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Hören Sie sich das an!«, sagte Lady Cynthia Drage.
Sie las laut aus der Zeitung vor, die sie in der Hand hielt.
»Mr und Mrs Unkerton geben diese Woche in Greenways House eine Party. Unter den Gästen befinden sich Lady Cynthia Drage, Mr und Mrs Richard Scott, Major Porter, Mrs Staverton, Captain Allenson und Mr Sattersway.«
Lady Cynthia legte das Blatt weg. »Gut zu wissen«, bemerkte sie, »was uns erwartet. Die haben wirklich etwas Schönes angerichtet.« Ihr Gegenüber, derselbe Mr Sattersway, dessen Name am Ende der Gästeliste stand, blickte sie fragend an. Man erzählte sich, dass Mr Sattersway stets dann in den Häusern wohlhabender, neu zugezogener Leute zu finden sei, wenn entweder die Küche ungewöhnlich gut war oder sich dort ein menschliches Drama abspielen sollte. Mr Sattersway war an den Komödien und Tragödien seiner Mitmenschen außergewöhnlich stark interessiert.
Lady Cynthia, eine Frau mittleren Alters mit einem harten Gesicht und großzügig aufgetragenem Make-up, tippte ihm mit der neuesten Schöpfung eines Regenschirms, der verwegen auf ihren Knien geruht hatte, an die Brust.
»Tun Sie nicht so, als hätten Sie keine Ahnung. Das Gegenteil ist der Fall! Ja, mehr noch, ich bin überzeugt, Sie sind nur hier, um die Sache aus nächster Nähe mitzuerleben.«
Mr Sattersway protestierte heftig. Er wüsste nicht, wovon sie überhaupt spräche.
»Ich rede von Richard Scott. Wollen Sie behaupten, dass Sie nie von ihm gehört haben?«
»Eigentlich nicht. Ist das der Großwildjäger?«
»Genau – ›Große Bären und Tiger, und so weiter‹, wie es im Lied heißt. Natürlich ist er im Augenblick selbst ein großes Tier… die Unkertons sind ganz wild darauf, ihn einzuladen… und die Braut! Ein charmantes Kind… ach, ein reizendes Kind… aber so naiv, erst zwanzig, wissen Sie, und er dürfte mindestens fünfundvierzig sein.«
»Ich finde Mrs Scott sehr charmant«, stellte Mr Sattersway gelassen fest.
»Ja, das arme Kind.«
»Warum?«
Lady Cynthia warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu und ging den fraglichen Punkt auf ihre Weise an. »Porter ist in Ordnung«, fuhr sie fort, »ein langweiliger Kerl… auch einer dieser Afrikajäger, nichts als Sonnenbräune und Schweigsamkeit. Zweite Geige bei Richard Scott, was er immer war… Jugendfreunde und all so was. Wenn ich es mir recht überlege, waren sie meiner Meinung nach auch bei jener Reise zusammen…«
»Bei welcher Reise?«
»Die Reise. Die Reise von Mrs Staverton. Jetzt werden Sie behaupten, dass Sie auch von Mrs Staverton nie etwas gehört haben.«
»O doch, von Mrs Staverton habe ich gehört«, antwortete Mr Sattersway beinahe gegen seinen Willen.
Und er und Lady Cynthia wechselten einen wissenden Blick.
»Es sieht den Unkertons wirklich ähnlich«, klagte Lady Cynthia. »Sie sind einfach hoffnungslos – gesellschaftlich gesehen, meine ich. Was für ein Einfall, die beiden zusammen einzuladen! Natürlich haben sie erfahren, dass Mrs Staverton eine sportliche Person ist, die viel reist und so weiter, und sicherlich haben sie auch von ihrem Buch gehört. Leute wie die Unkertons haben nie eine Vorstellung, was für Abgründe sich auftun können! Im letzten Jahr habe ich mich persönlich um sie gekümmert. Sie ahnen nicht, was ich mitgemacht habe! Ständig musste man sie im Auge behalten. ›Tun Sie dies nicht, lassen Sie das!‹ Gott sei Dank bin ich jetzt mit ihnen fertig. Nicht, dass wir uns gestritten hätten – nein. Ich streite mich nie. Jemand anders soll sich um sie kümmern. Wie ich immer zu sagen pflege: Gewöhnlichkeit kann ich ertragen, Niederträchtigkeit nicht.«
Nach dieser etwas rätselhaften Bemerkung verfiel Lady Cynthia für einen Augenblick in Schweigen und grübelte über die ihr von den Unkertons angetane Niederträchtigkeit nach.
»Wenn ich bei ihnen noch den Ton angeben würde«, fuhr sie dann fort, »hätte ich energisch und deutlich erklärt: Sie können Mrs Staverton und die Scotts nicht zusammen einladen. Sie waren einmal…«
Sie schwieg beredt.
»Stimmt es denn?«, fragte Mr Sattersway.
»Mein guter Mann! Es ist allgemein bekannt. Die Reise ins Landesinnere! Erstaunlich, dass die Person die Stirn hatte, die Einladung anzunehmen.«
»Vielleicht wusste sie nicht, wer noch kommen würde«, schlug Mr Sattersway vor.
»Vielleicht wusste sie es aber! Das ist viel wahrscheinlicher.«
»Sie glauben…«
»Sie ist das, was man eine gefährliche Frau nennt… die Sorte, die vor nichts zurückschreckt. An diesem Wochenende möchte ich nicht in Richard Scotts Haut stecken.«
»Seine Frau hat keine Ahnung, glauben Sie?«
»Davon bin ich überzeugt. Aber vermutlich wird sie früher oder später eine liebe Freundin aufklären. Ah, da ist ja Jimmy Allenson. So ein netter Junge! Letzten Winter hat er mir in Ägypten das Leben gerettet… ich habe mich so gelangweilt, wissen Sie. Hallo, Jimmy, kommen Sie sofort her!«
Captain Allenson gehorchte und ließ sich neben ihr auf den Rasen nieder. Er war ein gut aussehender junger Mann von etwa dreißig Jahren, mit weißen Zähnen und einem ansteckenden Lächeln.
»Ich bin froh, dass ich jemandem Gesellschaft leisten kann«, bemerkte er. »Die Scotts ziehen die Schau mit den Turteltauben ab, Porter verschlingt die Zeitung, und es bestand die tödliche Gefahr, dass unsere Gastgeberin sich mit mir unterhalten wollte.«
Er lachte. Lady Cynthia stimmte ein. Mr Sattersway, der in gewisser Weise etwas altmodisch war und selten über seine Gastgeber spottete, solange er in ihrem Haus weilte, blieb ernst.
»Armer Jimmy!«, sagte Lady Cynthia.
