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Der Richter hatte seine Ansprache an die Geschworenen fast beendet.
»Nun, Gentlemen, ich bin mit meinen Ausführungen beinahe fertig. Es ist an Ihnen, auf Grund der Beweise zu entscheiden, ob diese gegen den Mann sprechen, sodass Sie ihn für schuldig befinden, Vivien Barnaby getötet zu haben. Sie haben die Aussagen der Angestellten über den Zeitpunkt gehört, zu dem der Schuss abgegeben wurde. Sie waren sich alle einig. Außerdem liegt ein Brief vor, den Vivien Barnaby am Morgen des gleichen Tages – am Freitag, dem 13. September – an den Angeklagten schrieb, ein Brief, dessen Existenz die Verteidigung nicht bestritten hat. Sie haben gehört, wie der Gefangene anfangs leugnete, in Deering Hill gewesen zu sein, und erst später, nach der Beweisvorlage durch die Polizei, seine Anwesenheit zugab. Über sein Leugnen müssen Sie sich Ihr eigenes Urteil bilden. Es gibt keine Tatzeugen. Was Motiv, Mittel und Gelegenheit betrifft, so werden Sie Ihre eigenen Schlüsse ziehen. Die Verteidigung ist überzeugt, dass eine unbekannte Person das Musikzimmer betrat, nachdem es der Angeklagte verlassen hatte, und Vivien Barnaby mit der Waffe erschoss, die der Angeklagte in einer seltsamen Vergesslichkeit zurückgelassen hatte. Sie haben die Geschichte des Angeklagten gehört, warum er eine halbe Stunde für den Nachhauseweg brauchte. Wenn Sie seinem Bericht nicht glauben und über jeden Zweifel überzeugt sind, dass der Angeklagte am Freitag, dem 13. September, seine Waffe aus nächster Nähe auf Vivien Barnabys Kopf abfeuerte mit der Absicht, sie zu töten, dann muss Ihr Urteil auf schuldig lauten. Wenn Sie andererseits begründete Zweifel haben, ist es Ihre Pflicht, den Gefangenen freizusprechen. Ich möchte Sie jetzt bitten, sich in Ihr Zimmer zurückzuziehen und sich zu beraten. Wenn Sie eine Entscheidung getroffen haben, lassen Sie es mich wissen.«
Die Geschworenen waren eine knappe halbe Stunde abwesend. Sie fällten ein Urteil, das für alle bereits vorher festgestanden hatte. Sie sprachen den Angeklagten schuldig.
Nachdem Mr Sattersway sich den Urteilsspruch angehört hatte, verließ er mit nachdenklich gerunzelter Stirn den Gerichtssaal.
Gewöhnlich interessierte ihn ein Mordfall nicht. Er war von seiner ganzen Veranlagung her ein viel zu anspruchsvoller Mensch, um Geschmack an den schmutzigen Einzelheiten eines Durchschnittsverbrechens zu haben. Doch der Fall Wylde war etwas anderes. Der junge Martin Wylde war das, was man gewöhnlich als Gentleman bezeichnete, und das Opfer, Sir: George Barnabys junge Frau, hatte Mr Sattersway selbst gekannt.
Darüber dachte er nach, während er durch Holborn ging und in ein Gewirr schmaler Straßen eintauchte, die in Richtung: Soho führten. In einer dieser Straßen lag ein kleines Restaurant, das nur wenigen bekannt war. Mr Sattersway gehörte zu diesen wenigen. Es war nicht billig – im Gegenteil, es war äußerst teuer, da es ausschließlich die feine Zunge des Gourmets befriedigen wollte. Es war ein ruhiges Lokal; keine Musik durfte die gedämpfte Atmosphäre stören. Und es war ziemlich dunkel. Kellner tauchten auf leisen Sohlen aus dem Dämmerlicht auf und trugen die silbernen Schüsseln mit einer Würde, als nähmen sie an irgendeiner heiligen Handlung teil. Das Restaurant hieß Arlecchino.
Immer noch nachdenklich betrat Mr Sattersway das Arlecchino und schritt auf seinen Lieblingstisch in einer Nische an der entfernteren Wand zu. Wegen des bereits erwähnten dämmrigen Lichts entdeckte er erst als er bereits ziemlich nahe war, dass dort ein großer, dunkler Mann saß, das Gesicht im Schatten. Durch ein bunt verglastes Fenster hinter ihm fiel ein Bündel Strahlen und verwandelte seinen dunklen Anzug in ein farbenprächtiges Kostüm.
Mr Sattersway wollte sich gerade abwenden, als der Fremde sich leicht bewegte und der andere ihn erkannte.
»Gott sei meiner Seele gnädig!«, rief Mr Sattersway, der solche altmodischen Ausdrücke liebte. »Das ist ja Mr Quin!«
Bereits dreimal hatte Mr Sattersway ihn schon getroffen, und jedes Mal hatte sich durch diese Begegnung etwas höchst Außergewöhnliches ergeben. Ein seltsamer Mann, dieser Mr Quin, mit dem Hang, einem die Dinge, die man seit Langem kannte, in einem völlig anderen Licht darzustellen.
Sofort war Mr Sattersway aufgeregt – angenehm erregt. Seine Rolle war die des Zuschauers, und das wusste er, doch manchmal, wenn er sich in Mr Quins Gesellschaft befand, glaubte er an die Illusion, eine der handelnden Personen zu sein – und noch dazu eine der wichtigsten.
