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Mr Sattersway war wegen der Herzogin nach Korsika gekommen, und das verstieß ganz gegen seine Gewohnheit. An der Riviera hatte er seine Bequemlichkeiten, und auf Komfort legte Mr Sattersway großen Wert. Doch obwohl er die Annehmlichkeiten des Lebens schätzte, so schätzte er auch die Herzogin. Denn auf seine Weise, eine feine, altmodische Weise, war Mr Sattersway ein Snob. Er mochte nur bedeutende Leute. Und die Herzogin von Leth war von altem Adel. Sie war die Tochter eines Herzogs und auch die Frau eines Herzogs.
Abgesehen davon war sie eine ziemlich unansehnliche alte Dame mit einer Menge Borten aus schwarzen Perlen an ihren Kleidern. Sie besaß viele Diamanten in altmodischen Fassungen und trug sie genauso, wie ihre Mutter sie zu tragen pflegte: Irgendwo ans Kleid gesteckt. Böse Zungen behaupteten, sie stelle sich einfach mitten ins Zimmer und lasse sich von ihrer Zofe mit Broschen bewerfen. Sie spendete großzügig für wohltätige Zwecke und kümmerte sich um ihre Mieter und Angestellten, doch bei kleinen Summen konnte sie sehr knausrig sein. Sie schnorrte bei ihren Freunden Autofahrten und kaufte nur Sonderangebote.
Die Herzogin hatte eine Schwäche für Korsika. Cannes langweilte sie, und sie hatte wegen des Zimmerpreises eine heftige Auseinandersetzung mit dem Hoteldirektor gehabt.
»Und Sie kommen mit, Sattersway«, erklärte sie entschieden. »Bei unserem Alter brauchen wir uns wegen eines Skandals keine Sorgen zu machen.«
Mr Sattersway war leicht geschmeichelt. Noch nie hatte jemand in Verbindung mit ihm von einem Skandal gesprochen. Er war viel zu unbedeutend. Ein Skandal und dazu eine Herzogin – großartig!
»Malerisch, wissen Sie«, sagte die Herzogin. »Straßenräuber – all so was. Und äußerst billig, habe ich gehört, Manuelli war heute Morgen wirklich sehr unverschämt! Diese Hotelbesitzer müssen in ihre Schranken verwiesen werden. Sie können nicht erwarten, dass auch gute Gäste kommen, wenn sie so weitermachen. Ich habe ihm das klar und deutlich gesagt.«
»Ich glaube«, sagte Mr Sattersway, »man kann sehr bequem hinfliegen. Von Antibes aus.«
»Das wird ganz hübsch was kosten!«, antwortete die Herzogin bissig. »Stellen Sie das mal fest!«
»Selbstverständlich, Herzogin.«
Mr Sattersway war immer noch ganz aufgeregt und dankbar, trotz der Tatsache, dass er eindeutig die Rolle des hoch gelobten Laufburschen spielen sollte.
Als die Herzogin den Preis für die Reise mit dem avion hörte, verwarf sie den Einfall prompt. »Die sollen ja nicht glauben, dass ich eine solche unerhörte Summe zahle, um in so ein ekelhaftes gefährliches Ding zu steigen.«
Deshalb fuhren sie mit dem Schiff, und Mr Sattersway durchlebte zehn Stunden höchsten Unbehagens. Da es um sieben Uhr ablegen sollte, hielt Mr Sattersway es für selbstverständlich, dass das Abendessen an Bord serviert werden würde. Doch es gab kein Abendessen. Das Schiff war klein und das Meer unruhig. Mehr tot als lebendig wurde Mr Sattersway in den frühen Morgenstunden des nächsten Tages in Ajaccio an Land gesetzt.
Die Herzogin dagegen war frisch und munter. Unbequemlichkeiten machten ihr nichts aus, solange sie dadurch Geld sparte. Sie war von dem Anblick des Hafens, den Palmen und dem Sonnenaufgang begeistert. Anscheinend war die ganze Bevölkerung zusammengeströmt, um die Ankunft des Schiffes mitzuerleben, und das Anlegen der Gangway wurde mit aufgeregten Rufen und Ratschlägen begleitet.
»Meine Zofe war die ganze Nacht seekrank«, sagte die Herzogin. »Das Mädchen ist eine dumme Gans.«
Mr Sattersway lächelte dünn.
