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Mr Sattersway war in Monte Carlo und genoss den Sonnenschein. Alljährlich verließ er am zweiten Sonntag des Januar England und fuhr an die Riviera. Er war pünktlicher als jede Schwalbe. Im April kehrte er nach England zurück, verbrachte Mai und Juni in London und hatte noch nicht ein einziges Mal Ascot verpasst. Nach dem Spiel zwischen Eton und Harrow verließ er London wieder und machte auf dem Land ein paar Besuche, ehe er nach Deauville oder Le Touquet abreiste. Jagdeinladungen füllten den größten Teil des September und Oktober aus, und gewöhnlich verbrachte er dann einige Monate in London, um das Jahr abzurunden. Er kannte jeden, und man konnte mit Bestimmtheit sagen, dass jeder ihn kannte.
An diesem Vormittag hatte er die Stirn gefurcht. Das Blau des Meeres war bewundernswert, die Gärten waren, wie immer, eine Lust, aber die Menschen enttäuschten ihn – in seinen Augen waren sie eine schlecht gekleidete, protzige Menge. Natürlich befanden sich ein paar Spieler darunter, verdammte Seelen, die es unabwendbar hierher zog. Sie duldete Mr Sattersway. Sie waren eine notwendige Kulisse. Vermissen tat er jedoch den üblichen Sauerteig der Elite – seine eigenen Leute. »Das kommt von der Veränderung«, sagte Mr Sattersway düster. »Heutzutage kommen alle möglichen Leute hierher, die sich früher so etwas nicht leisten konnten. Und außerdem werde ich natürlich langsam alt… Die vielen jungen Leute – die kommenden Leute – fahren neuerdings in diese Schweizer Orte.«
Es gab jedoch noch andere, die er vermisste: die gut gekleideten Barone und Grafen aus der Diplomatie, die Großherzöge 1 und die königlichen Prinzen. Der einzige königliche Prinz, den er bisher entdeckt hatte, bediente in einem weniger bekannten Hotel den Aufzug. Ferner vermisste er die bezaubernden und kostspieligen Damen. Ein paar gab es zwar immer noch, aber doch nicht annähernd so viele wie einstmals.
Mr Sattersway war ein ernsthafter Beobachter jenes Dramas, das »Leben« genannt wird; am liebsten war es ihm jedoch, wenn es wirklich farbenprächtig war. Er spürte, wie Entmutigung ihn überkam. Die Werte änderten sich – und er, er war zu alt, um sich noch zu ändern.
In diesem Augenblick bemerkte er, dass Gräfin Zarnowa sich ihm näherte.
Seit Jahren hatte Mr Sattersway die Gräfin während der Saison in Monte Carlo angetroffen. Zum ersten Mal hatte er sie gesehen, als sie sich in der Begleitung eines Großherzogs befand. Das nächste Mal war sie mit einem österreichischen Baron zusammen gewesen. In den folgenden Jahren war sie viel mit sehr jungen Männern, fast Knaben, zusammen gesehen worden.
Auch jetzt war sie von einem sehr jungen Mann begleitet. Zufällig kannte Mr Sattersway ihn, und das bedauerte er. Franklin Rudge war ein junger Amerikaner, das typische Produkt eines mittelwestlichen Staates, sehr darauf bedacht, Eindruck zu machen, ungehobelt, jedoch liebenswert, und überhaupt eine seltsame Mischung aus Gerissenheit und Idealismus. Er war mit einer Gruppe von Amerikanern beiderlei Geschlechts nach Monte Carlo gekommen, die alle demselben Typ angehörten. Es war ihre erste flüchtige Bekanntschaft mit der Alten Welt, und sowohl mit Kritik als auch mit Anerkennung waren sie sehr freimütig.
Alles in allem hatten sie eine Abneigung gegen die Engländer in den Hotels, und die Engländer hatten eine Abneigung gegen sie. Mr Sattersway, der sich zugutehielt, ein Kosmopolit zu sein, mochte sie allerdings. Ihre Direktheit und ihre Energie sagten ihm zu, obgleich ihre gelegentlichen sprachlichen Schnitzer ihm einen Schauer über den Rücken jagten.
Jedenfalls war er der Meinung, dass Gräfin Zarnowa für den jungen Franklin Rudge eine höchst ungeeignete Freundin sei. Höflich nahm er den Hut ab, als sie vorbeigingen, und die Gräfin schenkte ihm ein charmantes Kopfnicken und ein Lächeln.
Sie war eine sehr große Frau und geschickt zurechtgemacht. Ihr Haar war tiefschwarz, wie übrigens auch ihre Augen, und Augenwimpern wie Augenbrauen waren noch schwärzer, als die Natur es jemals zu Stande gebracht hätte.
Mr Sattersway, der sich in den weiblichen Geheimnissen genauer auskannte, als es für einen Mann gut war, konnte nicht umhin, jene Kunst zu bewundern, mit der sie zurechtgemacht war. Ihr Teint wirkte makellos und war von einem cremefarbenen Weiß. Die leicht angedeuteten Schatten unter den Augen waren sehr wirkungsvoll. Ihre Lippen waren weder karmesinrot noch purpurrot, sondern von einem gedämpften Weinrot. Gekleidet war sie in eine sehr gewagte Kreation aus Schwarz und Weiß, und ihr Sonnenschirm hatte einen rötlichen Ton, der für ihr Gesicht ausgesprochen vorteilhaft war.
Franklin Rudge machte einen glücklichen und gewichtigen Eindruck.
So ein Dummkopf, überlegte Mr Sattersway. Aber es geht mich nichts an, und außerdem würde er doch nicht auf mich hören. Na ja, ich habe meine Erfahrungen auch selbst sammeln müssen.