»Was für eine angenehme Überraschung«, sagte er, über das ganze, vertrocknete ältliche Gesicht strahlend. »Wirklich, sehr angenehm. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn ich mich zu Ihnen setze?«
»Ich bin entzückt«, sagte Mr Quin. »Wie Sie sehen, habe ich mit dem Essen noch nicht begonnen.«
Ein ehrerbietiger Oberkellner tauchte aus dem Schatten auf, und Mr Sattersway wandte sich, wie es sich für einen Mann mit feinem Gaumen gehörte, voll und ganz der Aufgabe zu, das Menü zusammenzustellen. Ein paar Minuten später zog sich der Oberkellner mit einem leichten verständnisvollen Lächeln zurück, und einer seiner jungen Trabanten begann seine Dienste. Mr Sattersway wandte sich an Mr Quin und bemerkte:
»Ich komme eben aus dem Old Bailey. Eine traurige Sache, finde ich.«
»Er wurde für schuldig befunden?«, fragte Mr Quin.
»Ja. Die Geschworenen waren keine halbe Stunde draußen.«
Mr Quin neigte den Kopf. »Ein unvermeidlicher Urteilsspruch – bei diesen Beweisen«, meinte er.
»Und doch…«, begann Mr Sattersway – und schwieg.
Mr Quin vollendete den begonnenen Satz für ihn: »Und doch waren Ihre Sympathien aufseiten des Angeklagten. War es das, was Sie sagen wollten?«
»Ich glaube, ja. Martin Wylde ist ein so netter junger Bursche – man traut es ihm kaum zu. Trotzdem, in letzter Zeit gab es eine Menge netter junger Burschen, die sich als Mörder von der besonders kaltblütigen und abstoßenden Sorte entpuppten.«
»Zu viele!«, sagte Mr Quin leise.
»Wie bitte?«, fragte Mr Sattersway, leicht überrascht.
»Zu viele, was den Fall Martin Wylde betrifft. Von Anfang an bestand eine gewisse Tendenz, diesen Mord als einen von vielen in einer Reihe gleichartiger Verbrechen zu sehen – ein Mann möchte eine Frau loswerden, um eine andere heiraten zu können.«
»Nun«, sagte Mr Sattersway zweifelnd. »Die Beweise…«
»Ach!«, sagte Mr Quin rasch. »Ich fürchte, ich kenne nicht alle Beweise.«
Schlagartig kehrte Mr Sattersways Selbstvertrauen zurück. Ein Gefühl der Macht durchströmte ihn. Er war versucht, sehr dramatisch zu werden.
»Ich will versuchen, es Ihnen zu erklären. Ich kenne die Barnabys, das wissen Sie. Ich kenne die besonderen Umstände. Ich werde Sie hinter die Bühne führen – durch mich werden Sie die Dinge erleben, als wären Sie dabei gewesen.«
Mr Quin beugte sich mit seinem schnellen, ermunternden Lächeln vor. »Wenn jemand dies kann, dann ist es Mr Sattersway«, murmelte er.
Mit beiden Händen packte Mr Sattersway die Tischkante. Er war beflügelt, wuchs über sich hinaus. Einen Augenblick lang war er ein Künstler, ein reiner großer Künstler, dessen Medium die Sprache war.
Rasch, mit einem Dutzend breiter Striche, skizzierte er ein Bild des Lebens in Deering Hill. Sir George Barnaby, ältlich, dick, sparsam. Ein Mann, der ständig von den unwichtigen Dingen im Leben großes Aufheben machte. Ein Mann, der regelmäßig jeden Freitagnachmittag die Uhren aufzog, jeden Dienstagmorgen das Haushaltsbuch kontrollierte und jeden Abend eigenhändig die Haustür abschloss. Ein vorsichtiger Mann.
Und von Sir George kam er auf Lady Barnaby zu sprechen. Hier wurde der Strich seiner Zeichnung zarter, aber er war nicht weniger sicher. Er hatte sie nur einmal gesehen, doch sein Eindruck von ihr war genau und nachhaltig. Ein lebhaftes, trotziges Geschöpf, bemitleidenswert jung. Wie ein Kind, das in der Falle saß – so beschrieb er sie.
»Sie hasste ihn, verstehen Sie? Sie hatte ihn geheiratet, ohne zu wissen, was sie tat. Und dann…«
Sie war verzweifelt – wie er es ausdrückte. Sie überlegte hin und her. Sie besaß kein eigenes Geld. Sie war von diesem ältlichen Ehemann völlig abhängig. Doch trotz allem war sie ein Geschöpf, das nicht resignieren wollte – sich der eigenen Kräfte noch nicht bewusst, mit einer Schönheit, die noch mehr ein Versprechen war. Und sie war gierig, wie Mr Sattersway mit aller Entschiedenheit betonte. Abgesehen von ihrem Trotz hatte sie etwas Gieriges an sich – sie besaß eine ungeheure Lebensgier.