»Ich bin geflüchtet. Um ein Haar hätte sie mir die Geschichte von dem Familiengeist erzählt.«
»Der Geist der Unkertons«, rief Lady Cynthia. »Zum Totlachen!«
»Nein, kein Geist der Unkertons«, sagte Mr Sattersway. »Er gehört zu Greenways. Sie haben ihn mit dem Haus zusammen gekauft.«
»Natürlich«, erwiderte Lady Cynthia. »Ich erinnere mich. Aber er rasselt nicht mit den Ketten, nicht wahr? Es hat irgendetwas mit einem Fenster zu tun.«
Jimmy Allenson blickte auf. »Mit einem Fenster?«
Aber Mr Sattersway antwortete nicht. Er blickte über Jimmys Kopf hinweg auf die Gestalten, die aus der Richtung des Hauses auf sie zuschritten – eine schlanke Frau zwischen zwei Männern. Oberflächlich betrachtet schienen sich die Männer zu gleichen, beide waren groß und dunkelhaarig, mit gebräunten Gesichtern und scharfen Augen, doch bei genauerer Betrachtung verschwand diese Ähnlichkeit.
Richard Scott, Jäger und Forscher, war eine sehr energisch wirkende Persönlichkeit. Sein Wesen strahlte eine große Anziehungskraft aus. John Porter, sein Freund und Begleiter, war untersetzter, mit einem ruhigen, eher verschlossenen Gesicht und sehr nachdenklichen grauen Augen – ein schweigsamer Mann, der es zufrieden war, stets die zweite Geige zu spielen.
Zwischen ihnen ging Moira Scott, die vor drei Monaten noch Moira O’Connell geheißen hatte, eine schlanke Frau mit großen, sehnsuchtsvollen braunen Augen und goldrotem Haar, das ihr schmales Gesicht wie ein Heiligenschein umgab.
Diesem Kind darf man nicht wehtun, dachte Mr Sattersway im Stillen. Es wäre schrecklich, wenn einem Kind wie ihr wehgetan würde.
Lady Cynthia begrüßte die Ankömmlinge, indem sie das neueste Modell eines Sonnenschirms schwenkte. »Setzen Sie sich und unterbrechen Sie uns nicht«, sagte sie. »Mr Sattersway erzählt gerade eine Geistergeschichte.«
»Ich liebe Geistergeschichten«, antwortete Moira Scott und ließ sich ins Gras sinken.
»Handelt es sich um den Geist von Greenways House?«, fragte Richard Scott.
»Ja. Wissen Sie über ihn Bescheid?«
Scott nickte. »Früher war ich oft hier«, erklärte er. »Bevor die Elliots verkaufen mussten. Er heißt ›Der Kavalier am Fenster.‹«
»›Der Kavalier am Fenster‹«, sagte seine Frau leise. »Das gefällt mir. Es klingt sehr interessant. Bitte, erzählen Sie doch, Mr Sattersway!«
Aber Mr Sattersway schien aus irgendwelchen Gründen keine Lust zu haben. Er versicherte ihr, dass die ganze Geschichte gar nicht so spannend sei.
»Jetzt ist es um Sie geschehen, Sattersway«, meinte Scott spöttisch. »Mit Ihrem Zögern haben Sie sich nur noch mehr hineingeritten.«
Alle baten ihn jetzt so eindringlich, dass sich Mr Sattersway nicht länger weigern konnte.
»Es ist wirklich nicht besonders interessant«, begann er entschuldigend. »Ich glaube, in der Originalversion handelte es sich um einen Edelmann der Familie Elliot, dessen Frau einen Puritaner zum Liebhaber hatte. Es spielt zuzeiten Karls I. Der Liebhaber tötete den Ehemann in einem Zimmer im ersten Stock, und das Pärchen floh. Doch sie wandten sich noch einmal zum Haus um und sahen das Gesicht des Toten am Fenster, wie er ihnen nachblickte. So ist die Legende, aber in der Geistergeschichte geht es eigentlich nur um eine Scheibe in einem Fenster dieses Zimmers, auf der sich ein unregelmäßig geformter Fleck befindet. Aus der Nähe betrachtet fällt er fast nicht auf, doch wenn man ihn von Weitem sieht, gleicht er einem menschlichen Gesicht.«
»Welches Fenster ist es?«, fragte Mrs Scott und blickte zum Haus.
»Von hier aus kann man es nicht sehen«, erklärte Mr Sattersway. »Es befindet sich auf der andern Seite. Vor einigen Jahren – ich glaube, vor genau vierzig – wurde es von innen vernagelt.«
»Warum hat man das getan? Sagten Sie nicht, der Geist könne nicht laufen?«
»Das kann er auch nicht«, versicherte Mr Sattersway. »Ich vermute – nun, vermutlich geschah es aus einem gewissen Aberglauben heraus. Das ist alles.«
Dann brachte er es sehr geschickt fertig, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben. Jimmy Allenson war mehr als bereit, von den ägyptischen Wüstenwahrsagern zu berichten.
»Die meisten von ihnen sind Betrüger, durchaus willens, Ihnen irgendwelches Zeug aus Ihrer Vergangenheit zu erzählen, doch was die Zukunft betrifft, so wollen sie sich nicht festlegen.«
»Ich hätte gedacht, es wäre genau umgekehrt«, bemerkte John Porter.
»Die Zukunft vorauszusagen ist in diesem Land doch illegal, nicht wahr?«, sagte Richard Scott. »Moira überredete eine Zigeunerin, ihr wahrzusagen, doch dann gab ihr die Frau den Shilling zurück und erklärte, sie könnte es doch nicht tun.«
»Vielleicht entdeckte sie etwas so Schreckliches, dass sie es nicht verraten wollte«, meinte Moira.
»Malen Sie den Teufel nicht an die Wand«, sagte Allenson fröhlich. »Ich für meinen Teil weigere mich zu glauben, dass auch nur der Schatten eines Unglücks Sie bedroht.«
Hoffentlich hat er Recht, dachte Mr Sattersway. Hoffentlich…
Dann blickte er ruckartig auf. Zwei Frauen kamen den Weg vom Haus entlang, eine kleine gedrungene Person mit schwarzem Haar in einem jadegrünen Kleid, das ihr nicht stand, und eine große schlanke Gestalt in Weiß. Die Erstere war ihre Gastgeberin, Mrs Unkerton, von der anderen hatte Mr Sattersway schon viel gehört, doch er kannte sie nicht persönlich.
»Hier ist Mrs Staverton«, verkündete Mrs Unkerton im Ton größter Befriedigung. »Alles Freunde von Ihnen, glaube ich.«
»Diese Leute haben eine ungeheure Begabung, immer die größten Taktlosigkeiten zu sagen«, murmelte Lady Cynthia, doch Mr Sattersway hörte ihr nicht zu. Er beobachtete Mrs Staverton.
Sehr gewandt – sehr natürlich. Ein sorgloses »Hallo, Richard!«, dann: »Jahre her, seit wir uns gesehen haben! Tut mir leid, dass ich nicht zu deiner Hochzeit kommen konnte. Ist das deine Frau? Sicherlich haben Sie es satt, immer wieder wetterharte alte Freunde Ihres Mannes zu treffen.« Moiras Antwort – passend, eher scheu. Der rasche abschätzende Blick der älteren Frau, der sofort zu einem anderen alten Freund weiterwanderte.