Trotzdem machte er sich nicht geringe Gedanken, weil zu der Gruppe auch eine sehr attraktive kleine Amerikanerin gehörte, und er war überzeugt, dass sie Franklin Rudges Freundschaft mit der Gräfin nicht gern sah.
Er war gerade im Begriff, seine Schritte in die entgegengesetzte Richtung zu lenken, als das eben erwähnte Mädchen ihm auf einem der Wege entgegenkam. Sie trug ein gutgeschnittenes Kostüm mit einer weißen Bluse, vernünftige Straßenschuhe, und in der Hand hielt sie einen Reiseführer. Es gibt Amerikanerinnen, die durch Paris kommen und sich anziehen, als wären sie die Königin von Saba, aber zu ihnen gehörte Elizabeth Martin nicht. Sie absolvierte Europa mit ernster und bewusster Entschlossenheit, besaß hohe Vorstellungen von Kultur und Kunst und war sehr darauf bedacht, für ihren begrenzten Geldvorrat möglichst viel zu erleben.
Es ist zweifelhaft, ob Mr Sattersway den kulturellen oder den künstlerischen Aspekt bei ihr sah, wenn er an sie dachte. Ihm kam sie lediglich sehr jung vor.
»Guten Morgen, Mr Sattersway«, sagte Miss Martin. »Haben Sie Franklin – Mr Rudge – irgendwo gesehen?«
»Vor wenigen Minuten.«
»Wahrscheinlich schon wieder mit seiner Freundin, der Gräfin«, sagte das Mädchen empört.
»Ah – mit der Gräfin, ja«, gab Mr Sattersway zu.
»Seine Gräfin kann mir gestohlen bleiben«, sagte das Mädchen mit heller Stimme. »Franklin ist ganz verrückt nach ihr. Warum? Das begreife ich nicht!«
»Sie hat eine sehr charmante Art, glaube ich«, sagte Mr Sattersway vorsichtig.
»Kennen Sie sie?«
»Flüchtig.«
»Um Franklin mache ich mir richtige Sorgen«, sagte Miss Martin. »Im Allgemeinen ist der Junge sonst vernünftig. Man kann sich gar nicht vorstellen, dass er auf so eine Sirene hereinfällt. Und er lässt sich auch gar nichts sagen. Wenn man mit ihm reden will, wird er wild wie eine Hornisse. Sagen Sie, ist sie wirklich eine Gräfin?«
»Möglich ist es.«
»Das ist wieder diese typisch englische Art«, rief Miss Martin mit allen Anzeichen des Missvergnügens. »Aber eines weiß ich genau: In Sargon Springs – das ist unsere Heimatstadt, Mr Sattersway – würde diese Gräfin verdammt komisch aussehen.«
Das hielt Mr Sattersway für möglich. Er bedachte dabei jedoch, dass sie sich nicht in Sargon Springs, sondern im Fürstentum Monaco befanden, wo die Gräfin zufälligerweise sehr viel besser mit ihrer Umgebung harmonisierte als Miss Martin.
Er erwiderte trotzdem nichts, und Miss Martin ging weiter in Richtung Casino. Mr Sattersway setzte sich in der Sonne auf einen Stuhl, und wenig später gesellte Franklin Rudge sich zu ihm.
Rudge war voll Begeisterung.
»Ich finde es großartig«, verkündete er mit kindlicher Begeisterung. »Jawohl, Sir! Das nenne ich das Leben kennen lernen – ganz anders als bei uns in den Staaten!«
Der Ältere wandte ihm ein nachdenkliches Gesicht zu. »Das Leben wird überall fast genau gleich gelebt«, sagte er ziemlich unbeteiligt. »Es ist nur anders verkleidet – das ist alles.«
Franklin Rudge starrte ihn an. »Das verstehe ich nicht.«
»Nein«, sagte Mr Sattersway, »weil Sie bis dahin noch ein ganzes Stück vor sich haben. Aber entschuldigen Sie bitte. Wenn man älter ist, soll man es sich nicht angewöhnen, Predigten zu halten.«
»Das macht nichts!« Rudge lachte und entblößte dabei das prachtvolle Gebiss, das für seine Landsleute typisch ist. »Wissen Sie – eines muss ich sagen: Das Casino hat mich enttäuscht. Ich dachte immer, wenn man spielt… es wäre ganz anders, viel hektischer. Ich finde es ziemlich langweilig und vulgär.«
»Für den Spieler bedeutet es Leben und Tod, wenn es auch sonst keinen auffällig großen Wert besitzt«, sagte Mr Sattersway.
»Darüber zu lesen ist viel aufregender, als ihm zuzusehen.«
Der junge Mann nickte.
»Sie sind übrigens gesellschaftlich ein ziemlich großes Tier, nicht?«, fragte er, und seine schüchterne Aufrichtigkeit war schuld, dass man diese Frage nicht übel nehmen konnte.
»Ich meine, Sie kennen alle Herzoginnen und Gräfinnen und so weiter.«
»Eine ganze Menge kenne ich«, sagte Mr Sattersway. »Und außerdem noch viele Juden und Portugiesen und Griechen und Argentinier.«
»Wieso?«, sagte Mr Rudge.
»Ich wollte damit nur sagen«, erklärte Mr Sattersway, »dass ich in der englischen Gesellschaft zuhause bin.«
Franklin Rudge überlegte einen Augenblick.
»Sie kennen doch Gräfin Zarnowa, nicht?«, sagte er schließlich.
»Flüchtig«, erwiderte Mr Sattersway und gab ihm dieselbe Antwort, die er schon Miss Martin gegeben hatte.