»Martin Wylde lernte ich nie kennen«, fuhr Mr Sattersway fort. »Doch ich habe viel von ihm gehört. Er wohnte keine Meile entfernt. Ackerbau, das war sein Beruf. Und sie begann sich dafür zu interessieren – oder tat zumindest so. Wenn Sie mich fragen, dann hat sie nur so getan. Ich glaube, sie sah in ihm die einzige Möglichkeit zu entkommen. Und sie ließ nicht von ihm ab, hartnäckig wie ein kleines Kind. Nun, es kam, wie es kommen musste. Wir wissen, was für ein Ende die Sache nahm, denn im Gericht wurden die Briefe verlesen. Er hob ihre Briefe auf – sie die seinen nicht, doch nach dem Inhalt der ihren zu schließen, begannen seine Gefühle abzukühlen. Soviel gibt er auch zu. Da war noch das andere Mädchen. Sie wohnte im Dorf Deering Vale. Ihr Vater ist der Arzt des Ortes. Vielleicht haben Sie sie im Gerichtssaal gesehen? Nein, ich erinnere mich, Sie waren nicht dort, wie Sie mir sagten. Ich werde sie Ihnen beschreiben müssen. Ein blondes Mädchen – sehr blond. Zart. Vielleicht – ja, vielleicht ein ganz klein wenig dumm. Aber sehr ruhig, wissen Sie. Und treu. Vor allem treu.«
Mit einem Ermunterung heischenden Blick sah Mr Sattersway Mr Quin an, der ihm wohlwollend zulächelte. Mr Sattersway fuhr fort: »Sie haben gehört, was in ihrem letzten Brief stand, oder vielmehr, Sie haben ihn in der Zeitung gelesen. Ich meine den, den sie am Freitag, dem 13. September, morgens schrieb. Er ist voll von Verzweiflung, Vorwürfen und vagen Drohungen und endet damit, dass sie Martin Wylde bittet, noch am gleichen Abend um sechs Uhr nach Deering Hill zu kommen. ›Ich lasse die Hintertür unverschlossen, denn niemand braucht zu erfahren, dass du mich besuchen kommst. Ich werde im Musikzimmer sein.‹ Ein Bote überbrachte ihn.«
Mr Sattersway schwieg eine Minute oder zwei.
»Sie erinnern sich, dass er bei seiner Verhaftung behauptete, an dem bewussten Abend überhaupt nicht in jenem Haus gewesen zu sein. Er erklärte, dass er sein Gewehr geholt und zum Jagen in den Wald gegangen sei. Doch als die Polizei die Beweise auf den Tisch legte, war seine Aussage nichts mehr wert. Man fand seine Fingerabdrücke, wie Sie sich erinnern werden, sowohl auf dem Holz der Hintertür, als auch auf dem einen der beiden Cocktailgläser auf dem Tisch im Musikzimmer. Da gab er zu, dass er Lady Barnaby besucht hatte, dass sie eine stürmische Auseinandersetzung hatten, doch dass es ihm schließlich gelang, sie zu beruhigen. Er schwor, dass er seine Waffe draußen bei der Tür an die Wand gelehnt zurückließ und Lady Barnaby gesund und munter gewesen sei, als er ging. Das war ein oder zwei Minuten nach Viertel nach sechs. Er ging direkt nachhause, behauptete er, doch den Zeugenaussagen nach war er erst um Viertel vor sieben Uhr dort, und dabei ist es, wie ich eben erwähnte, kaum eine Meile weit. Man braucht keine halbe Stunde für die Strecke. Er hätte sein Gewehr ganz vergessen, behauptete er. Eine nicht sehr glaubhafte Erklärung… und doch…«
»Und doch?«, fragte Mr Quin.
»Nun«, sagte Mr Sattersway zögernd. »Es wäre doch möglich, nicht wahr? Der Anklagevertreter machte die Annahme natürlich lächerlich, doch ich glaube, er irrte sich. Wissen Sie, ich kenne viele junge Männer, und derartige gefühlvolle Auseinandersetzungen regen sie sehr auf – vor allem den dunklen nervösen Typ wie Martin Wylde. Frauen dagegen können eine solche Szene durchmachen und fühlen sich danach entschieden besser. Und haben noch ihre fünf Sinne beisammen. Bei ihnen hat so etwas die Funktion eines Sicherheitsventils. Beruhigt die Nerven und dergleichen. Doch ich sehe förmlich, wie Martin Wylde davongeht, in seinem Kopf ist ein großes Durcheinander, er fühlt sich elend und unglücklich, ohne einen einzigen Gedanken an die Waffe, die er an die Wand gelehnt zurücklässt.«
Er schwieg einige Minuten, ehe er fortfuhr:
»Nicht, dass dies eine Rolle spielt. Denn die nächste Szene ist nur zu eindeutig – unglücklicherweise. Es war genau zwanzig Minuten nach sechs Uhr, als man den Schuss hörte. Alle Angestellten hörten ihn, die Köchin, das Küchenmädchen, der Butler, das Hausmädchen und Lady Barnabys Zofe. Sie liefen ins Musikzimmer. Sie lag über die Lehne ihres Sessels gekrümmt da. Die Waffe war dicht an ihrem Hinterkopf abgefeuert worden, sodass sie ihr Ziel nicht verfehlen konnte. Mindestens zwei Kugeln schlugen ins Gehirn ein.«
Er schwieg wieder, und Mr Quin fragte wie nebenbei: »Die Angestellten machten ihre Aussagen, nehme ich an?«
Mr Sattersway nickte. »Ja. Der Butler war ein oder zwei Sekunden vor den andern da, doch ihre Aussagen waren praktisch alle gleich.«
»Sie haben alle ausgesagt?«, fragte Mr Quin nachdenklich. »Ohne Ausnahme?«
»Wenn ich es jetzt bedenke«, antwortete Mr Sattersway, »so wurde das Hausmädchen nur bei der gerichtlichen Voruntersuchung gehört. Sie fuhr nach Kanada, soviel ich weiß.«
»Ach so.«
In dem Schweigen, das entstand, schien die Atmosphäre in dem kleinen Raum mit einem gewissen Unbehagen aufgeladen zu sein. Plötzlich hatte Mr Sattersway das Gefühl, in die Verteidigung gedrängt worden zu sein.
»Warum hätte sie nicht hinfahren sollen?«, fragte er abrupt.
»Ja, warum nicht?«, sagte Mr Quin mit einem leichten, fast unmerklichen Achselzucken.
Irgendwie ärgerte Mr Sattersway die Bemerkung. Er wollte sie nicht zur Kenntnis nehmen und wieder vertrauten Boden gewinnen.