»Hallo, John!« Der gleich leichte Ton, doch mit einem feinen Unterschied – eine gewisse Wärme schwang mit, die vorher gefehlt hatte. Und dann lächelte sie plötzlich. Es veränderte sie völlig. Lady Cynthia hatte Recht. Eine gefährliche Frau! Sehr helles Haar, dunkelblaue Augen – nicht der landläufige Typ der Sirene. Ein Gesicht, das wild wirkte, auch wenn es ohne Ausdruck war. Eine Frau mit einer trägen Stimme und einem plötzlichen bezaubernden Lächeln.
Iris Staverton setzte sich und wurde sofort und wie selbstverständlich zum Mittelpunkt der Gruppe. Sicherlich war es immer so gewesen.
Durch Major Porters Vorschlag, einen Spaziergang zu machen, wurde Mr Sattersway in die Wirklichkeit zurückgeholt. Im Allgemeinen hatte Mr Sattersway für so etwas wenig übrig. Doch diesmal war er einverstanden. Gemeinsam schritten die beiden Männer über die Wiese davon.
»Eine sehr interessante Geschichte, die Sie eben erzählt haben«, sagte der Major.
»Ich zeige Ihnen das Fenster«, sagte Mr Sattersway.
Er führte ihn um das Haus zur Westseite, an der ein kleiner gepflegter Garten lag – der »Verschwiegene Garten«, wie er genannt wurde, und dies nicht ohne Grund, denn er wurde von einer hohen Stechpalmenhecke umgeben, und selbst der Eingang führte durch einen Zickzackweg, der zu beiden Seiten ebenfalls von dieser hohen Hecke gesäumt war.
Wenn man erst einmal hineingelangt war, bezauberte einen der altmodische Charme der auf französische Art gestutzten Blumenbeete, die Plattenwege und eine niedrige Steinbank mit schöner Steinmetzarbeit. Mr Sattersway wandte sich um und wies auf das Haus. Greenways House verlief von Norden nach Süden. In der schmalen Westwand befand sich nur ein Fenster, im ersten Stock, vom Efeu fast völlig überwuchert, mit schmutzigen Scheiben, durch die man gerade noch die Bretter erkennen konnte, mit denen es vernagelt war.
»Das ist es«, sagte Mr Sattersway.
Porter legte den Kopf etwas schief und blickte hinauf. »Hm, in der einen Scheibe glaube ich so etwas wie eine Verfärbung zu entdecken, mehr sehe ich nicht.«
»Wir sind noch zu nahe«, antwortete Mr Sattersway. »Von der Lichtung im Wald dort drüben hat man eine bessere Aussicht.«
Sattersway führte den Major zum »Verschwiegenen Garten« hinaus, wandte sich scharf nach links und steuerte auf den Wald zu. Eine gewisse Freude an der Effekthascherei ergriff ihn, und er merkte gar nicht, dass der Mann an seiner Seite zerstreut war und ihm nicht zuhörte.
»Natürlich mussten sie ein anderes Fenster machen, als sie dieses hier vernagelten«, erklärte er. »Es geht nach Süden auf den Rasen hinaus, auf dem wir eben saßen. Ich glaube, die Scotts bewohnen das Zimmer. Aus diesem Grund wollte ich das Thema nicht näher erörtern. Mrs Scott hätte es vielleicht nervös gemacht zu wissen, dass sie gewissermaßen in einem Spukzimmer schläft.«
»Ja, ich verstehe«, sagte Porter.
Mr Sattersway blickte ihn forschend an und stellte fest, dass der andere nicht ein Wort des Gesagten in sich aufgenommen hatte.
»Sehr interessant«, erklärte Porter. Er hieb mit seinem Stock nach ein paar großen Fingerhutstängeln und runzelte die Stirn. »Sie hätte nicht herkommen dürfen. Niemals!«
Die Leute unterhielten sich häufig mit Mr Sattersway auf diese Art und Weise. Er wirkte so unbedeutend, er besaß so wenig Persönlichkeit. Er war nichts als ein guter Zuhörer.
»Ja«, sagte Porter. »Sie hätte nicht kommen sollen.«
Instinktiv wusste Mr Sattersway, dass er nicht Mrs Scott meinte. »Glauben Sie wirklich?«, fragte er.
Ahnungsvoll schüttelte Porter den Kopf. »Ich war bei dieser Reise dabei«, sagte er abrupt. »Wir drei unternahmen sie gemeinsam: Scott, Iris und ich. Sie ist eine wunderbare Frau – und ein verdammt guter Schütze.« Er schwieg einen Augenblick. »Warum hat man sie eingeladen?«, fragte er übergangslos.
Mr Sattersway zuckte mit den Schultern. »Ahnungslosigkeit«, meinte er.
»Es wird Schwierigkeiten geben«, antwortete Porter. »Wir müssen aufpassen – und tun, was wir können.«
»Sicherlich hat Mrs Staverton…«
»Ich spreche von Scott.« Er schwieg wieder eine Weile. »Wissen Sie – wir müssen an Mrs Scott denken.«
Mr Sattersway hatte die ganze Zeit an sie gedacht, doch er hielt es nicht für notwendig, dies zu erwähnen, da sein Begleiter sie bis zu diesem Augenblick ganz offensichtlich vergessen hatte.
»Wie hat Scott seine Frau kennen gelernt?«, fragte er.
»Es war letzten Winter, in Kairo. Alles ging sehr schnell. Nach drei Wochen waren sie verlobt, nach sechs verheiratet.«
»Sie ist sehr charmant.«
»Das stimmt. Daran gibt es keinen Zweifel. Und er betet sie an – doch das ändert auch nichts an der Sache.« Und dann sagte er noch einmal: »Verdammt, sie hätte nicht kommen dürfen!«, wobei er mit dem »sie« eine bestimmte Person meinte.
In diesem Augenblick traten sie in einiger Entfernung vom Haus auf einen hohen grasbewachsenen Hügel. Mit der schwungvollen Gebärde eines Zauberers auf der Bühne streckte Mr Sattersway den Arm aus. »Sehen Sie mal!«, sagte er.
Es begann gerade zu dämmern. Das Fenster war noch genau zu erkennen. Ganz offensichtlich presste sich ein männliches Gesicht an die Scheibe, das von einem großen, mit Federn geschmückten Hut überschattet war.