»Das ist wirklich eine interessante Frau. Meistens glaubt man, die Aristokratie Europas hat abgewirtschaftet und ist am Ende. Für die Männer mag das stimmen – aber für die Frauen gilt es bestimmt nicht. Ist es nicht großartig, ein so hinreißendes Wesen wie die Gräfin kennen zu lernen? Witzig, charmant, intelligent, dazu eine Kultur, die Generationen aufgebaut haben, und außerdem eine Aristokratin bis in die Fingerspitzen.«
»Ist sie das?«, fragte Mr Sattersway.
»Ja – ist sie das denn nicht? Kennen Sie ihre Familie?«
»Nein«, sagte Mr Sattersway. »Ich fürchte, ich weiß von ihr nur sehr wenig.«
»Sie ist eine geborene Radcynski«, erklärte Franklin Rudge. »Das ist eine der ältesten ungarischen Familien. Und sie hat ein ungewöhnliches Leben geführt. Haben Sie ihre lange Perlenkette gesehen?«
Mr Sattersway nickte.
»Die hat ihr der König von Bosnien geschenkt. Sie hat für ihn ein paar geheime Papiere aus dem Königreich geschmuggelt.«
»Ich habe schon gehört«, sagte Mr Sattersway, »dass der König von Bosnien ihr diese Perlenkette geschenkt hätte.«
Dies war tatsächlich ein Thema, über das viel gesprochen wurde, zumal es hieß, die Dame habe seinerzeit Seiner Majestät sehr nahe gestanden.
»Ich will Ihnen noch mehr erzählen.«
Mr Sattersway lauschte, und je länger er lauschte, desto mehr bewunderte er die blühende Fantasie der Gräfin. Nichts von vulgärer Sirene, wie Elizabeth Martin sich ausgedruckt hatte. Dazu war der junge Mann viel zu schlau, sauber und idealistisch. Nein: Die Gräfin bewegte sich vielmehr in einem Labyrinth diplomatischer Intrigen. Sie hatte Feinde, Verleumder – natürlich! Der junge Amerikaner bekam das Gefühl, dass er einen flüchtigen Blick in das Leben des alten Regimes werfen durfte, dessen Mittelpunkt die Gräfin bildete: einsam, aristokratisch, Freundin der Berater und Fürsten – eine Gestalt, die romantische Verehrung auslösen konnte.
»Und nach allen Seiten hat sie sich verteidigen müssen«, schloss der junge Mann voller Wärme. »Es ist schon sehr ungewöhnlich, aber in ihrem ganzen Leben hat sie nicht eine einzige Frau gefunden, mit der sie sich richtig hätte anfreunden können. Immer haben die anderen Frauen etwas gegen sie gehabt.«
»Wahrscheinlich«, sagte Mr Sattersway.
»Finden Sie das nicht auch skandalös?«, fragte Rudge.
»Nein«, sagte Mr Sattersway nachdenklich. »Das kann ich wirklich nicht behaupten. Frauen haben nun einmal eigene Ansichten – verstehen Sie? Und es hat keinen Sinn, sich in ihre Angelegenheiten einmischen zu wollen. Jede Einzelne ist eine Hauptdarstellerin.«
»Hier stimme ich mit Ihnen nicht überein«, sagte Rudge ernst. »Gerade das gehört heutzutage zum Schlimmsten, was man sich denken kann: die Unfreundlichkeit zwischen Frau und Frau. Kennen Sie Elizabeth Martin? Theoretisch stimmt sie mit mir vollkommen überein. Wir haben oft darüber gesprochen. Sie ist zwar noch ein Kind, aber was sie so denkt, ist völlig in Ordnung. In dem Moment aber, wo es zum praktischen Versuch kommt – naja, da unterscheidet sie sich eben von den anderen in keiner Weise. Sie kann die Gräfin nicht ausstehen, obwohl sie überhaupt nichts von ihr weiß, und sie will auch nicht hinhören, wenn ich ihr etwas zu erzählen versuche. Da stimmt doch etwas nicht, Mr Sattersway. Ich glaube an die Demokratie – und was ist sie anders als eine Bruderschaft unter Männern und Schwesternschaft unter Frauen?«
Er schwieg voller Ernst; Mr Sattersway versuchte, sich eine Situation vorzustellen, in der zwischen der Gräfin und Elizabeth Martin ein schwesterliches Gefühl entstehen könnte. Es gelang ihm nicht.
»Andererseits ist es aber so«, fuhr Rudge fort, »dass die Gräfin Elizabeth unendlich bewundert und sie wirklich bezaubernd findet. Und was beweist das?«
»Das beweist«, sagte Mr Sattersway trocken, »dass die Gräfin schon beträchtlich länger lebt als Miss Martin.«
Völlig unerwartet sprang Franklin Rudge auf ein anderes Thema über.
»Wissen Sie, wie alt sie ist? Sie hat es mir gesagt. Verdammt anständig von ihr. Ich hätte sie auf neunundzwanzig geschätzt, aber sie hat mir selbst gesagt, ganz von sich aus, dass sie fünfunddreißig sei. So sieht sie wirklich nicht aus, nicht?«
Mr Sattersway, dessen private Vermutungen über das Alter der Dame zwischen fünfundvierzig und fünfzig schwankte, zog lediglich die Augenbrauen hoch.
»Ich sollte Sie davor warnen, alles zu glauben, was man Ihnen hier in Monte Carlo erzählt.«
Er hatte genügend Erfahrung, um die Fruchtlosigkeit einer Auseinandersetzung mit dem jungen Mann einzusehen. Franklin Rudge befand sich in einem Zustand weißglühender Ritterlichkeit, dass er eine Behauptung, die nicht von stichhaltigen Beweisen gestützt war, einfach nicht geglaubt haben würde.
»Da kommt die Gräfin«, sagte er.