»Es konnte nicht viel Zweifel darüber geben, wer den Schuss abgegeben hatte. Tatsache ist, dass die Angestellten etwas den Kopf verloren. Es war niemand im Haus, der die Sache in die Hand hätte nehmen können. Es dauerte ein paar Minuten, bis es jemand einfiel, die Polizei zu verständigen, und als sie dies tun wollten, entdeckten sie, dass das Telefon nicht funktionierte.«
»So«, sagte Mr Quin. »Das Telefon funktionierte nicht.«
»Ja«, antwortete Mr Sattersway – und hatte plötzlich das Gefühl, auf einen äußerst wichtigen Punkt gestoßen zu sein. »Natürlich könnte es absichtlich geschehen sein«, sagte er langsam. »Doch das scheint keinen Sinn zu geben. Der Tod trat faktisch sofort ein.«
Mr Quin sagte nichts, und Mr Sattersway erkannte, dass diese Erklärung nicht genügte.
»Es gab einfach keinen andern Verdächtigen als den jungen Wylde«, fuhr er fort. »Sogar seiner eigenen Aussage nach war er erst drei Minuten aus dem Haus, als der Schuss abgegeben wurde. Wer hätte sonst schießen sollen? Sir George war beim Bridgespielen, ein paar Häuser weiter. Er ging um halb sieben Uhr und stieß genau vor dem Tor auf eine Angestellte, die ihm die Nachricht überbrachte. Der letzte Rubber wurde um halb sieben gemacht – darüber gibt es keinen Zweifel. Dann ist da noch Sir Georges Sekretär, Henry Thompson. An jenem Tag war er in London und in dem Augenblick, als der Schuss fiel, bei einer geschäftlichen Besprechung. Und schließlich haben wir noch Sylvia Dale, die eigentlich ein sehr gutes Motiv hat, wenn es auch unwahrscheinlich erscheint, dass sie mit einem derartigen Verbrechen etwas zu tun haben könnte. Sie begleitete eine Freundin zum Zug. Er fuhr genau um sechs Uhr achtundzwanzig vom Bahnhof Deering Vale ab. Das schließt sie aus. Dann die Angestellten. Was für ein Motiv hätte jemand wie sie haben sollen? Außerdem trafen sie praktisch gleichzeitig auf dem Schauplatz ein. Nein, es muss Martin Wylde gewesen sein.«
Doch er sagte dies mit einem zweifelnden Ton in der Stimme.
Schweigend aßen sie zu Mittag. Mr Quin war nicht in gesprächiger Laune, und Mr Sattersway hatte alles gesagt, was es zu sagen gab. Doch ihr Schweigen war nicht ohne Wirkung. Es war angefüllt mit Sattersways wachsender Unzufriedenheit, die auf seltsame Weise durch die Wortlosigkeit des andern noch mehr genährt wurde.
Plötzlich legte Mr Sattersway Gabel und Messer mit lautem Klirren hin. »Angenommen, der junge Mann ist tatsächlich unschuldig«, sagte er. »Er wird gehängt werden.«
Er sah aufgeregt und entsetzt aus. Noch immer sagte Mr Quin kein Wort.
»Nicht, dass…«, fing Mr Sattersway wieder an und brach ab. »Warum hätte die Person nicht nach Kanada fahren sollen?«, bemerkte er zusammenhanglos.
Mr Quin schüttelte den Kopf.
»Ich weiß nicht einmal, in welchen Teil von Kanada sie fuhr«, meinte Mr Sattersway verdrießlich.
»Könnten Sie das herausbekommen?«, fragte sein Gegenüber.
»Vermutlich schon. Der Butler, zum Beispiel. Er dürfte es wissen. Oder sicherlich Thompson, der Sekretär. Er müsste es wissen.«
Er schwieg erneut. Als er wieder sprach, klang seine Stimme beinahe bittend. »Nicht, dass mich die Sache etwas anginge, nicht wahr?«
»Dass ein junger Mann in etwas mehr als drei Wochen gehängt wird, meinen Sie?«
»Nun, ja – wenn Sie es so ausdrücken, wahrscheinlich doch. Ja, ich verstehe, was Sie meinen. Eine Frage von Leben und Tod. Und dazu das arme Mädchen! Ich bin nicht hartherzig – aber, was würde es schon nützen? Ist die ganze Geschichte nicht ziemlich fantastisch? Selbst wenn ich herausfinde, wo in Kanada die Frau ist – es würde wohl bedeuten, dass ich persönlich hinfahren müsste.«
Jetzt war Mr Sattersway wirklich sehr erregt. »Und ich wollte nächste Woche an die Riviera fahren«, sagte er pathetisch.
Der Blick, den er Mr Quin zuwarf, verriet klar und deutlich: Das tun Sie mir doch nicht an, nicht wahr?
»Sind Sie noch nie in Kanada gewesen?«
»Noch nie.«
»Ein sehr interessantes Land.«
Mr Sattersway sah ihn unentschlossen an. »Meinen Sie, ich sollte hinfahren?«
Mr Quin lehnte sich in seinem Stuhl zurück und zündete sich eine Zigarette an. Kleine Rauchwolken ausstoßend, begann er zu sprechen.
»Soviel ich weiß, sind Sie ein reicher Mann, Mr Sattersway. Kein Millionär, doch ein Mann, der seine Hobbys pflegen kann, ohne auf die Ausgaben achten zu müssen. Sie haben das Schauspiel, das andere Leute boten, immer als Zuschauer betrachtet. Ist es Ihnen nie in den Sinn gekommen, selbst eine Rolle zu spielen? Haben Sie sich nie auch nur für eine Minute als der Richter über das Schicksal anderer gesehen, als jemand, der mitten auf der Bühne steht und Leben und Tod in seinen Händen hält?«
Mr Sattersway beugte sich vor. Die alte Begeisterung war wieder da.
