufen durch Erinnerungen, durch Musik, Mondschein. Das ist alles.«
»Ich kann Sie nicht überzeugen?« Mr Sattersway fühlte sich alt und mutlos.
»Zehn Jahre lang habe ich mit dem Mann zusammengelebt, den ich liebe«, sagte Anna Kharsanowa. »Jetzt werde ich zu dem Mann gehen, der mich seit zehn Jahren liebt.«
Mr Sattersway schwieg. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Außerdem schien es ihm die beste Lösung zu sein. Nur…
Nur war es irgendwie nicht die Lösung, die er sich erhofft hatte. Er spürte ihre Hand auf seiner Schulter.
»Ich weiß, mein Freund, ich weiß! Aber eine dritte Möglichkeit gibt es nicht. Man sucht nur immer nach dem einen – dem vollkommenen, ewigen Liebhaber. Es ist die Musik des Harlekins, die man hört. Mit keinem Liebhaber ist man auf die Dauer zufrieden, denn alle sind sterblich. Und Harlekin ist nur ein Mythos, unsichtbar… außer…«
»Ja?«, sagte Mr Sattersway. »Ja?«
»Außer – sein Name ist… Tod.«
Mr Sattersway erschauerte. Mrs Denman erhob sich und verschwand zwischen den Schatten der Bäume.
Wie lange Mr Sattersway noch in Gedanken versunken dastand, wusste er später nicht mehr. Plötzlich schreckte er hoch, weil er das Gefühl hatte, kostbare Zeit vertrödelt zu haben. Er stürzte davon, wie unter Zwang in eine bestimmte Richtung gezogen.
Als er auf die Straße der Liebenden hinaustrat, überkam ihn ein Gefühl der Unwirklichkeit. Verzauberung und Mondschein. Zwei Gestalten schritten auf ihn zu.
Das ist Oranoff in seinem Harlekinkostüm, dachte Mr Sattersway unwillkürlich. Dann waren sie an ihm vorbei, und Mr Sattersway erkannte seinen Irrtum. Diese schlanke Gestalt konnte nur einem Einzigen gehören – Mr Quin.
Sie gingen die Straße hinunter, mit so leichten Schritten, dass sie zu schweben schienen. Mr Quin wandte den Kopf, und Mr Sattersway stellte mit Schrecken fest, dass ihm Mr Quins Gesicht völlig fremd erschien. Nein, es war nicht das Gesicht eines Fremden, sondern eher das John Denmans als junger Mann, als das Leben es noch nicht so gut mit ihm gemeint hatte wie heute. Fröhlich, abenteuerlustig, das Gesicht eines jungen Mannes und eines Verliebten.
Ihr Lachen tönte zu Mr Sattersway herüber, klar und glücklich… In der Ferne schimmerte Licht aus einem kleinen Haus. Mr Sattersway sah dem Paar nach, als träume er.
Eine Hand, die sich schwer auf seine Schulter senkte, riss ihn aus seiner Versunkenheit. Sergius Oranoff stand vor ihm.
»Wo ist sie?«, rief er mit bleichem Gesicht. »Wo ist sie? Sie versprach zu kommen, aber sie ist nicht da.«
»Madame ist eben die Straße hinuntergegangen – allein.«
Es war Mrs Denmans Mädchen, die das sagte. Sie stand im Schatten an der Pforte zum Garten. Sie hatte dort mit dem Schal ihrer Herrin gewartet.
»Ich habe gesehen, wie sie vorbeiging«, sagte sie.