Sie näherte sich den beiden mit jener lässigen Anmut, die ihr so gut stand. Wenig später saßen sie zu dritt zusammen. Sie war zu Mr Sattersway zwar ausgesprochen charmant, jedoch in einer abwesenden Art. Immer wieder wandte sie sich an ihn, fragte ihn nach seiner Meinung und behandelte ihn wie eine Autorität.
Die ganze Geschichte war sehr klug eingefädelt. Nur wenige Minuten waren verstrichen, als Franklin Rudge feststellte, dass er auf sehr reizende, wenn auch unmissverständliche Weise fortgeschickt worden war, während die Gräfin und Mr Sattersway allein zurückblieben.
Sie klappte den Sonnenschirm zusammen und begann, mit der Spitze Figuren in den Staub zu zeichnen.
»Sie interessieren sich für diesen amerikanischen Jungen, Mr Sattersway, nicht wahr?«
»Er ist ein netter Bursche«, erwiderte Mr Sattersway unverbindlich.
»Ja, ich finde ihn auch sympathisch«, sagte die Gräfin nachdenklich. »Ich habe ihm einiges aus meinem Leben erzählt.«
»So?«
»Einzelheiten, die ich bisher nur ganz wenigen anvertraut habe«, fuhr die Gräfin verträumt fort. »Ich habe ein ungewöhnliches Leben geführt, Mr Sattersway. Nur wenige Menschen würden mir jene erstaunlichen Dinge glauben, die ich erlebt habe.«
Mr Sattersway war gescheit genug, ihre Absicht zu erkennen. Immerhin bestand die Möglichkeit, dass die Geschichten, die sie Franklin Rudge erzählt hatte, tatsächlich wahr waren. Es war zwar äußerst unwahrscheinlich und im höchsten Grade unbeweisbar, aber möglich war es doch…
Er erwiderte nichts, und die Gräfin blickte weiterhin verträumt über die Bucht.
Und plötzlich hatte Mr Sattersway einen seltsamen und ganz neuen Eindruck von ihr. Er sah in ihr nicht mehr ein habgieriges Wesen, sondern ein verzweifeltes, in die Enge getriebenes Geschöpf, das sich mit Händen und Füßen wehrte. Verstohlen blickte er sie von der Seite an. Der Sonnenschirm war zusammengeklappt, und so konnte er die kleinen Falten in den Augenwinkeln deutlich erkennen. An der Schläfe pochte eine Ader.
Wieder überkam sie ihn – diese wachsende Gewissheit. Sie war ein verzweifeltes gejagtes Geschöpf. Erbarmungslos würde sie gegen ihn oder jeden andern vorgehen, der sich zwischen sie und Franklin Rudge stellte. Aber immer noch hatte er das Gefühl, die Bedeutung der Situation nicht ganz zu begreifen. Fest stand, dass sie genügend Geld hatte. Sie war immer bildschön angezogen, und ihr Schmuck war wunderbar. In diesem Punkt war sie wirklich nicht auf andere angewiesen. War es vielleicht Liebe? Frauen ihres Alters verliebten sich oft, wie er wusste, in junge Männer. Das wäre also möglich. Und er war überzeugt, dass es für diese Situation eine nicht alltägliche Erklärung gab.
Das Alleinsein mit ihm war, wie er merkte, nichts anderes, als dass sie ihm den Fehdehandschuh zuwarf. Sie hatte in ihm ihren Hauptfeind erkannt. Bestimmt hoffte sie, sie könne ihn dazu bringen, abfällig über Franklin Rudge zu sprechen. Mr Sattersway lächelte. Er war zu alt, um darauf noch hereinzufallen. Er wusste inzwischen, wann es klug war, sich auf die Zunge zu beißen.
Am gleichen Abend beobachtete er sie, als sie ihr Glück beim Roulette versuchte.
Immer wieder setzte sie, um dann zu erleben, wie ihr Einsatz weggerafft wurde. Sie trug ihre Verluste mit Fassung, mit dem stoischen Gleichmut des alten habitué. Ein- oder zweimal setzte sie en plein, setzte das Maximum auf Rot, gewann eine kleine Summe im mittleren Dutzend und verlor sie dann wieder; schließlich setzte sie sechsmal auf manque und verlor. Danach wandte sie sich mit einem leichten anmutigen Schulterzucken ab.
In ihrem Kleid aus einem goldenen Gewebe, das einen grünen Schimmer hatte, sah sie ungewöhnlich eindrucksvoll aus. Die berühmten bosnischen Perlen hatte sie um den Hals geschlungen, und an den Ohren trug sie lange Perlenohrgehänge.
Mr Sattersway hörte, wie zwei Männer in seiner Nähe sich über sie unterhielten.
»Die Zarnowa«, sagte der eine. »Sie hält sich gut, was? Und die bosnischen Kronjuwelen stehen ihr ausgezeichnet.«
Der andere – ein kleiner, jüdisch aussehender Mann – starrte neugierig hinter ihr her.
»Das also sind die Perlen aus Bosnien?«, fragte er. »Das ist wirklich seltsam.«
Leise lachte er vor sich hin.
Mehr konnte Mr Sattersway nicht hören, denn in diesem Augenblick wandte er sich um und war entzückt, einen alten Freund zu erkennen.
»Mein lieber Mr Quin!« Er schüttelte ihm warm die Hand. »Sie hier wiederzusehen, hätte ich mir wirklich nicht träumen lassen.«
Mr Quin lächelte; sein dunkles, reizvolles Gesicht leuchtete auf. »Das darf Sie nicht überraschen«, sagte er. »Es ist die Zeit des Karnevals. Und während des Karnevals bin ich häufig hier.«
»Wirklich? Ja, das ist eine große Freude! Legen Sie sehr viel Wert darauf, hier zu bleiben? Ich finde es ziemlich stickig.«
»Draußen dürfte es angenehmer sein«, stimmte der andere zu. »Gehen wir in die Anlagen hinaus.«
Die Luft in den Anlagen war zwar frisch, aber nicht kalt. Beide Männer holten tief Atem. »Das ist doch besser«, sagte Mr Sattersway.