»Sie meinen, ich sollte rein auf Verdacht nach Kanada…«
Mr Quin lächelte. »Oh! Es war Ihr Vorschlag, hinzufahren, nicht meiner«, sagte er leichthin.
»So können Sie mich nicht abspeisen«, erklärte Mr Sattersway ernst. »Immer wenn ich Ihnen begegne…« Er brach ab.
»Nun?«
»Es ist etwas an Ihnen, das ich nicht verstehe. Vielleicht werde ich es niemals verstehen. Das letzte Mal, als ich Sie traf…«
»Es war am Abend der Sommersonnenwende.«
Mr Sattersway erschrak, als stecke hinter diesem Wort noch ein anderer Sinn, den er nicht begriff.
»Tatsächlich?«, sagte er verwirrt.
»Ja. Doch lassen wir das. Es ist unwichtig, oder etwa nicht?«
»Wenn Sie es sagen«, antwortete Mr Sattersway höflich. Er hatte das Gefühl, dass er irgendeinen bedeutenden Hinweis übersah. »Wenn ich aus Kanada zurückkomme«, er schwieg etwas verlegen, »dann würde ich… dann würde ich Sie gern treffen.«
»Ich habe leider im Augenblick keine feste Adresse«, erklärte Mr Quin bedauernd. »Aber ich komme oft hierher. Wenn Sie ebenfalls häufig in diesem Lokal essen, werden wir uns über kurz oder lang sicherlich wieder begegnen.«
Sie trennten sich in aller Freundschaft.
Mr Sattersway war sehr aufgeregt. Er eilte zum nahe gelegenen Cook-Reisebüro und erkundigte sich nach dem nächsten Schiff. Dann rief er in Deering Hill an. Ein Butler mit einer glatten und beflissenen Stimme meldete sich.
»Mein Name ist Sattersway. Ich spreche im Auftrag einer Anwaltskanzlei. Ich möchte mich wegen einer jungen Frau erkundigen, die bis vor Kurzem bei Ihnen als Hausmädchen gearbeitet hat.«
»Könnte es sich um Louisa handeln, Sir? Um Louisa Bullard?«
»Ja, so heißt sie«, erklärte Mr Sattersway, äußerst froh, dass er nun ihren Namen kannte.
»Leider ist sie nicht mehr in England, Sir. Vor sechs Monaten fuhr sie nach Kanada.«
»Können Sie mir ihre augenblickliche Adresse geben?«
Der Butler bedauerte. Es sei irgendein Ort in den Bergen, ein schottisch klingender Name. Ja, es fiel ihm wieder ein, Banff, so habe der Ort geheißen. Einige andere junge Damen im Hause hatten auf ein Lebenszeichen von ihr gehofft, aber sie habe nie geschrieben oder ihnen ihre Adresse gegeben.
Mr Sattersway bedankte sich und hängte ein. Er war immer noch voll Zuversicht, seine Abenteuerlust so groß wie vorher. Er würde nach Banff fahren. Wenn Louisa Bullard dort war, würde er sie irgendwie aufspüren.
Zu seinem Erstaunen genoss er die Fahrt sehr. Es war viele Jahre her, dass er eine längere Seereise unternommen hatte. Die Riviera, Le Touquet, Deauville und Schottland waren gewöhnlich sein Ziel. Das Gefühl, dass er in einer unmöglichen Sache unterwegs war, gab der Reise noch die geheime Würze. Für was für einen Dummkopf würden ihn seine Mitreisenden wohl halten, wenn sie wüssten, warum er auf dem Schiff war. Aber schließlich – kannten sie Mr Quin nicht.
In Banff hatte er sofort Erfolg. Louisa Bullard arbeitete dort in einem großen Hotel. Zwölf Stunden nach seiner Ankunft stand er ihr von Angesicht zu Angesicht gegenüber.
Sie war eine Frau von ungefähr fünfunddreißig Jahren, etwas blutarm, aber mit einer kräftigen Figur. Sie hatte hellbraunes, lockiges Haar und ein Paar ehrliche braune Augen. Sie war, dachte Mr Sattersway, etwas dumm, aber sehr vertrauenswürdig.
Sie glaubte es ihm sofort, als er erklärte, er sei gekommen, um noch nähere Einzelheiten über die Tragödie von Deering Hill zu erfahren.
»Ich habe in der Zeitung gelesen, dass Mr Martin Wylde schuldig gesprochen wurde, Sir. Das ist wirklich auch sehr traurig.«
Allem Anschein nach hatte sie keinen Zweifel an seiner Schuld.
»Ein netter junger Mann, der auf Abwege geraten ist. Ich will ja nicht schlecht von den Toten reden, aber eigentlich war die Lady schuld. Sie hat ihn dazu verleitet. Sie ließ ihn einfach nicht in Ruhe. Na, nun haben sie beide ihre Strafe gekriegt. Als Kind hatte ich an der Wand einen Spruch hängen: ›Gott lässt seiner nicht spotten‹, und das ist sehr wahr. Ich wusste, dass an jenem Abend etwas passieren würde, und genauso ist es gekommen!«
»Wieso denn das?«, fragte Mr Sattersway.