»Ich nenne so etwas Verschwendung von gutem Essen«, fuhr die Herzogin robust fort.
»Hat sie denn etwas zu essen bekommen?«, fragte Mr Sattersway neidisch.
»Ich hatte zufällig ein paar Kekse und eine Tafel Schokolade mitgenommen«, antwortete die Herzogin. »Als ich merkte, dass wir kein Abendessen bekommen würden, habe ich ihr das Zeug gegeben. Die niederen Stände regen sich immer so auf, wenn sie mal nichts zu essen kriegen.«
Unter triumphierenden Schreien der Menge wurde die Gangway endgültig festgemacht. Ein Chor abenteuerlicher Gestalten wie aus einer musikalischen Komödie stürzte an Bord und entrissen Passagieren das Handgepäck.
»Kommen Sie schon, Sattersway«, sagte die Herzogin. »Ich brauche ein Bad und Kaffee.«
Genau wie Mr Sattersway. Doch es war ihm kein voller Erfolg beschert. Im Hotel empfing sie ein beflissener Direktor, und sie wurden auf ihre Zimmer geführt. Das der Herzogin hatte ein Bad. Mr Sattersway dagegen wurde ein Badezimmer gezeigt, das dem Anschein nach zum Schlafzimmer eines andern Gastes gehörte. Um diese frühe Morgenstunde bereits warmes Wasser zu erwarten, war vermutlich unvernünftig. Später trank er unglaublich schwarzen Kaffee, der in einer Kanne ohne Deckel serviert wurde. Die Fensterläden und das Fenster seines Zimmers waren geöffnet worden, und die frische Morgenluft strömte herein. Ein Tag von atemberaubendem Blau und Grün.
Der Kellner wies mit einer pathetischen Geste auf die Aussicht.
»Ajaccio«, sagte er feierlich. »Le plus beau port du monde!«
Damit verschwand er.
Während Mr Sattersway über die weite blaue Bucht blickte mit den schneebedeckten Bergen dahinter, war er beinahe geneigt, ihm Recht zu geben. Er trank seinen Kaffee aus, legte sich auf das Bett und schlief sofort ein.
Beim Mittagessen war die Herzogin in bester Laune.
»Es ist genau das, was Sie brauchen, Sattersway«, sagte sie. »Das wird Sie von Ihren altjüngferlichen kleinen Angewohnheiten ablenken.« Sie musterte den Raum durch ihr Lorgnon. »Sieh mal an! Dort drüben ist Naomi Carlton-Smith!«
Sie deutete auf ein Mädchen, das allein an einem Fenstertisch saß. Sie hatte runde Schultern, flegelte sich in ihren Stuhl und trug ein Kleid, das aus einer Art braunem Sack gemacht zu sein schien. Das schwarze Haar war schlecht geschnitten.
»Eine Künstlerin?«, fragte Mr Sattersway.
Er hatte eine besondere Begabung, die Leute einzuschätzen.
»Stimmt genau«, antwortete die Herzogin. »Jedenfalls bezeichnet sie sich so. Ich wusste doch, dass sie sich in irgendeiner seltsamen Gegend der Erde herumtreibt. Arm wie eine Kirchenmaus, stolz wie der Teufel und verrückt wie alle Carlton-Smiths. Ihre Mutter ist meine Kusine.«
»Dann gehört sie zu der Knowlton-Sippe?«
Die Herzogin nickte.
»Sie hat sich selbst am meisten geschadet«, erzählte die Herzogin bereitwillig. »Dabei ist sie ein so kluges Mädchen. Sie ließ sich mit einem höchst verdächtigen jungen Mann ein. Er lebte in Chelsea und schrieb Theaterstücke oder Gedichte oder so etwas Ungesundes. Natürlich wurden sie nirgends angenommen. Dann klaute er irgendwelchen Schmuck und wurde dabei erwischt. Ich weiß nicht mehr, was man ihm aufgebrummt hat. Fünf Jahre, glaube ich. Sie erinnern sich sicherlich. Es passierte letzten Winter.«
»Da war ich in Ägypten«, erklärte Mr Sattersway. »Ich hatte Ende Januar eine sehr schlimme Erkältung, und die Ärzte bestanden darauf, dass ich mich in Ägypten erholte. Ich habe eine Menge verpasst.«
In seiner Stimme schwang ein bedauernder Unterton mit.