»Viel besser«, stimmte Mr Quin zu. »Und wir können auch freier sprechen. Ich bin überzeugt, dass Sie mir eine ganze Menge berichten wollen.«
»Das stimmt allerdings.«
Mr Sattersway sprach sehr schnell, während er seine Geschichte erzählte. Wie gewöhnlich war er auf seine Fähigkeit, eine Atmosphäre zu schildern, besonders stolz. Die Gräfin, der junge Franklin und die kompromisslose Elizabeth – sie alle zeichnete er mit kräftigen Strichen.
»Seit ich Sie kennen lernte, haben Sie sich sehr verändert«, sagte Mr Quin lächelnd, als der Bericht beendet war.
»In welcher Art?«
»Damals waren Sie zufrieden, wenn Sie den Dramen, die das Leben zu bieten hat, zuschauen konnten. Heute – heute wollen Sie an ihnen teilnehmen, eine Rolle spielen.«
»Das stimmt«, gestand Mr Sattersway. »Aber in diesem Fall weiß ich nicht, was ich tun soll. Es ist alles so verwirrend. Vielleicht…« Er zögerte.»… vielleicht können Sie mir helfen?«
»Mit Vergnügen«, sagte Mr Quin. »Wir werden sehen, was wir tun können.«
Mr Sattersway hatte das seltsame Gefühl von Geborgenheit und Zuversicht.
Am folgenden Tag machte er Franklin Rudge und Elizabeth Martin mit seinem Freund, Mr Harley Quin, bekannt. Er war erfreut, dass sie sich sofort gut verstanden. Die Gräfin wurde zwar nicht erwähnt, aber zur Mittagszeit erfuhr er eine Neuigkeit, die seine Aufmerksamkeit weckte.
»Die Mirabelle trifft heute in Monte ein«, vertraute er aufgeregt Mr Quin an.
»Die beliebte Pariser Schauspielerin?«
»Ja. Sie wissen wohl – es ist allgemein bekannt –, dass sie die letzte Eroberung des Königs von Bosnien ist. Ich glaube, er hat sie mit Schmuck überschüttet. Angeblich ist sie die anspruchsvollste und extravaganteste Frau von Paris.«
»Es dürfte interessant sein zu beobachten, wenn sie und Gräfin Zarnowa sich heute Abend begegnen.«
»Daran habe ich auch schon gedacht.«
Mirabelle war ein hochgewachsenes mageres Geschöpf mit einem wunderbaren Kopf blond gefärbter Haare. Ihr Gesicht war ein blasses Gelb mit orangefarbenen Lippen. Sie war erstaunlich chic. Gekleidet war sie in ein Gewand, das einem aufpolierten Paradiesvogel ähnelte, und dazu trug sie Halsketten, die ihr über den bloßen Rücken hinunterhingen. Ein schwerer Reif mit riesigen Diamanten umspannte ihr linkes Fußgelenk.
Sie schuf eine Sensation, als sie im Casino erschien.
»Ihre Freundin, die Gräfin, wird es schwer haben, sie zu übertreffen«, flüsterte Mr Quin Mr Sattersway ins Ohr.
Der Letztgenannte nickte. Er war selbst neugierig, wie die Gräfin sich verhalten würde.
Sie kam erst spät, und ein leises Murmeln erhob sich, als sie unbeteiligt an einen der Roulettetische trat, die in der Mitte standen. Sie war ganz in Weiß gekleidet: ein gerade herunterfallendes Kleid aus schwerer Seide. Und weder an den Armen noch um den Hals trug sie Schmuck – nicht einen einzigen Edelstein. »Das ist sehr klug«, sagte Mr Sattersway beifällig. »Sie verzichtet auf jede Rivalität und vermeidet jede Vergleichsmöglichkeit.«
Dann ging er zu dem Tisch hinüber und blieb dort stehen. Von Zeit zu Zeit amüsierte er sich damit, einen Einsatz zu platzieren. Manchmal gewann er, aber häufiger verlor er.
Gerade setzte ein fürchterlicher Andrang auf das letzte Dutzend ein. Nummer 31 und 34 kamen immer wieder. Die Einsätze stapelten sich.
Mit einem Lächeln machte Mr Sattersway für diesen Abend seinen letzten Einsatz; er setzte das Maximum auf Nummer 5.
Die Gräfin beugte sich ebenfalls vor und setzte das Maximum auf Nummer 6.
»Faites vos jeux«, rief der Croupier heiser. »Rien ne va plus. Plus rien.«
Die Kugel rollte, und vergnügt vor sich hin summend, überlegte Mr Sattersway. Für jeden von uns bedeutet es etwas anderes. Qualen der Hoffnung und Verzweiflung. Langeweile, bloßes Amüsement, Leben und Tod. Klick!
Der Croupier beugte sich vor, um besser sehen zu können.
»Numéro cinq, rouge, impair, et manque.«
Mr Sattersway hatte gewonnen!
Der Croupier, der die übrigen Einsätze weggeharkt hatte, schob Mr Sattersways Gewinn über den Tisch. Mr Sattersway streckte seine Hand aus, um ihn an sich zu nehmen. Die Gräfin tat dasselbe. Abwechselnd blickte der Croupier von dem einen zum andern.
»À madame«, sagte er barsch.