»Ich war auf meinem Zimmer, Sir, und zog mich um. Zufällig blickte ich aus dem Fenster. Draußen fuhr ein Zug vorbei, und der weiße Rauch stieg in den Himmel, und ob Sie’s glauben oder nicht, er sah aus wie eine riesige Hand. Eine riesige weiße Hand am rosa Abendhimmel. Die Finger waren gekrümmt, als wollten sie nach irgendetwas greifen. Richtig unheimlich! ›Hast du so etwas schon erlebt?‹, sagte ich. ›Das ist ein böses Zeichen.‹ Und genau in dem Augenblick hörte ich den Schuss. ›Da haben wir es!‹, rief ich, lief hinunter und stieß auf Carrie und die andern, die in der Halle standen. Wir gingen ins Musikzimmer, und da lag sie, in den Kopf geschossen und überall Blut und so. Schrecklich! Da habe ich den Mund aufgemacht, wirklich, und Sir George erzählt, dass ich am Himmel ein Zeichen gesehen hätte, doch er schien nicht viel davon zu halten. Ein Unglückstag war das gewesen. Schon am Morgen spürte ich es in allen Knochen. Ein Freitag und der Dreizehnte – was kann man da anderes erwarten?«
Sie redete immer weiter. Mr Sattersway war ungeduldig. Immer wieder brachte er das Gespräch auf das Verbrechen zurück und fragte sie genau aus. Schließlich musste er seine Niederlage zugeben. Louisa Bullard hatte erzählt, was sie wusste, und ihre Geschichte war ziemlich simpel und eindeutig.
Trotzdem entdeckte er einen einzigen wichtigen Punkt. Ihre jetzige Stelle hatte sie durch Mr Thompson, Sir Georges Sekretär, bekommen. Das Gehalt war so hoch, dass sie der Versuchung nicht widerstehen konnte und den Posten annahm, obwohl sie sofort England verlassen musste. Ein Mr Denman hatte in Kanada alle Formalitäten erledigt und ihr auch geraten, nicht nach England zu schreiben, weil sie deswegen »Schwierigkeiten mit der Einwanderungsbehörde« bekommen könnte. Sie hatte ihm blind geglaubt.
Das Gehalt, das sie im Laufe ihres Gesprächs erwähnte, war tatsächlich so hoch, dass es Mr Sattersway verdächtig erschien. Nach längerem Zögern beschloss er, Mr Denman aufzusuchen.
Wie er feststellte, war es nicht schwierig, von Mr Denman zu erfahren, was dieser wusste. Er hatte Thompson in London kennen gelernt, und Thompson hatte ihm einmal einen großen Gefallen getan. Im September war dann ein Brief von Thompson gekommen, dass Sir George aus persönlichen Gründen das junge Mädchen aus England wegschicken wolle. Ob er wohl für sie Arbeit finden könne? Eine bestimmte Geldsumme war überwiesen worden, um ihr Gehalt zu erhöhen.
»Wahrscheinlich die üblichen Schwierigkeiten«, meinte Mr Denman und lehnte sich weltmännisch in seinem Stuhl zurück. »Offenbar ein nettes, ruhiges Mädchen.«
Mr Sattersway war nicht der Meinung, dass es sich in diesem Fall um die »üblichen Schwierigkeiten« handelte. Louisa Bullard war nicht Sir George Barnabys verflossene Geliebte. Davon war er überzeugt. Aus irgendeinem Grund war es lebenswichtig gewesen, sie aus dem Land zu schicken. Aber warum? Und wer steckte dahinter? Sir George persönlich, mit Thompson als seinem Helfershelfer? Oder hatte der Sekretär von sich aus gehandelt und den Namen seines Arbeitgebers nur mit hineingezogen?
Immer noch über diese Fragen nachgrübelnd, machte sich Mr Sattersway auf die Heimreise. Er war müde und verzweifelt. Seine Fahrt nach Kanada war ein Reinfall gewesen.
Einen Tag nach seiner Rückkehr ging er ins Arlecchino. Er hatte immer noch das Gefühl, versagt zu haben. Er erwartete nicht, schon beim ersten Mal Erfolg zu haben, doch zu seiner Freude saß die vertraute Gestalt an dem Tisch in der Nische. Auf Mr Quins Gesicht lag ein freundliches Lächeln des Willkommens.
»Na«, sagte Mr Sattersway und nahm sich etwas Butter, »da haben Sie mich ganz umsonst auf die Jagd geschickt.«
Mr Quin zog die Brauen hoch. »Ich soll Sie geschickt haben?«, protestierte er. »Es war ganz und gar Ihre eigene Idee.«
»Wessen Idee es auch war – jedenfalls harte ich keinen Erfolg. Louisa Bullard hatte nichts zu erzählen.«
Dann berichtete Mr Sattersway in allen Einzelheiten von seiner Unterhaltung mit dem Hausmädchen und schilderte auch sein Gespräch mit Mr Denman. Schweigend hörte ihm Mr Quin zu.
»In einer Hinsicht fand ich doch etwas heraus«, bemerkte Mr Sattersway. »Man hat sie absichtlich aus dem Land geschickt. Doch warum? Ich begreife es nicht.«
»Nein?«, fragte Mr Quin, und seine Stimme klang wieder einmal sehr herausfordernd.
Mr Sattersway errötete. »Vielleicht glauben Sie, ich hätte sie noch genauer ausfragen sollen. Ich versichere Ihnen, dass ich die Geschichte immer wieder mit ihr durchgegangen bin. Es ist nicht meine Schuld, dass ich nicht erfahren habe, was wir erfahren wollten.«
»Sind Sie sicher?«, fragte Mr Quin.
Mr Sattersway blickte erstaunt auf. Mr Quin ließ seine Augen mit jenem leicht spöttischen Ausdruck auf Mr Sattersway ruhen, den dieser so gut kannte. Leicht verlegen schüttelte der kleine Mann den Kopf.