»Das Mädchen scheint Kummer zu haben«, sagte die Herzogin und zückte wieder ihr Lorgnon. »Da werde ich etwas unternehmen.«
Beim Hinausgehen blieb sie bei Miss Carlton-Smith’ Tisch stehen und klopfte dem Mädchen auf die Schulter. »Nun, Naomi, erinnerst du dich nicht mehr an mich?«
Zögernd erhob sich Naomi. »Doch, ich erinnere mich, Herzogin. Ich sah Sie hereinkommen. Aber ich hielt es für sehr wahrscheinlich, dass Sie mich nicht wiedererkennen würden.«
Sie zog die Worte faul in die Länge, ohne sich darum zu kümmern, ob es unhöflich wirkte oder nicht.
»Wenn du mit dem Essen fertig bist, komm zu mir auf die Terrasse«, befahl die Herzogin.
»Ja.«
Naomi gähnte.
»Unglaubliches Benehmen«, bemerkte die Herzogin im Weitergehen zu Mr Sattersway. »Typisch für alle Carlton-Smiths.«
Draußen in der Sonne tranken sie ihren Kaffee. Sie hatten noch keine sechs Minuten dagesessen, als Naomi Carlton-Smith aus dem Hotel gebummelt kam und auf sie zuschlenderte. Sie ließ sich träge in einen Stuhl fallen und streckte die Beine aus.
Ein seltsames Gesicht, mit einem vorstehenden Kinn und tief liegenden grauen Augen. Ein kluges, unglückliches Gesicht, das um ein Haar schön gewesen wäre.
»Nun, Naomi«, sagte die Herzogin direkt. »Und was machst du hier?«
»Ach, ich weiß nicht. Ich trete auf der Stelle.«
»Hast du gemalt?«
»Ein wenig.«
»Zeig es mir!«
Naomi grinste. Sie ließ sich von der Selbstherrlichkeit der Herzogin nicht einschüchtern; es amüsierte sie nur. Sie verschwand im Hotel und kehrte kurz darauf mit einer Mappe zurück.
»Sie werden Ihnen nicht gefallen, Herzogin«, warnte sie sie. »Sagen Sie, was Sie denken. Ich bin nicht beleidigt.«
Mr Sattersway zog seinen Stuhl etwas näher heran. Die Sache interessierte ihn. Ein paar Augenblicke später war er sogar noch interessierter. Die Herzogin ließen die Bilder völlig kalt.
»Ich kann nicht einmal erkennen, wo oben und unten ist«, beklagte sie sich. »Guter Gott, Kind, einen Himmel von solcher Farbe gibt es nicht. Und auch kein Meer!«
»Ich sehe es aber so!«, antwortete Naomi seelenruhig.
»Hm!«, machte die Herzogin und betrachtete ein anderes. »Da bekommt man richtig Angst.«
»Soll man auch«, erklärte Naomi. »Sie machen mir damit ein Kompliment, ohne es zu ahnen.«
Es war die seltsame futuristische Studie einer Feige, gerade noch erkennbar. Graugrün mit starken Farbflecken, sodass die Frucht schimmerte wie ein Diamant. Eine wirbelnde Masse Verwesung, fleischig, faulend. Mr Sattersway erschauerte und wandte den Kopf ab.
Naomi sah ihn an und nickte verständnisvoll.
»Ich weiß«, sagte sie. »Aber sie ist wirklich so.«
Die Herzogin räusperte sich. »Heutzutage ist es offenbar nicht schwierig, Maler zu werden«, bemerkte sie vernichtend. »Statt die Dinge genau wiederzugeben, klatscht man Farbe auf die… ich glaube, man nimmt gar keine Pinsel mehr, sondern…«
»Sondern einen Spachtel«, unterbrach sie Naomi und lächelte wieder breit.
»Und eine Menge Farbe«, fuhr die Herzogin fort. »In dicken Klumpen. Und siehe da, jeder sagt: ›Wie gekonnt!‹ Nun, ich habe für so etwas kein Verständnis. Ich möchte lieber…«
»Einen schönen Hund oder ein hübsches Pferd, gemalt von Edward Landseer.«
»Und warum auch nicht?«, fragte die Herzogin. »Was hast du gegen Landseer?«
»Nichts«, sagte Naomi. »Er ist in Ordnung. Und Sie sind auch in Ordnung. Die Fassade der Dinge ist immer hübsch und glänzend und glatt. Ich habe Respekt vor Ihnen, Herzogin. Sie haben Energie. Sie haben sich mit dem Leben auseinandergesetzt und sind Sieger geblieben. Doch die Leute, die unten sind, sehen die Unterseite der Dinge. Und das ist auf seine Art auch interessant.«
Die Herzogin starrte sie verblüfft an.