Die Gräfin nahm das Geld an sich. Mr Sattersway zog sich zurück. Er blieb ein Gentleman. Die Gräfin blickte ihm voll ins Gesicht, und er erwiderte ihren Blick. Einige Leute, die ebenfalls am Tisch standen, versuchten, dem Croupier klarzumachen, dass er einen Irrtum begangen habe, aber der Mann schüttelte nur ungeduldig den Kopf. Er hatte entschieden. Das Spiel war beendet. Mit heiserer Stimme forderte er zum nächsten Einsatz auf.
»Faites vos jeux, messieurs et mesdames.«
Mr Sattersway gesellte sich wieder zu Mr Quin. Trotz seines untadeligen Verhaltens war er äußerst aufgebracht. Mr Quin hörte ihm mitleidsvoll zu.
»Wirklich nicht schön«, sagte er, »aber so etwas passiert manchmal. Übrigens werden wir nachher Ihren Freund Franklin Rudge treffen. Ich gebe ein kleines Abendessen.«
Sie trafen sich um Mitternacht, und Mr Quin erläuterte seinen Plan. »Man sucht sich einen Treffpunkt aus, und dann zieht jeder los und ist auf Ehre verpflichtet, den ersten Menschen, dem er begegnet, einzuladen.«
Franklin Rudge fand diese Idee großartig.
»Und was passiert, wenn derjenige nicht will?«
»Man muss alles Mögliche tun, um ihn zu überreden.«
»Gut. Und wo ist der Treffpunkt?«
»Eine Art Künstlerlokal – wo auch die verrücktesten Gäste nicht auffallen. Es heißt Le Caveau.«
Er beschrieb noch, wo es lag, und dann trennten sich die drei. Mr Sattersway hatte das Glück, direkt Elizabeth Martin in die Arme zu laufen, und vergnügt lud er sie ein. Sie fanden das Le Caveau, eine Art Keller, wo bereits ein Tisch gedeckt war, während der Raum von Kerzen in altmodischen Kerzenhaltern beleuchtet wurde.
»Wir sind die Ersten«, sagte Mr Sattersway. »Aha! Da kommt Franklin…« Er verstummte unvermittelt. Zusammen mit Franklin erschien die Gräfin. Es war ein schrecklicher Augenblick. Elizabeth Martin war erheblich weniger anmutig, als sie sonst sein konnte. Als Frau von Welt bewahrte die Gräfin ihre Fassung.
Zuletzt erschien Mr Quin. Mit ihm zusammen kam ein kleiner dunkler Mann, ordentlich gekleidet, dessen Gesicht Mr Sattersway irgendwie bekannt vorkam. Gleich darauf erkannte er ihn. Es war der Croupier, der vorhin einen so bedauerlichen Fehler begangen hatte.
»Darf ich Sie mit Monsieur Pierre Vaucher bekannt machen«, sagte Mr Quin.
Der kleine Mann machte einen verwirrten Eindruck. Mr Quin stellte ihm in seiner ungezwungenen Art die übrigen Anwesenden vor. Das Essen wurde serviert – ein ausgezeichnetes Essen. Der Wein wurde eingeschenkt – ein ganz ausgezeichneter Wein. Die Atmosphäre verlor etwas von ihrer Kühle. Die Gräfin war sehr schweigsam, genau wie Miss Martin. Franklin Rudge hingegen wurde redselig. Er erzählte verschiedene Geschichten – keine lustigen Geschichten, sondern ernste. Ruhig und unermüdlich schenkte Mr Quin den Wein ein.
»Ich erzähle jetzt – und das ist eine wahre Geschichte – von einem Mann, der Glück gehabt hat«, sagte Franklin Rudge nachdrücklich. Obgleich er aus einem Land kam, in welchem jeglicher Alkohol im Augenblick verboten war, hatte er nicht die geringste Abneigung gegenüber dem Champagner gezeigt.
Und er erzählte seine Geschichte – vielleicht unnötigerweise etwas zu ausführlich. Wie so viele wahre Geschichten war auch diese jeder erfundenen Geschichte weit unterlegen.
Als das letzte Wort gefallen war, schien Pierre Vaucher, der ihm genau gegenüber saß, plötzlich aufzuwachen. Auch er hatte dem Champagner Gerechtigkeit angedeihen lassen. Er beugte sich weit über den Tisch vor.
»Auch ich will Ihnen jetzt eine Geschichte erzählen«, sagte er mühsam. »Aber meine ist die Geschichte eines Mannes, mit dem es nicht bergauf, sondern bergab gegangen ist. Und wie Ihre ist es eine wahre Geschichte.«
»Bitte, erzählen Sie, Monsieur«, sagte Mr Sattersway höflich.
Pierre Vaucher lehnte sich zurück und blickte an die Decke.
»Die Geschichte beginnt in Paris. Dort lebte einmal ein Juwelier und Goldschmied. Er war jung, unbeschwert und in seinem Beruf sehr fleißig. Alle behaupteten, dass er eine große Zukunft vor sich hätte. Für eine gute Ehe war bereits alles arrangiert: Die Braut sah nicht allzu hässlich aus, und die Mitgift war höchst zufrieden stellend. Und dann, was glauben Sie wohl? Eines Morgens sieht er ein Mädchen. So ein elendes kleines Mädchen, Messieurs. Schön? Ja, vielleicht, wenn sie nicht halb verhungert gewesen wäre. Jedenfalls besaß sie für den jungen Mann einen Zauber, dem er nicht widerstehen konnte. Sie hatte alles versucht, um irgendwo Arbeit zu finden; sie war äußerst tüchtig – oder wenigstens behauptete sie es. Ich weiß nicht, ob es stimmte.«
Plötzlich drang die Stimme der Gräfin durch das Halbdunkel. »Warum sollte es nicht stimmen? Sie wird nicht die Einzige gewesen sein.«
»Also, wie gesagt, der junge Mann glaubte ihr. Und er heiratete sie – die reinste Dummheit! Seine Familie wollte mit ihm nichts mehr zu tun haben. Er hatte ihre Gefühle verletzt. Er heiratete – ich will sie Jeanne nennen. Und das war eine gute Tat. Das sagte er ihr auch. Er hatte das Gefühl, dass sie ihm deswegen sehr dankbar sein müsse. Um ihretwillen hatte er so viel geopfert.«
»Ein reizender Anfang für das arme Mädchen«, bemerkte die Gräfin sarkastisch.