Es entstand ein längeres Schweigen, das Mr Quin schließlich brach, indem er in völlig anderem Ton sagte: »Neulich haben Sie die Leute, die bei dieser Geschichte eine Rolle spielen, so wunderbar beschrieben. Mit ein paar Worten haben Sie sie so deutlich gemacht, als hätte ich ein Bild von ihnen gesehen. Ich wünschte, Sie würden das mit dem Schauplatz selbst auch tun. Den haben Sie irgendwie im Dunkeln gelassen.«
Mr Sattersway war geschmeichelt.
»Den Schauplatz. Meinen Sie Deering Hill? Nun, heute ist es ein ziemlich durchschnittliches Haus. Rote Ziegel und Erkerfenster. Von außen nicht gerade imponierend, doch sehr komfortabel. Kein sehr großes Haus. Ungefähr zwei Morgen Grund dazu. Die Häuser dort sind alle ähnlich. Gebaut für reiche Leute, das Innere erinnert an ein Hotel, die Schlafzimmer gleichen Hotelsuiten. Bäder und heißes und kaltes Wasser und einen Haufen vergoldete Lichtschalter. Alles herrlich bequem, aber nicht gerade ländlich. Man merkt, dass Deering Vale nur neunzehn Meilen von London weg ist.«
Mr Quin hatte aufmerksam zugehört. »Die Zugverbindungen sind schlecht, soviel ich gehört habe«, meinte er.
»Ach, das weiß ich nicht«, sagte Mr Sattersway, der sich für sein Thema zu erwärmen begann. »Ich war letzten Sommer eine Zeit lang dort. Man kam bequem in die Stadt. Natürlich fahren die Züge nur jede Stunde, immer achtundvierzig Minuten nach der vollen Stunde, vom Waterloo-Bahnhof aus. Bis abends nach zehn Uhr.«
»Und wie lange dauert es?«
»Ziemlich genau vierzig Minuten. Achtundzwanzig Minuten nach ist man in Deering Vale.«
»Natürlich«, sagte Mr Quin und machte eine ungeduldige Geste, »das hatte ich vergessen: Miss Dale begleitete an jenem Abend jemand zum Zug sechs Uhr achtundzwanzig.«
Ein oder zwei Minuten sagte Mr Sattersway gar nichts. Seine Gedanken beschäftigten sich wieder mit dem ungelösten Problem, und schließlich sagte er: »Ich wünschte, Sie würden mir verraten, was Sie damit meinten: Ob ich ganz sicher sei, nichts erfahren zu haben.« Es klang ziemlich kompliziert, was Mr Sattersway damit hatte ausdrücken wollen, doch Mr Quin versuchte nicht, so zu tun, als verstände er nicht.
»Ich überlegte nur, ob Sie die Sache nicht zu genau genommen haben. Schließlich fanden Sie heraus, dass Louisa Bullard absichtlich aus dem Land geschickt worden war. Und dafür muss es einen Grund geben. Und der Grund ist in dem zu suchen, was sie Ihnen erzählte.«
»Nun«, sagte Mr Sattersway streitsüchtig, »was hat sie denn erzählt? Wenn sie als Zeugin erschienen wäre, was hätte sie aussagen können?«
»Vielleicht hätte sie ihre Beobachtung geschildert.«
»Was hat sie denn beobachtet?«
»Das Zeichen am Himmel.«
Mr Sattersway starrte ihn verblüfft an.
»Sie halten diesen Unsinn für wichtig? Diesen abergläubischen Unfug, dass es – die Hand Gottes war?«
»Vielleicht«, erwiderte Mr Quin. »Nach allem, was Sie und ich wissen, könnte es auch die Hand Gottes gewesen sein.«
Sein Gegenüber war über den ernsten Ton in Mr Quins Stimme sehr erstaunt. »Unsinn«, erklärte er. »Sie hat selbst gesagt, dass es der Rauch aus der Lokomotive war.«
»Ein Zug in die Stadt oder von der Stadt?«, murmelte Mr Quin.
»Kaum der Zug nach London. Der geht immer zehn Minuten vor der vollen Stunde. Es muss einer aus der Stadt gewesen sein, der um sechs Uhr achtundzwanzig. Nein, das geht nicht. Sie hat gesagt, der Schuss fiel sofort danach, und wir wissen, dass er um zwanzig Minuten nach sechs abgefeuert wurde. Der Zug kann nicht zehn Minuten zu früh gekommen sein.«
»Auf dieser Strecke wohl kaum«, stimmte ihm Mr Quin zu.
Mr Sattersway starrte grübelnd ins Leere.
»Vielleicht ein Güterzug«, murmelte er. »Aber dann…«
»Dann wäre es nicht notwendig gewesen, sie aus England wegzuschicken. Das finde ich auch«, meinte Mr Quin.
Mr Sattersway sah ihn entgeistert an.
»Der Zug um sechs Uhr achtundzwanzig«, sagte er langsam. »Aber wenn das stimmt und der Schuss erst dann fiel, warum: behaupten alle, es sei früher gewesen?«
»Das ist doch offensichtlich«, erwiderte Mr Quin. »Die Uhren gingen falsch.«
»Alle?«, fragte Mr Sattersway zweifelnd. »Das wäre ein höchst seltsamer Zufall, wissen Sie.«
»Ich dachte nicht an einen Zufall«, antwortete Mr Quin. »Mir fiel ein, dass es ein Freitag war.«
»Wieso Freitag?«
»Sie erzählten mir doch, dass Sir George immer am Freitagnachmittag die Uhren aufzöge«, erklärte Mr Quin seinem Gegenüber entschuldigend.