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wovon du sprichst«, erklärte sie.
Mr Sattersway betrachtete immer noch die Bilder. Im Gegensatz zur Herzogin bemerkte er die vollkommene Technik, mit der sie gemalt worden waren. Er war aufgeregt und begeistert. Er sah das Mädchen an und fragte:
»Würden Sie mir eines verkaufen, Miss Carlton-Smith?«
»Für fünf Guineas können Sie jedes haben«, antwortete sie gleichmütig.
Mr Sattersway zögerte eine Minute oder zwei und wählte dann die Studie einer Feige und einer Aloe, mit einem lebhaften Fleck von gelben Mimosen im Vordergrund und wehenden roten Aloeblüten. Das Ganze sachlich streng betont durch die lange ovale Form der Feige und die spitzen schwertartigen Blätter der Aloe.
Er machte vor dem Mädchen eine kleine Verbeugung.
»Ich bin sehr glücklich, dieses Bild ergattert zu haben, und glaube, es ist ein gutes Geschäft. Eines Tages werde ich dieses Bild mit einem hohen Gewinn verkaufen können, Miss Carlton-Smith – falls ich das möchte.«
Das Mädchen beugte sich vor, um feststellen zu können, welches Bild er gewählt hatte. Ein neuer Ausdruck trat in ihre Augen. Zum ersten Mal schien sie seine Existenz zur Kenntnis zu nehmen, und es lag so etwas wie Respekt in dem kurzen Blick, den sie ihm zuwarf. »Sie haben sich das Beste ausgesucht«, erklärte sie. »Das freut mich.«
»Nun, vermutlich wissen Sie, was Sie tun«, sagte die Herzogin. »Und ich nehme an, Sie haben Recht. Soviel ich gehört habe, kennen Sie sich aus. Aber Sie können mir nicht einreden, dass dieses neumodische Zeug Kunst ist. Doch lassen wir das. Ich bin nur ein paar Tage hier und würde gern von der Insel ein wenig sehen. Du hast doch sicherlich ein Auto, Naomi?«
Das Mädchen nickte.
»Großartig«, sagte die Herzogin. »Dann machen wir morgen einen kleinen Ausflug.«
»Es ist nur ein Sportwagen mit zwei Sitzen.«
»Unsinn. Da gibt’s noch den Notsitz, und der reicht für Mr Sattersway.«
Sattersway entfuhr ein entsetzter Seufzer. Er hatte am Morgen die korsischen Straßen gesehen. Nachdenklich musterte Naomi ihn. »Ich fürchte, der Wagen taugt nicht viel«, antwortete sie. »Es ist eine schreckliche alte rostige Karre, die ich zu einem Spottpreis aus zweiter Hand gekauft habe: Ich komme gerade noch den Berg hinauf. Ich kann unmöglich jemanden mitnehmen. Im Ort gibt es eine sehr gute Garage, wo man einen Wagen leihen kann.«
»Einen Wagen leihen?«, rief die Herzogin empört. »Was für eine Idee! Wer war eigentlich der nette Mann, der vor dem Mittagessen mit dem Wagen ankam? Er sah ziemlich gelb aus.«
»Sie meinen offenbar Mr Tomlinson. Er war Richter in Indien.«
»Deshalb ist er so gelb«, stellte die Herzogin fest. »Ich hatte schon Angst, es sei die Gelbsucht. Er macht einen recht ordentlichen Eindruck. Ich werde mal mit ihm reden.«
Als Mr Sattersway am Abend zum Essen herunterkam, unterhielt sich die Herzogin, die im Glanz von schwarzen Perlen und Diamanten erstrahlte, angeregt mit dem Besitzer des Wagens. Sie winkte ihm energisch.
»Kommen Sie her, Mr Sattersway! Mr Tomlinson erzählt mir gerade äußerst interessante Dinge, und stellen Sie sich vor, er wird morgen mit uns einen Ausflug machen.«
Mr Sattersway sah sie voll Achtung an.