»Er liebte sie, jawohl, aber von Anfang an machte sie ihn rasend. Sie hatte Launen, Wutanfälle; den einen Tag war sie eiskalt zu ihm, am nächsten war sie voller Leidenschaft. Schließlich merkte er die Wahrheit. Sie hatte ihn nie geliebt. Sie hatte ihn nur geheiratet, um Leib und Seele zusammenzuhalten. Diese Wahrheit verletzte ihn, verletzte ihn entsetzlich. Er versuchte jedoch alles, um nichts davon an die Oberfläche dringen zu lassen. Und er hatte immer noch das Gefühl, dass er Dankbarkeit und Gehorsam gegenüber seinen Wünschen verdiente. Sie stritten sich. Sie machte ihm Vorwürfe – mon Dieu! Weswegen machte sie ihm nicht alles Vorwürfe!
Sie sehen bereits den nächsten Schritt, nicht wahr? Es musste einfach so kommen. Sie verließ ihn. Zwei Jahre lang war er allein, arbeitete in seinem kleinen Laden, ohne etwas von ihr zu hören. Einen einzigen Freund hatte er – den Absinth. Das Geschäft ging nicht allzu gut.
Und dann kam er eines Tages in seinen Laden, und sie saß da. Sie war sehr hübsch angezogen. Sie hatte Ringe an den Fingern. Er blieb stehen und betrachtete sie. Sein Herz klopfte – und wie es klopfte! Er war ratlos, was er tun sollte. Am liebsten hätte er sie geschlagen, in seine Arme genommen, sie zu Boden geschleudert und auf ihr herumgetrampelt, sich ihr zu Füßen geworfen! Aber er tat nichts davon. Er griff nach seinem Werkzeug und fuhr mit seiner Arbeit fort. ›Madame wünschen?‹, fragte er förmlich.
Das brachte sie auf. Damit hatte sie nicht gerechnet, verstehen Sie? ›Pierre‹ sagte sie. ›Ich bin zurückgekommen.‹ Er legte sein Werkzeug beiseite und sah sie an. ›Du willst nur, dass man dir verzeiht‹, sagte er. ›Möchtest du, dass ich dich wieder bei mir aufnehme? Bereust du ehrlich?‹
›Möchtest du mich wieder aufnehmen?‹, flüsterte sie. Oh, sehr sanft sagte sie es.
Er wusste, dass sie ihm eine Falle stellte. Er sehnte sich danach, sie in die Arme zu nehmen, aber dazu war er zu gescheit. Er mimte Gleichgültigkeit.
›Ich bin ein christlicher Mensch‹, sagte er. ›Ich versuche zu tun, was die Kirche anordnet.‹
›Oh!‹, dachte er, ›demütigen möchte ich sie. Demütigen, bis sie vor mir auf den Knien liegt!‹
Aber Jeanne, wie ich sie nennen will, warf den Kopf zurück und lachte. Ein bösartiges Lachen war es. ›Ich mache mich über dich lustig, kleiner Pierre‹, sagte sie. ›Sieh dir diese teuren Kleider an, die Ringe und Armbänder. Ich bin nur hergekommen, um mich dir zu zeigen. Ich dachte, ich könnte dich dazu bringen, mich in die Arme zu nehmen, und wenn du das getan hättest, dann… dann hätte ich dir ins Gesicht gespuckt und dir gesagt, wie sehr ich dich hasse!‹
Und damit verließ sie meinen Laden. Können Sie sich vorstellen, Messieurs, dass eine Frau so bösartig sein kann, dass sie nur zurückgekommen war, um mich zu quälen?«
»Nein«, sagte die Gräfin, »das kann ich mir nicht vorstellen, und jeder Mann, der kein Dummkopf ist, wird es genauso wenig glauben. Aber die Männer sind blind.«
Pierre Vaucher nahm von ihr keine Notiz. Er fuhr fort.
»Und jener junge Mann, von dem ich Ihnen erzähle, sank immer tiefer. Er trank immer mehr Absinth. Der kleine Laden musste verkauft werden. Er gehörte zum Abschaum, zur Gosse. Dann kam der Krieg. O ja, er war gut, der Krieg. Er holte den Mann aus der Gosse und lehrte ihn, kein brutales Untier mehr zu sein. Er erzog ihn und ernüchterte ihn. Er erduldete Kälte und Schmerzen und Todesangst, aber er starb nicht, und als der Krieg zu Ende ging, war er wieder ein Mann.