Mr Sattersway fragte rau: »Wieso allein? Sie sagten, allein?«
Das Mädchen riss erstaunt die Augen auf. »Ja, Sir. Haben Sie sie denn nicht bemerkt?«
Mr Sattersway ergriff Oranoff am Arm. »Schnell«, rief er. »Ich… ich mache mir große Sorgen!«
Sie eilten die Straße entlang, wobei Oranoff zusammenhanglos vor sich hin redete:
»Sie ist eine wundervolle Person. Ah! Wie herrlich sie heute Abend tanzte! Und Ihr Freund! Wer ist das? Ah! Er ist einzigartig – herrlich! Früher, wenn sie die Kolombine von Rimski-Korssakow tanzte, fand sie nie den richtigen Harlekin. Mordroff, Kassnin – keiner war ihr gut genug. Sie hatte da ihre eigene Vorstellung. Einmal gestand sie es mir dann: Sie tanzte immer mit einem Harlekin, den es gar nicht gab. Der nur in ihren Träumen existierte. Es war Harlekin persönlich, der kam, um mit ihr zu tanzen. Deshalb war sie als Kolombine so herrlich!«
Mr Sattersway nickte. Er konnte immer nur an eines denken. »Schnell!«, rief er. »Schnell. Hoffentlich kommen wir noch rechtzeitig!«
Sie bogen um die letzte Biegung und standen vor der tiefen Grube. Etwas lag dort unten, das vorher nicht dort gewesen war, der Körper einer Frau, in einer wundervollen Pose, die Arme ausgebreitet, den Kopf zurückgeworfen. Eine Frau, noch im Tod triumphierend und schön.
Mr Sattersway fiel ein, was Mr Quin gesagt hatte: »… die schönsten Dinge auf einer Müllhalde…« Jetzt verstand er.
Oranoff war fassungslos. Tränen strömten ihm übers Gesicht. »Ich habe sie geliebt. Ich habe sie immer geliebt.« Er verwendete beinahe dieselben Worte, die Mr Sattersway früher am Abend gedacht hatte.
»Wir gehörten in die gleiche Welt, sie und ich. Wir dachten die gleichen Gedanken, wir träumten die gleichen Träume. Ich hätte sie immer und ewig geliebt…«
»Wie können Sie das wissen?«
Der Russe starrte ihn entgeistert an.
»Wie können Sie es wissen?«, wiederholte Mr Sattersway. »Alle Liebenden denken so. Alle Liebenden behaupten es. Aber es gibt nur einen wahren Liebenden…«
Er drehte sich um und wäre beinahe mit Mr Quin zusammengestoßen. Erregt packte ihn Mr Sattersway am Arm und zog in beiseite.
»Siel«, sagte er. »Sie waren eben noch mit ihr zusammen!«
Mr Quin schwieg einen Augenblick und antwortete dann: »So könnte man sagen, ja.«
»Aber das Mädchen hat Sie nicht gesehen.«
»Das Mädchen hat mich nicht gesehen.«
»Ich schon. Wieso?«
»Vielleicht, weil Sie einen hohen Preis bezahlt haben. Deshalb sehen Sie Dinge, die andere nicht sehen.«
Mr Sattersway blickte ihn verständnislos an. Darauf begann er plötzlich am ganzen Körper zu zittern. »Was ist dies für ein Ort?«, flüsterte er. »Was ist dies für ein Ort?«
»Das sagte ich Ihnen schon heute Nachmittag. Es ist meine Straße.«
»Die Straße der Liebenden«, murmelte Mr Sattersway. »Und die Menschen schreiten darüber hin.«
»Die meisten – früher oder später.«
»Und am Ende der Straße? Was ist dort?«
Mr Quin lächelte. Seine Stimme war sehr freundlich. Er deutete auf das verfallene Haus über ihnen. »Das Haus ihrer Träume… oder Abfall… wer weiß das?«
Mr Sattersway blickte zu ihm auf, und eine Welle der Empörung überschwemmte ihn. Er fühlte sich betrogen.
»Aber ich…« Seine Stimme brach. »Ich«, begann er dann von Neuem, »ich bin Ihre Straße nie entlanggegangen.«
»Und bedauern Sie das?«
Mr Sattersway sank der Mut. Mr Quin schien ins Unendliche zu wachsen, und Mr Sattersway hatte die Vorstellung von etwas zugleich Drohendem und Schrecklichem. Freude, Trauer, Verzweiflung. Und seine friedliche kleine Seele schrak davor zurück.
»Bedauern Sie es?«, fragte Mr Quin noch einmal. Er wirkte in keiner Weise schrecklich.
»Nein«, erwiderte Mr Sattersway. »Nein.«
Plötzlich fand er seine Fassung wieder.
»Aber ich sehe Dinge!«, rief er. »Vielleicht bin ich nur ein Zuschauer des Lebens, aber ich sehe Dinge, die andere Leute nicht sehen. Das haben Sie selbst gesagt, Mr Quin!«
Doch Mr Quin war verschwunden.