»Er stellte sie zehn Minuten zurück«, sagte Mr Sattersway und flüsterte fast, weil ihn die eben gemachte Entdeckung so beeindruckte. »Dann ging er zum Bridgespielen. Wahrscheinlich hatte er die Mitteilung seiner Frau an Martin Wylde gelesen, die sie am Morgen geschrieben hatte. Ja, ganz bestimmt hat er den Brief geöffnet. Er verließ die Bridgegesellschaft um halb sieben Uhr, entdeckte Martins Gewehr neben der Haustür, ging hinein und erschoss sie von hinten. Dann lief er wieder hinaus, warf die Waffe in die Büsche, wo sie später gefunden wurde, und tat, als käme er gerade durch das Nachbartor, als man ihn holen wollte. Aber das Telefon! Was ist mit dem Telefon? Ach ja, ich verstehe. Er unterbrach die Verbindung, damit man die Polizei nicht anrufen konnte. Sie hätte sich vermutlich die Uhrzeit notiert. Und jetzt stimmt auch Wyldes Geschichte. In Wirklichkeit ging er um fünfundzwanzig Minuten nach sechs Uhr. Selbst wenn er langsam war, musste er gegen Viertel vor sieben zuhause sein. Ja, jetzt verstehe ich! Louisa war eine Gefahr mit ihrem endlosen Geschwätz über diesen abergläubischen Unsinn. Jemand hätte die Zusammenhänge erkennen können, und dann wäre es mit dem schönen Alibi aus gewesen!«
»Großartig«, bemerkte Mr Quin.
Mr Sattersway errötete vor Stolz.
»Die Frage ist nur – was machen wir nun?«
»Ich schlage vor, bei Sylvia Dale anzufangen«, sagte Mr Quin.
Mr Sattersway wirkte nicht überzeugt. »Ich erwähnte schon«, sagte er, »dass sie ein wenig – hm – dumm ist…«
»Sie hat einen Vater und Brüder, die die notwendigen Schritte unternehmen werden.«
»Das ist wahr«, bemerkte Mr Sattersway erleichtert.
Bald darauf saß er mit der jungen Frau zusammen und erzählte ihr die ganze Geschichte. Sie hörte aufmerksam zu. Sie stellte keine Fragen, sondern stand einfach auf, nachdem er geendet hatte.
»Ich brauche ein Taxi. Sofort!«
»Mein liebes Kind, was haben Sie vor?«
»Ich fahre zu Sir George Barnaby.«
»Unmöglich! Das ist völlig falsch! Erlauben Sie mir…«
Er blieb an ihrer Seite und redete weiter auf sie ein. Doch es blieb ohne Wirkung. Sylvia Dale hatte ihre eigenen Pläne. Immerhin erlaubte sie ihm, sie im Taxi zu begleiten, doch für alle seine Beteuerungen hatte sie nur ein taubes Ohr. Er musste im Taxi sitzen bleiben, während sie in Sir Georges Stadtbüro ging.
Eine halbe Stunde später erschien sie wieder. Sie wirkte erschöpft, ihre Schönheit war in sich zusammengefallen wie eine Pflanze, die man vergessen hatte zu gießen. Mr Sattersway war sehr besorgt um sie.
»Ich habe gesiegt«, murmelte sie, während sie sich mit halbgeschlossenen Augen im Sitz zurücklehnte.
»Wieso?«, fragte er aufgeregt. »Was haben Sie getan? Was haben Sie gesagt?«
Sie richtete sich etwas auf.
»Ich erzählte ihm, dass Louisa Bullard mit ihrer Geschichte zur Polizei gegangen sei. Dass die Polizei Nachforschungen angestellt und jemand ihn gesehen habe, wie er zu seinem Haus ging und es wieder verließ, ein paar Minuten nach halb sieben. Ich erklärte ihm, dass er verspielt habe. Er brach zusammen. Ich sagte, es sei für ihn immer noch Zeit zu verschwinden, dass die Polizei erst in etwa einer Stunde erscheinen würde, um ihn zu verhaften. Wenn er ein Geständnis unterschriebe, würde ich nichts gegen ihn unternehmen. Andernfalls würde ich das ganze Haus zusammenschreien und allen Leuten die Wahrheit erzählen. Er geriet in eine derartige Panik, dass er gar nicht mehr wusste, was er tat. Er unterschrieb, ohne sich über die Folgen klar zu sein.«
Sie drückte ihm den Bogen in die Hand. »Nehmen Sie es! Nehmen Sie es! Sie wissen, was Sie tun müssen, damit Martin freikommt!«
»Er hat tatsächlich unterschrieben!«, rief Mr Sattersway verblüfft.
»Er ist ein wenig dumm, wissen Sie«, sagte Sylvia Dale. »Genau wie ich«, fügte sie einsichtig hinzu. »Deshalb weiß ich auch, wie dumm sich die Leute benehmen können. Wir geraten außer uns, dann tun wir etwas Falsches, und hinterher bedauern wir es.«
Sie erschauerte, und Mr Sattersway tätschelte ihr die Hand.
»Sie brauchen etwas Kräftigendes«, sagte er. »Kommen Sie, wir sind ganz in der Nähe eines reizenden Lokals, in das ich besonders gern gehe: Es ist das Arlecchino. Sind Sie schon einmal dort gewesen?«
Sie schüttelte den Kopf.
Mr Sattersway ließ das Taxi halten und führte sie in das kleine Restaurant. Er ging mit ihr zu dem Tisch in der Nische, und sein Herz schlug freudig erregt. Doch der Tisch war leer.
Sylvia Dale sah an seinem Gesicht, wie enttäuscht er war. »Was ist denn?«, fragte sie.
»Nichts«, antwortete Mr Sattersway. »Das heißt, ich hatte halb erwartet, hier einen Freund zu treffen. Aber es macht nichts. Irgendwann sehe ich ihn wieder. Da bin ich ganz sicher.«