Damals, Messieurs, kam er in den Süden. Seine Lungen waren vom Gas angegriffen, und man riet ihm, er solle sich im Süden Arbeit suchen. Ich will Sie nicht mit den vielen Dingen ermüden, die er tat. Es genügt zu sagen, dass er schließlich Croupier wurde, und da – eines Abends, im Casino – sah er sie wieder: Jene Frau, die sein Leben ruiniert hatte. Sie erkannte ihn nicht, aber er erkannte sie. Sie machte den Eindruck, als sei sie reich, als fehle ihr nichts. Aber, Messieurs, die Augen eines Croupiers sind scharf. Es kam ein Abend, als sie das Allerletzte, was sie besaß, beim Spiel setzte. Fragen Sie nicht, woher ich es wusste; ich wusste es. Man spürt so etwas. Andere mögen es meinetwegen nicht glauben. Sie trug immer noch teure Kleider. Vielleicht fragt so mancher, warum sie sie nicht verpfändete? Wenn man so etwas tut, dann hat man sofort keinen Kredit mehr. Ihre Juwelen? O nein. War ich früher nicht einmal selbst Juwelier gewesen? Vor langer Zeit waren die echten Juwelen verschwunden. Stück für Stück waren die Perlen eines Königs verkauft worden, durch falsche ersetzt. Und inzwischen muss man essen und die Hotelrechnungen bezahlen. Und die reichen Männer, ja, sie haben viele Jahre für einen gesorgt. Bah!, sagen sie jetzt. Sie ist über fünfzig! Für mein Geld will ich etwas Jüngeres haben!«
Ein tiefer, zitternder Seufzer kam aus der Fensternische, in der die Gräfin saß.
»Ja, es war ein großer Moment. Zwei Abende habe ich sie beobachtet. Sie verlor, immer wieder verlor sie. Und dann der Rest. Sie setzt alles auf eine Nummer. Neben ihr, ein englischer Lord, setzt ebenfalls das Maximum – auf die nächste Nummer. Die Kugel rollt… Der Moment ist gekommen, sie hat verloren…
Ihr Blick begegnete meinem. Was mache ich? Ich setze meine Stelle im Casino aufs Spiel. Ich beraube den englischen Lord. ›À madame‹, sage ich und gebe ihr das Geld.«
»Oh!« Ein Splittern ertönte, als die Gräfin aufsprang, sich über den Tisch lehnte und dabei ihr Glas von der Tischplatte wischte.
»Warum?«, rief sie. »Warum hast du das getan – das will ich jetzt wissen!«
Es folgte eine lange Pause – eine Pause, die endlos zu sein schien, und immer noch sahen die beiden sich über den Tisch hinweg an, sahen sich weiter an… Wie ein Duell war es.
Ein hässliches kleines Lächeln breitete sich auf Pierre Vauchers Gesicht aus. Er hob seine Hände.
»Madame«, sagte er. »Es gibt so etwas wie Mitleid…«
»Oh!«
Sie sank wieder auf ihren Platz.
»Ich verstehe.«
Sie war ruhig, lächelte, war wieder sie selbst.
»Eine interessante Geschichte, Monsieur Vaucher, nicht wahr? Erlauben Sie mir, Ihnen Feuer für Ihre Zigarette zu geben.«
Gewandt rollte sie einen Fidibus zusammen, entzündete ihn an der Kerze und hielt ihn dem Croupier hin. Er beugte sich vor, bis die Flamme das Ende der Zigarette, die er zwischen den Lippen hielt, erreicht hatte.
Dann erhob sie sich unerwartet.
»Und jetzt muss ich Sie leider verlassen. Bitte – ich brauche keine Begleitung.«
Noch ehe die anderen begriffen hatten, war sie gegangen. Mr Sattersway wäre sicherlich hinter ihr hergelaufen, hätte ihn nicht ein Fluch gelähmt, den der verstörte Franzose ausstieß.
»Himmeldonnerwetter!«
Er starrte auf den halbverbrannten Fidibus, den die Gräfin auf den Tisch fallen gelassen hatte. Er rollte ihn auseinander.
»Mon Dieu!«, flüsterte er. »Ein Fünfzigtausendfrancschein. Begreifen Sie? Ihr Gewinn von heute Abend. Das, was sie jetzt noch besaß. Und damit hat sie meine Zigarette angezündet! Weil sie zu stolz war, sich bemitleiden zu lassen. Ah! Stolz, sie war schon immer stolz wie der Teufel. Sie ist einzigartig – wundervoll!«
Er sprang von seinem Stuhl auf und rannte hinaus. Mr Sattersway und Mr Quin hatten sich ebenfalls erhoben. Der Kellner näherte sich Franklin Rudge.
»La note, Monsieur«, sagte er ungerührt.
Mr Quin nahm sie ihm mit einem schnellen Griff ab.
»Ich komme mir ein bisschen verlassen vor, Elizabeth«, bemerkte Franklin Rudge. »Diese Ausländer – lassen einen hier einfach sitzen! Ich verstehe sie nicht. Was hat das alles überhaupt zu bedeuten?«
Er blickte zu ihr hinüber.
»Ach, tut das gut, jemanden anzusehen, der so hundertprozentig amerikanisch ist wie du.« Seine Stimme hatte den kläglichen Ton eines kleinen Kindes. »Diese Ausländer sind wirklich komisch.«
Sie bedankten sich bei Mr Quin und gingen gemeinsam in die Nacht hinaus. Mr Quin steckte das Wechselgeld ein und lächelte zu Mr Sattersway hinüber, der sich wie ein zufriedener Vogel aufplusterte.
»Ja«, sagte der Letztgenannte. »Das hat prachtvoll geklappt. Unser Turteltaubenpärchen wird sich jetzt wieder äußerst wohl fühlen.«
»Welches?«, fragte Mr Quin.
»Oh!«, sagte Mr Sattersway bestürzt. »Ach ja, richtig, wahrscheinlich haben Sie Recht, wenn man alles nüchtern betrachtet und so weiter…«
Er machte ein zweifelndes Gesicht.
Mr Quin lächelte, und die Fensterscheibe aus farbigem Glas, die sich hinter ihm befand, hüllte ihn für einen kurzen Augenblick in ein buntes Gewand aus farbigem Licht.