»Sehr seltsam«, sagte Porter. »Wirklich sehr seltsam. Was passiert, wenn die Scheibe eines Tages einmal zerspringt?«
Mr Sattersway lächelte. »Das ist der interessanteste Teil der Geschichte. Die Scheibe ist meines Wissens mindestens elfmal ersetzt worden, vielleicht auch öfter. Das letzte Mal vor zwölf Jahren, als der Besitzer beschloss, dem Mythos ein Ende zu machen. Aber es geschieht immer das Gleiche: Der Fleck erscheint wieder – natürlich nicht sofort. Die Verfärbung breitet sich nur allmählich aus. Gewöhnlich dauert es ein oder zwei Monate.«
Zum ersten Mal wirkte Porter wirklich interessiert. Er erschauerte. »Verdammt unheimlich, diese Sache. Keine logische Erklärung dafür! Was ist der wahre Grund, warum das Fenster mit Brettern vernagelt wurde?«
»Nun, es verbreitete sich das Gerücht, das Zimmer bringe Unglück. Die Eveshams bewohnten es, kurz bevor sie sich scheiden ließen. Dann waren Stanley und seine Frau einmal hier, und man gab ihnen ebenfalls das Zimmer. Damals brannte er mit der Revuetänzerin durch.«
Porter zog die Brauen hoch. »Ich verstehe. Gefahr für die Moral, nicht fürs Leben.«
Und jetzt, dachte Mr Sattersway, haben es die Scotts. Ob wohl auch sie…
Schweigend legten sie den Weg zum Haus zurück. Da ihre Schritte auf dem weichen Rasen nicht zu hören waren und jeder in seine eigenen Gedanken versunken dahinschlenderte, wurden sie ungewollt Zeugen eines heftigen Wortwechsels. Sie bogen gerade um eine Ecke der Stechpalmenhecke, als Iris Stavertons Stimme laut und zornig aus dem »Verschwiegenen Garten« zu ihnen drang. »Du wirst es noch bedauern – jawohl, bedauern!«
Scott erwiderte etwas, so leise und unsicher, dass sie ihn nicht verstanden. Und dann erhob sich wieder die Stimme der Frau, und die beiden Männer vernahmen Worte, an die sie sich später noch erinnern sollten. »Eifersucht – sie macht einen zum Teufel! Nein, sie ist der Teufel! Sie kann einen bis zum Mord treiben. Sei vorsichtig, Richard! Um Gottes willen sei vorsichtig!«
Und dann war sie auch schon aus dem »Verschwiegenen Garten« aufgetaucht und um die Hausecke verschwunden, ohne sie zu bemerken; sie ging schnell, fast lief sie, wie eine Frau in Angst und Panik.
Mr Sattersway fiel Lady Cynthias Bemerkung ein: eine gefährliche Frau. Zum ersten Mal stieg das Vorgefühl an eine Tragödie in ihm auf, rasch und unerbittlich. Er konnte es nicht unterdrücken.
Doch am Abend schämte er sich über diese Ängste. Alles schien normal und angenehm zu sein. Mrs Staverton war fröhlich und sorglos und verriet kein Zeichen von Nervosität. Moira Scott war charmant und gelassen wie immer. Die beiden Frauen schienen sich gut zu verstehen. Richard selbst war in bester Laune.
Die einzige Person, die wirklich besorgt aussah, war Mrs Unkerton. Sie vertraute sich ziemlich eingehend Mr Sattersway an.
»Halten Sie es für verrückt oder nicht – ganz wie Sie wollen –, aber mich überläuft es eiskalt. Ich gestehe offen, ich habe nach dem Glaser geschickt. Ned weiß nichts davon.«
»Nach dem Glaser?«
»Damit er eine neue Scheibe in dieses Fenster einsetzt. Die Sache ist ja gut und schön, und Ned ist stolz darauf – er findet, es verleiht dem Haus das gewisse Etwas. Nur – mir gefällt es nicht. Das sage ich Ihnen rundheraus! Wir werden eine hübsche, saubere, moderne Scheibe einsetzen lassen, über die man sich keine bösen Geschichten erzählen kann.«
»Sie vergessen«, antwortete Mr Sattersway, »oder vielleicht wissen Sie es auch nicht: Der Fleck kommt wieder.«
»Möglich, dass dies stimmt«, sagte Mrs Unkerton. »Ich kann dazu nur feststellen, dass so etwas unnatürlich wäre.«
Mr Sattersway hob die Brauen, schwieg aber.
»Und selbst wenn er wiederkommt?«, fuhr Mrs Unkerton trotzig fort. »Wir sind nicht so bankrott, Ned und ich, dass wir nicht jeden Monat eine neue Scheibe kaufen könnten – oder jede Woche, wenn es notwendig sein sollte.«
Mr Sattersway reagierte auf diese Bemerkung nicht. Er hatte zu oft erlebt, wie die Dinge vor der Macht des Geldes in sich zusammenfielen, und glaubte, dass selbst der Geist eines Adligen nicht erfolgreich dagegen ankämpfen konnte. Jedoch interessierte ihn der Umstand, dass Mrs Unkerton ziemlich nervös zu sein schien. Auch sie war nicht unempfindlich gegen die Spannung, die in der Luft lag – nur schrieb sie sie einer verblassten Geistergeschichte zu und nicht den widersprüchlichen Persönlichkeiten ihrer Gäste.
Es war Mr Sattersways Schicksal, noch ein paar Sätze eines Gesprächs zu belauschen, die ebenfalls ein Licht auf die Situation warfen. Als er die breite Treppe zum ersten Stock hinaufgehen wollte, um sich schlafen zu legen, saßen Major Porter und Mrs Staverton in einer Nische der großen Halle. Mrs Staverton sprach mit einem leicht irritierten Unterton in ihrer warmen Stimme.
»Ich hatte nicht die leiseste Ahnung«, sagte sie, »dass die Scotts auch hier sein würden. Wenn ich es gewusst hätte, wäre ich nicht gekommen. Aber ich versichere dir, mein lieber John, dass ich jetzt, da ich schon in diesem Haus bin, nicht die Flucht ergreifen werde.«
Mr Sattersway ging die letzten Stufen hinauf und befand sich damit außer Hörweite. Ich frage mich wirklich, überlegte er, wie viel ist eigentlich wahr? Weiß sie Bescheid? Was wird passieren?
Grübelnd schüttelte er den Kopf.
Im hellen Licht des nächsten Morgens fand Mr Sattersway, dass er die Ereignisse des vergangenen Abends doch ein wenig zu sehr dramatisiert hatte. Ein Augenblick der Anspannung… ja, sicherlich… unter den gegebenen Umständen unvermeidlich… doch gewiss nicht mehr. Die Leute passten sich an. An seiner Vorahnung einer nahenden Katastrophe waren nur die Nerven schuld – eine reine Nervensache –, oder vielleicht die Leber. Ja, das war es: die Leber. In vierzehn Tagen sollte er in Karlsbad sein. Aus eigenem Impuls schlug er am Abend, als es zu dämmern begann, Major Porter vor, einen kleinen Spaziergang zu machen. Er würde gern zur Lichtung gehen und feststellen, ob Mrs Unkerton Wort gehalten hatte und eine neue Scheibe eingesetzt worden war. Bewegung, dachte er im Stillen, das ist es, was ich brauche, Bewegung!
Gemütlich wanderten die beiden Männer durch den Wald. Porter war wie immer schweigsam.
»Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren«, sagte Mr Sattersway gesprächig, »dass unsere Fantasie gestern etwas mit uns durchgegangen ist. Ich meine, als wir – hm – Schwierigkeiten witterten. Schließlich bleibt den Leuten nichts anderes übrig, als sich ordentlich zu benehmen – sie müssen ihre Gefühle unterdrücken und all so was.«
»Vielleicht«, antwortete Porter. Und fügte nach ein oder zwei Minuten hinzu: »Zumindest zivilisierte Leute.«
»Wie meinen Sie das?«
»Wenn jemand lange außerhalb jeder Zivilisation gelebt hat, ändert er sich manchmal. Er kehrt zu den Ursprüngen zurück, oder wie immer Sie es nennen wollen.«
Sie traten auf den grasbewachsenen Hügel hinauf. Mr Sattersway atmete ziemlich schnell. Bergan zu laufen missfiel ihm stets.
Er blickte zum Fenster hin. Das Gesicht war noch da, lebendiger denn je.
»Unsere Gastgeberin hat sich anders besonnen, wie ich sehe.«
Porter streifte das Fenster nur mir einem flüchtigen Blick. »Unkerton ist vermutlich grob geworden«, bemerkte er gleichgültig. »Er gehört zu dem Typ Menschen, der auch auf den Geist einer fremden Familie stolz ist und nicht riskieren möchte, dass er verschwindet, weil er schließlich dafür bar bezahlt hat.«
Wieder schwieg er ein oder zwei Minuten und starrte – statt auf das Haus – auf das dichte Unterholz, das die Lichtung umgab. »Ist Ihnen jemals aufgefallen«, sagte er dann, »dass die Zivilisation verdammt gefährlich ist?«
»Gefährlich?« Eine solche revolutionäre Bemerkung erschütterte Mr Sattersway bis ins Mark.
»Ja. Es gibt keine Sicherheitsventile, verstehen Sie?«
Er wandte sich ruckartig um, und sie gingen den Weg hinunter, den sie gekommen waren.
»Wirklich, Ihre Bemerkung hat mich etwas verwirrt«, sagte Mr Sattersway, eilig neben seinem Begleiter hertrippelnd, um mit dessen weit ausholenden Schritten mithalten zu können. »Vernünftige Leute…«
Porter lachte, ein kurzes, beunruhigendes Lachen. Dann blickte er auf den korrekten kleinen Gentleman an seiner Seite hinunter.
»Sie halten das alles für ein leeres Gerede von mir, Mr Sattersway? Aber es gibt Leute, wissen Sie, die erkennen die Vorboten eines Sturms. Sie spüren, dass etwas in der Luft liegt. Und andere Leute wieder können Schwierigkeiten vorhersagen. Es wird etwas passieren, Mr Sattersway, etwas sehr Schlimmes. Vielleicht schon in den nächsten Minuten. Vielleicht…«
Er brach ab und ergriff Mr Sattersway am Arm. Und in den folgenden angespannten Sekunden des Schweigens hörten sie es: zwei Schüsse und dann einen Schrei. Den Schrei einer Frau.
»Mein Gott!«, rief Porter. »Da haben wir es!«
Er lief den Pfad hinab, Mr Sattersway folgte ihm keuchend. Eine Minute später erreichten sie die Wiese, dicht bei der Hecke des »Verschwiegenen Gartens«. Gleichzeitig tauchten Richard Scott und Mr Unkerton an der gegenüberliegenden Hausecke auf. Sie blieben stehen und sahen sich an.
»Es – es kam von dort«, sagte Unkerton und wies mit einer fleischigen Hand auf die Hecke.
»Wir müssen hineingehen und nachsehen«, antwortete Porter. Er schritt den andern voran den gewundenen Weg zum Eingang entlang. Als er die letzte Biegung der Hecke erreichte, blieb er wie erstarrt stehen. Mr Sattersway spähte ihm über die Schulter. Richard Scott stieß einen gellenden Schrei aus.
Drei Menschen befanden sich im »Verschwiegenen Garten«. Zwei von ihnen lagen bei der Steinbank im Gras, ein Mann und eine Frau. Die dritte Person war Mrs Staverton. Sie stand dicht bei ihnen, in der Nähe der Stechpalmenhecke, und blickte mit schreckgeweiteten Augen ins Leere. Sie hielt etwas in der rechten Hand.
»Iris!«, rief Porter. »Iris! Um Gottes willen! Was hältst du da in der Hand?«
Sie blickte sie an – mit einer Art Erstaunen, einer unfassbaren Gleichgültigkeit.
»Es ist eine Pistole«, antwortete sie erstaunt. Und fügte nach ein paar Sekunden, die sich endlos zu dehnen schienen, hinzu: »Ich habe sie aufgehoben.«
Mr Sattersway war zu Unkerton und Scott getreten, die im Gras knieten.
»Einen Arzt«, murmelte der Letztere. »Wir brauchen einen Arzt.«
Doch es war zu spät für jede ärztliche Hilfe. Jimmy Allenson, der sich über die Schweigsamkeit der ägyptischen Wahrsager beschwert hatte, und Moira Scott, der die Zigeunerin den Shilling zurückgegeben hatte, lagen leblos da, eingetreten in das letzte große Schweigen. Es war Richard Scott, der eine kurze Untersuchung der Toten vornahm. Seine eisernen Nerven bewiesen sich auch in dieser Krise. Nach einem ersten Schrei des Schmerzes war er wie immer gewesen. Vorsichtig ließ er seine Frau wieder ins Gras zurückgleiten. »Von hinten erschossen«, sagte er knapp. »Die Kugel ist direkt durch sie hindurchgegangen.«
Dann kümmerte er sich um Jimmy Allenson. Die Wunde befand sich in der Brust, die Kugel steckte noch im Körper.
John Porter mischte sich ein. »Es sollte nichts berührt werden«, sagte er ernst. »Die Polizei muss es sehen, wie es ist.«
»Die Polizei!«, sagte Richard Scott. In seinen Augen blitzte ein Funke auf, und er sah zu der Frau bei der Hecke hinüber. Er machte einen Schritt in ihre Richtung, doch Porter trat vor ihn, als wollte er ihm den Weg verstellen. Einen Augenblick schien es, als würden die beiden Freunde ein Duell mit den Augen ausfechten.
Sehr langsam schüttelte Porter den Kopf. »Nein, Richard«, sagte er. »Es sieht zwar so aus – aber du täuschst dich!«
Es bereitete Scott Mühe, zu sprechen. Immer wieder befeuchtete er sich mit der Zunge die Lippen. »Aber warum«, sagte er, »warum hat sie das Ding in der Hand?«
Im gleichen ausdruckslosen Ton wie vorhin wiederholte Iris Staverton: »Ich habe sie aufgehoben.«
»Die Polizei«, sagte Unkerton und erhob sich. »Wir müssen die Polizei holen – sofort! Würden Sie wohl anrufen, Scott? Jemand sollte hier Wache halten. Ja, ich finde, jemand sollte hier bleiben.«
Auf seine ruhige, feine Art erbot sich Mr Sattersway, diese Aufgabe zu übernehmen. Sein Gastgeber nahm das Anerbieten mit sichtlicher Erleichterung an. »Die Damen!«, rief er. »Ich muss den Damen die Nachricht überbringen, Lady Cynthia und meiner Frau.«
Mr Sattersway blieb im »Verschwiegenen Garten« allein zurück und blickte auf die Tote hinab, die einmal Moira Scott gewesen war. Armes Kind, dachte er, armes Kind!