»Jetzt müssen wir zum Essen hineingehen«, fuhr die Herzogin fort. »Setzen Sie sich doch zu uns, Mr Tomlinson! Dann können Sie uns noch mehr erzählen!«
»Wirklich ein netter Mensch«, bemerkte die Herzogin später.
»Mit einem wirklich netten Wagen«, antwortete Mr Sattersway.
»Seien Sie nicht ungezogen!«, sagte die Herzogin und schlug ihm mit ihrem Fächer, den sie immer bei sich trug, kräftig auf die Finger. Mr Sattersway zuckte vor Schmerz zusammen.
»Naomi begleitet uns«, sagte die Herzogin. »Sie fährt mit ihrem eigenen Wagen. Das Mädchen muss auf andere Gedanken kommen. Sie ist sehr selbstsüchtig. Nicht egozentrisch, aber völlig gleichgültig, was andere Leute und ihre Umwelt betrifft. Finden Sie nicht?«
»Ich halte das nicht für möglich«, antwortete Mr Sattersway langsam. »Ich meine, jeder hat irgendein Interesse. Natürlich gibt es Leute, die sich nur um ihre eigene Achse drehen, doch ich stimme Ihnen zu, dass sie nicht zu dieser Sorte gehört. Sie ist an sich völlig uninteressiert. Und doch – sie hat viel Charakter. Es muss etwas geben, das sie interessiert. Zuerst dachte ich, es sei die Kunst. Aber das stimmt nicht. Ich habe noch nie jemanden getroffen, der sich so vom Leben zurückgezogen hat. Das ist gefährlich.«
»Gefährlich? Was soll das heißen?«
»Nun, wissen Sie, es muss eine Art Besessenheit dahinter stecken, und so etwas ist immer gefährlich.«
»Sattersway«, rief die Herzogin, »seien Sie nicht dumm! Hören Sie zu. Was den Ausflug betrifft…«
Mr Sattersway hörte zu, eine Rolle, die er im Leben häufig übernahm.
Am nächsten Morgen brachen sie sehr früh auf und nahmen ein Picknick für das Mittagessen mit. Naomi, die seit sechs Monaten auf der Insel lebte, sollte den Führer spielen. Mr Sattersway trat zu ihr, als sie gerade losfahren wollte.
»Sind Sie ganz sicher, dass ich Sie nicht begleiten kann?«, fragte er sie besorgt.
Sie schüttelte den Kopf. »Im anderen Wagen haben Sie es viel bequemer. Weich gepolsterte Sitze und so weiter. Meiner ist ein alter Klapperkasten. Bei jedem Schlagloch fliegt man in die Luft.«
»Und dann natürlich die Berge.«
Naomi lachte. »Ach, das habe ich nur gesagt, um Sie vor dem Notsitz zu bewahren. Die Herzogin könnte es sich durchaus leisten, einen Wagen zu mieten. Sie ist die geizigste Frau von ganz England. Trotzdem, man kann mit ihr Pferde stehlen, und ich mag sie.«
»Dann könnte ich ja doch mit Ihnen fahren«, sagte Mr Sattersway eifrig.
Neugierig sah sie ihn an. »Warum sind Sie so scharf drauf?«
»Können Sie da noch fragen?« Mr Sattersway machte eine komische altmodische Verbeugung.
Sie lächelte. »Das ist nicht der Grund«, meinte sie nachdenklich. »Wie seltsam! Aber heute können Sie nicht mit mir kommen.«
»Vielleicht an einem andern Tag«, erwiderte Mr Sattersway höflich.
»Oh! An einem andern Tag!« Sie lachte plötzlich, ein seltsames Lachen, wie Mr Sattersway fand. »An einem andern Tag! Nun, wir werden ja sehen.«
Sie fuhren los. Sie durchquerten die Stadt, dann führte die Straße an der weiten Bucht entlang, schwenkte landeinwärts über einen Fluss, kehrte zum Meer zurück und zu den Hunderten von kleinen sandigen Stränden. Dann erreichten sie die Berge. In haarsträubenden Kurven ging es hinauf, gefährliche Serpentinen hoch. Die blaue Bucht war jetzt unter ihnen, dahinter glänzte Ajaccio in der Sonne, weiß wie eine Märchenstadt.
Höher und höher fuhren sie. Mal war der steil abfallende Hang auf der rechten, mal auf der linken Seite. Mr Sattersway fühlte sich etwas schwindlig und begann auch, seinen Magen zu spüren. Die Straße war nicht sehr breit. Und es ging immer noch weiter hinauf.