Er erinnerte sich an das Sprichwort, dass der schlechte Mensch immer überlebte. Denn war Richard Scott nicht in gewisser Weise für den Tod seiner unschuldigen Frau verantwortlich? Vermutlich würde Iris Staverton gehängt werden – der Gedanke gefiel ihm nicht sehr –, aber war es nicht zumindest teilweise die Schuld des Mannes? Das Schlechte, das Menschen tun können…
Und die junge Frau, diese unschuldige junge Frau, hatte dafür bezahlt.
Mit großem Mitleid sah er auf sie hinunter, auf ihr kleines Gesicht, so blass und sorgenvoll und trotzdem mit dem Anflug eines Lächelns um ihre Lippen: auf das wirre goldrote Haar, das zarte Ohr. Ein kleiner Blutfleck war auf dem Ohrläppchen zu erkennen. Mit dem Gefühl, dass er in gewisser Weise den Detektiv spielte, überlegte Mr Sattersway, dass er von einem Ohrring stammen musste, der durch den Sturz abgerissen worden war. Er reckte den Hals. Ja, er hatte sich nicht getäuscht. Im anderen Ohr steckte ein kleiner Perlohrring.
Armes Kind, dachte er wieder, armes Kind!
»Also, Sir!«, sagte Inspektor Winkfield.
Sie befanden sich in der Bibliothek. Der Inspektor, ein gerissen wirkender, kräftiger Mann von über vierzig, war zum Abschluss seiner Nachforschungen gekommen. Er hatte die meisten Gäste verhört und sich eine ziemlich genaue Meinung über den Fall gebildet. Er hatte sich Major Porters und Mr Sattersways Bericht angehört. Mr Unkerton saß zusammengesunken in einem Sessel und starrte mit vorquellenden Augen die gegenüberliegende Wand an.
»Soviel ich verstehe, Gentlemen«, sagte der Inspektor, »hatten Sie einen Spaziergang unternommen. Sie kehrten zum Haus auf einem Pfad zurück, der an der linken Seite des so genannten ›Verschwiegenen Gartens‹ vorbeiführt. Stimmt das bis hierher?«
»Es stimmt, Inspektor.«
»Sie hörten zwei Schüsse und den Schrei einer Frau?«
»Ja.«
»Sie liefen, so schnell Sie konnten, aus dem Wald und auf den Eingang zu diesem ›Verschwiegenen Garten‹ zu. Wenn jemand den Garten verlassen hätte, würde er diesen Eingang benützt haben. Die Stechpalmenhecke ist ein undurchdringliches Hindernis. Wenn jemand hinausgerannt und nach rechts eingebogen wäre, hätten ihn Mr Unkerton und Mr Scott gesehen. Wenn er sich nach links gewandt hätte, wäre er auf Sie gestoßen. Ist das richtig?«
»Das ist richtig«, antwortete Major Porter. Sein Gesicht war sehr bleich.
»Damit ist der Fall klar«, fuhr der Inspektor fort. »Mr und Mrs Unkerton und Lady Cynthia Drage saßen auf dem Rasen. Mr Scott befand sich im Billardzimmer, das auf den Rasen hinausgeht. Um zehn Minuten nach sechs Uhr trat Mrs Staverton aus dem Haus, wechselte ein paar Worte mit den Herrschaften auf dem Rasen und bog um die Hausecke in Richtung des ›Verschwiegenen Gartens‹. Zwei Minuten später hörten Sie die Schüsse. Mr Scott stürzte aus dem Haus und lief zusammen mit Mr Unkerton zum ›Verschwiegenen Garten‹. Zur gleichen Zeit trafen Sie und Mr – hm – Sattersway von der entgegengesetzten Seite aus ein. Mrs Staverton stand in dem Garten mit einer Pistole in der Hand, aus der zwei Schüsse abgegeben worden waren. So wie ich die Sache sehe, erschoss sie die Dame von rückwärts, während diese auf der Steinbank saß. Dann sprang Captain Allenson auf und wollte sich auf sie stürzen, und sie schoss ihm in die Brust. Soviel ich hörte, hat früher einmal eine gewisse – hm – Bindung zwischen ihr und Mr Richard Scott…«
»Das ist eine verdammte Lüge«, warf Porter ein.
Seine Stimme klang rau und trotzig. Der Inspektor reagierte nicht darauf, sondern schüttelte nur den Kopf.
»Was hat sie selbst denn gesagt?«, fragte Mr Sattersway.
»Sie sei in den ›Verschwiegenen Garten‹ gegangen, um eine Weile allein zu sein. Gerade ehe sie um die letzte Biegung der Hecke kam, hörte sie die Schüsse. Dann sah sie die Pistole im Gras liegen und hob sie auf. Niemand ging an ihr vorbei, niemand war im Garten außer den beiden Opfern.« Der Inspektor schaltete eine bedeutsame Pause ein. »Das behauptet sie, und obwohl ich sie gewarnt habe, bestand sie darauf, eine Aussage zu machen.«
»Wenn sie das sagt«, erklärte Major Porter, dessen Gesicht immer noch sehr blass war, »dann ist es die Wahrheit. Ich kenne Iris Staverton.«
»Nun, Sir«, bemerkte der Inspektor, »es wird noch viel Zeit bleiben, sich näher mit allen Umständen zu befassen. Inzwischen muss ich meine Pflicht tun.«
Mit einer heftigen Bewegung wandte sich Porter an Mr Sattersway. »Und Sie! Können Sie nicht etwas unternehmen? Können Sie nichts tun?«
Gegen seinen Willen fühlte sich Mr Sattersway äußerst geschmeichelt: Man bat ihn um Hilfe, ihn, einen so unbedeutenden Menschen, und ausgerechnet ein Mann wie John Porter.
Er wollte gerade eine bedauernde Antwort hervorstoßen, als der Butler Thompson mit einer Visitenkarte auf einem silbernen Tablett eintrat, das er seinem Herrn mit einem entschuldigenden Hüsteln reichte. Mr Unkerton saß immer noch zusammengesunken in seinem Sessel und hatte an dem Gespräch nicht teilgenommen.
»Ich habe dem Gentleman erklärt, dass Sie ihn vermutlich nicht empfangen würden, Sir«, sagte Thompson, »doch er behauptete, eine Verabredung mit Ihnen zu haben. Es sei äußerst dringend.«
Unkerton nahm die Karte. »Mr Harley Quin«, las er laut. »Ich erinnere mich, dass er mich wegen eines Bildes aufsuchen wollte. Ich traf eine Verabredung mit ihm, doch so, wie die Dinge liegen…«
Da trat Mr Sattersway vor. »Mr Harley Quin, sagten Sie?«, rief er. »Wie seltsam, wie außerordentlich seltsam! Major Porter, Sie fragten mich, ob ich Ihnen nicht helfen könnte. Ich glaube, ich kann Ihnen helfen. Dieser Mr Quin ist ein Freund – oder besser gesagt, ein Bekannter von mir. Ein höchst bemerkenswerter Mann.«
»Einer dieser Amateurdetektive, soviel ich weiß«, bemerkte der Inspektor verächtlich.
»Nein«, wehrte Mr Sattersway ab. »Zu dieser Sorte von Leuten gehört er ganz und gar nicht. Aber er verfügt über die Gabe – eine beinahe unheimliche Gabe –, einem zu zeigen, was man mit den eigenen Augen wirklich gesehen hat, einem klarzumachen, was man mit den eigenen Ohren tatsächlich gehört hat. Auf jeden Fall sollten wir ihm in groben Umrissen erzählen, was passiert ist, und uns anhören, was er dazu zu sagen hat.«
Mr Unkerton sah den Inspektor an, der nur die Nase rümpfte und den Blick zur Decke hob. Dann nickte ersterer Thompson kurz zu, und dieser ging hinaus. Kurze Zeit darauf erschien er wieder und ließ einen großen schlanken Fremden ins Zimmer.
»Mr Unkerton?« Der Fremde reichte ihm die Hand. »Es tut mit leid, dass ich hier gerade in einem solchen Augenblick eindringe. Wir müssen wohl unser kleines Gespräch über das Bild auf ein andermal verschieben. Ah, mein Freund Sattersway. Immer noch eine Schwäche für das Dramatische, wie eh und je?«
Ein feines Lächeln spielte bei den letzten Worten um den Mund des Fremden.
»Mr Quin«, sagte Mr Sattersway bedeutungsvoll. »Es hat sich hier gerade ein Drama abgespielt. Wir sind noch mitten drin. Ich würde gern Ihre Meinung darüber hören. Und Major Porter, mein Freund, auch.«
Mr Quin setzte sich. Die Lampe mit dem roten Schirm warf ein breites Band von farbigem Licht über das Karomuster seines Mantels und ließ sein Gesicht im Schatten. Es war, als trüge er eine Maske. In knapper Form berichtete Mr Sattersway über die wesentlichen Punkte der Tragödie. Dann schwieg er und wartete gespannt auf den Spruch des Orakels.
Doch Mr Quin schüttelte nur den Kopf. »Eine traurige Geschichte«, meinte er. »Eine sehr traurige, entsetzliche Geschichte. Das Fehlen eines Motivs ist sehr bedeutsam.«
Unkerton starrte ihn entgeistert an. »Verstehen Sie denn nicht!«, sagte er. »Mrs Staverton drohte Richard Scott. Sie war wegen seiner Frau entsetzlich eifersüchtig. Eifersucht ist…«
»Ganz meiner Meinung«, antwortete Mr Quin. »Eifersucht oder teuflische Besessenheit – es ist alles dasselbe. Doch Sie missverstehen mich. Ich meinte nicht den Mord an Mrs Scott, sondern an Captain Allenson.«
»Sie haben Recht!«, rief Porter aufgeregt. »Da liegt der Fehler! Wenn Iris je daran gedacht hätte, Mrs Scott zu erschießen, würde sie es getan haben, wenn sie allein war. Ja, wir sind auf der falschen Spur. Und ich glaube, ich sehe eine andere Lösung. Nur jene drei Menschen gingen in den Garten. Das steht unbestreitbar fest, und ich beabsichtige nicht, es anzuzweifeln. Doch lassen Sie mich die Tragödie anders rekonstruieren! Angenommen, Jimmy Allenson erschoss zuerst Mrs Scott und dann sich selbst. Das ist doch möglich, nicht wahr? Im Fallen schleudert er die Waffe von sich – und Mrs Staverton entdeckt sie im Gras und hebt sie auf, wie sie gesagt hat. Wie klingt das?«
Der Inspektor schüttelte den Kopf. »Es ist nicht stichhaltig, Major Porter. Wenn Captain Allenson diesen Schuss nahe an seiner Brust abgegeben hätte, müssten seine Kleider versengt sein.«
»Vielleicht hat er die Pistole, so weit er konnte, von sich weggehalten.«
»Warum? Klingt nicht glaubwürdig. Außerdem – es fehlt das Motiv.«
»Vielleicht hat er plötzlich durchgedreht«, murmelte Porter ohne große Überzeugung. Er verfiel wieder in Schweigen. Dann sagte er abrupt: »Nun, Mr Quin?«
Dieser schüttelte den Kopf. »Ich bin kein Zauberer. Auch kein Kriminalist. Aber ich möchte Ihnen etwas verraten: Ich glaube an den Wert des ersten Eindrucks. In jeder Krisensituation gibt es immer einen Moment, der hervorsticht, das Bild einer Szene, das im Gedächtnis haften bleibt, wenn alles andere längst verblasst ist. Ich vermute, dass Mr Sattersway von allen Anwesenden der unparteiischste Beobachter ist. Würden Sie sich noch einmal rückerinnern, Mr Sattersway, und uns von dem Augenblick berichten, der den stärksten Eindruck bei Ihnen hinterließ? War es die Sekunde, als Sie die Schüsse hörten? Als Sie die Toten entdeckten? Als Sie die Pistole in Mrs Stavertons Hand sahen? Machen Sie sich von allen vorgefassten Werturteilen frei und sagen Sie es uns!«
Mr Sattersway heftete die Augen auf Mr Quins Gesicht, ungefähr wie ein Schuljunge, der eine Lektion aufsagen soll, die er nicht richtig gelernt hat.
»Nein«, begann er langsam. »Diese Augenblicke haben mich nicht am meisten beeindruckt. Sondern der Moment, als ich mit den Toten – hinterher – allein war und auf Mrs Scott hinabsah. Sie lag auf der Seite. Ihr Haar war in Ordnung. An ihrem einen kleinen Ohr war ein Blutfleck.«
Kaum hatte er dies gesagt, da erkannte er, dass es etwas sehr Wichtiges war.
»Blut an ihrem Ohr? Ja, ich erinnere mich«, bemerkte Unkerton langsam.
»Der Sturz muss ihr den Ohrring abgerissen haben«, erklärte Mr Sattersway.
Doch er fand, dass seine Worte etwas unglaubwürdig klangen.
»Sie lag auf der linken Seite«, sagte Porter. »Dann war es wohl auch das linke Ohr?«
»Nein«, antwortete Mr Sattersway rasch. »Es war das rechte.«
Der Inspektor hustete. »Dies habe ich im Gras gefunden«, ließ er sich herab zu sagen. Er hielt einen Ring aus goldenem Draht hoch.
»Aber, Mann Gottes!«, rief Porter. »Das Ding kann doch nicht durch einen einfachen Sturz weggerissen worden sein. Mir scheint es eher nach einer Kugel auszusehen, die man auf sie abgefeuert hat.«
»So war es!«, rief Mr Sattersway. »Eine Kugel! So muss es gewesen sein.«
»Es wurden nur zwei Schüsse gehört«, stellte der Inspektor fest. »Die Kugel kann sie nicht am Ohr gestreift und dann in den Rücken getroffen haben. Und wenn die erste Kugel den Ohrring traf und die Zweite sie tötete, konnte sie nicht auch Captain Allenson töten – außer, er stand dicht vor ihr, sehr nahe, und sah sie an. Nein, selbst dann nicht. Es sei denn…«
»Es sei denn, sie lag in seinen Armen. Das wollten Sie doch sagen«, bemerkte Mr Quin mit seinem seltsamen kleinen Lächeln. »Nun, warum nicht?«
Sie starrten sich an. Die Vorstellung war so unglaublich, so seltsam – Allenson und Mrs Scott! Mr Unkerton sprach ihre Gedanken aus: »Sie kannten sich doch kaum«, meinte er.
»Ich bin mir nicht sicher«, sagte Mr Sattersway nachdenklich. »Vielleicht haben sie sich besser gekannt, als wir ahnen. Lady Cynthia erzählte mir, dass er sie im letzten Winter in Ägypten vor der Langeweile rettete, und Sie – «, er deutete auf Porter, »Sie sagten, dass sich Richard Scott und seine Frau letzten Winter in Kairo kennen lernten. Vielleicht haben sie sich sehr wohl schon länger gekannt.«
»Sie waren nie viel zusammen«, sagte Unkerton.
»Ja – sie mieden sich eher. Es war schon beinahe unnatürlich, wenn ich es recht bedenke…«
Alle sahen Mr Quin an, etwas entsetzt über die Schlussfolgerung, zu der sie so unerwartet gelangt waren.
Mr Quin erhob sich. »Da sehen Sie«, sagte er, »was Mr Sattersways Erzählung angerichtet hat!« Er wandte sich an Unkerton. »Sie sind an der Reihe.«
»Ich? Ich verstehe Sie nicht.«
»Sie waren sehr nachdenklich, als ich eintrat. Ich möchte gern wissen, welcher Gedanke Sie derart beschäftigt hat. Es macht nichts, wenn er mit der Tragödie selbst gar nichts zu tun hat. Es macht auch nichts, wenn Sie es abergläubisch finden…« Mr Unkerton zuckte zusammen, nur ein wenig. »Erzählen Sie!«
»Ich habe nichts dagegen«, antwortete Unkerton. »Obwohl es nichts mit der Sache zu tun hat und Sie mich obendrein noch auslachen werden. Ich habe mir gewünscht, dass meine Frau die Scheibe in dem Geisterfenster in Ruhe gelassen und nicht durch eine neue ersetzt hätte. Ich glaube, dass dadurch ein Fluch über uns gekommen ist.«
Er begriff nicht, warum ihn die beiden Männer, die ihm gegenübersaßen, so anstarrten.
»Aber sie hat sie nicht ersetzt!«, sagte Mr Sattersway schließlich.
»Doch, das hat sie! Der Glaser kam gleich heute Früh.«
»Mein Gott!«, sagte Porter. »Ich fange an zu verstehen. Das Zimmer hat eine Täfelung, keine Tapete!«
»Ja. Aber was hat das mit…«
Doch Porter war bereits zur Tür hinausgestürzt. Die Übrigen folgten ihm. Er lief die Treppe hinauf und zum Zimmer der Scotts. Es war ein bezaubernder Raum, mit hellgelb gestrichenem Holz verkleidet und zwei Fenstern, die nach Süden gingen. Porter tastete mit seinen Händen über die Täfelung an der Westwand.
»Irgendwo muss eine Feder sein – irgendwo. Aha!« Ein Klicken war zu hören, und ein Teil der Verkleidung schwang zurück. Dahinter kamen die schmutzigen Scheiben des Geisterfensters zum Vorschein. Eine Scheibe war neu und sauber. Porter bückte sich hastig und hob etwas auf. Er legte es auf den flachen Handteller und streckte den Arm aus. Es war ein Stück Straußenfeder. Dann sah er Mr Quin an. Mr Quin nickte.
Er trat an den Kleiderschrank. Mehrere Hüte lagen in einem Fach – die Hüte der Toten. Er nahm einen mit einem großen Rand und Federn heraus – ein sehr extravagantes Modell.
Mit leiser, nachdenklicher Stimme begann Mr Quin zu sprechen.
»Nehmen wir einmal an«, begann er, »da ist ein Mann, der von der Veranlagung her unglaublich eifersüchtig ist, ein Mann auch, welcher bereits früher einmal in diesem Haus gewohnt hat und das Geheimnis der Wandtäfelung kennt. Nur so zum Spaß probiert er sie eines Tages aus und blickt in den ›Verschwiegenen Garten‹ hinunter. Dort entdeckt er seine Frau mit einem andern. Sie glauben sich vor allen Blicken sicher. Über ihre Beziehung gibt es – nach allem, wie sie sich benehmen – keinen Zweifel. Er ist wie verrückt vor Zorn. Was soll er tun? Da kommt ihm eine Idee. Er geht zum Schrank und setzt den Hut mit dem breiten Rand und den Federn auf. Es wird gerade dunkel, und er erinnert sich an die Geschichte mit dem Fleck auf der Scheibe. Wer also zufällig zum Fenster hinaufsieht, wird ihn für den Geist halten. So getarnt, beobachtet er sie und wartet auf den Augenblick, da sie sich in die Arme fallen. Er schießt. Er ist ein guter Schütze, ja ein hervorragender Schütze. Während sie stürzen, drückt er noch einmal ab – die Kugel reißt den Ohrring ab. Er wirft die Waffe durch das Fenster in den Garten, stürzt die Treppe hinunter und hinaus zum Billardzimmer.«
Porter trat einen Schritt auf ihn zu.
»Aber er ließ es zu, dass man sie beschuldigte!«, rief er. »Er rührte keinen Finger und ließ es zu! Warum? Warum?«
»Ich glaube, Sie kennen den Grund«, antwortete Mr Quin. »Ich vermute – und bitte, bedenken Sie, dass ich hier nur vermuten kann –, dass Richard Scott einmal in Iris Staverton sehr verliebt war – so sehr, dass selbst dieses Wiedersehen nach so vielen Jahren die erloschene Glut der Eifersucht wieder neu entfachte. Ich nehme an, dass Mrs Staverton früher glaubte, sie würde ihn lieben, dass sie mit ihm auf einen Jagdausflug ging, auch noch auf einen zweiten – und dass sie sich in jemand anders verliebte. In einen besseren Menschen.«
»In einen besseren Menschen«, murmelte Porter wie benommen. »Meinen Sie…«
»Ja«, antwortete Mr Quin. »Ich meine Sie.« Er schwieg einen Augenblick. »Wenn ich Sie wäre, würde ich nun zu ihr gehen.«
»Das werde ich tun«, antwortete Porter.
Er drehte sich um und verließ das Zimmer.