Jetzt wurde es kalt. Der Wind blies direkt von den schneebedeckten Gipfeln her. Drüben über dem Wasser lag Ajaccio immer noch im Sonnenschein, doch hier oben jagten schwere graue Wolken über den Himmel und verdeckten die Sonne. Mr Sattersway hörte auf, die Aussicht zu bewundern. Er sehnte sich nach einem zentralgeheizten Hotel und einem bequemen Sessel.
Naomi fuhr mit ihrem kleinen Wagen unverdrossen vor ihnen her, höher und immer höher. Dann waren sie auf dem Dach der Welt. Zu beiden Seiten waren die Berge niedriger, die Hänge fielen zu den Tälern sanft ab. Genau vor ihnen standen die schneebedeckten Gipfel. Der Wind wehte noch heftiger, wie mit eisigen Nadeln.
Plötzlich bremste Naomi und winkte ihnen.
»Wir sind da«, sagte sie, als alle ausstiegen. »Am Ende der Welt. Ich glaube nicht, dass es ein besonders schöner Tag dafür ist.«
Sie hatten ein kleines Dorf erreicht, höchstens ein halbes Dutzend Steinhäuser. Auf einem großen Brett war der Name angeschlagen: Coti Chiaveeri.
Naomi zuckte die Achseln. »Das ist die offizielle Bezeichnung, doch ich nenne es lieber ›das Ende der Welt‹.«
Sie ging ein paar Schritte weiter, und Mr Sattersway schloss sich ihr an. Die Häuser lagen jetzt hinter ihnen, und die Straße hörte auf. Wie Naomi gesagt hatte, dies war das Ende der Welt, das Niemandsland, der Anfang vom Nichts. Hinter ihnen das helle Band der Straße, vor ihnen – nichts. Nur weit, weit unter ihnen das Meer.
Mr Sattersway holte tief Luft. »Ein außergewöhnlicher Ort. Man hat das Gefühl, hier könnte alles Mögliche passieren, als ob man hier die seltsamsten Leute…«
Er brach ab, denn vor ihnen, auf einem Stein, saß ein Mann, das Gesicht dem Meer zugewandt. Bis zu diesem Augenblick hatten sie ihn nicht bemerkt, und sein Erscheinen war mit einer Plötzlichkeit geschehen, als habe ihn ein Zauberer hergezaubert. Als sei er geradezu aus dem Boden gewachsen.
»Ich frage mich…«, begann Mr Sattersway.
Da drehte sich der Fremde um, und Mr Sattersway sah sein Gesicht.
»Was, das ist ja Mr Quin! Wie seltsam! Miss Carlton-Smith, ich möchte Sie mit meinem Freund Mr Quin bekannt machen. Er ist ein erstaunlicher Bursche. Wirklich, das sind Sie! Sie tauchen immer wie aus dem Nichts auf…«
Er schwieg, weil er das Gefühl hatte, etwas sehr Wichtiges gesagt zu haben, doch um alles in der Welt hätte er nicht erklären können, was das genau war.
Naomi hatte Mr Quin auf ihre übliche energische Art die Hand geschüttelt. »Wir wollten hier picknicken«, sagte sie. »Aber ich glaube, wir werden schrecklich frieren.«
Mr Sattersway erschauerte. »Vielleicht«, meinte er, »finden wir eine geschützte Stelle?«
»Hier wohl kaum«, erwiderte Naomi. »Trotzdem ist es sehenswert, nicht wahr?«
»Ja, allerdings.« Mr Sattersway wandte sich an Mr Quin. »Miss Carlton-Smith nennt es das Ende der Welt, ein treffender Name, was?«
Mr Quin nickte langsam mehrere Male. »Ja – und auch ein sehr beziehungsvoller Name. Ich glaube, dass man nur einmal im Leben zu einem solchen Ort kommt – von wo es nicht mehr weitergeht.«
»Was meinen Sie damit?«, fragte Naomi scharf.
Er wandte sich ihr zu. »Nun, gewöhnlich hat man die Wahl, nicht wahr? Rechts oder links. Vor oder zurück. Hier dagegen: Hinter Ihnen die Straße und vor Ihnen – nichts mehr.«
Naomi starrte ihn entgeistert an. Plötzlich schauerte sie zusammen und begann langsam auf die andern zuzugehen. Die beiden Männer blieben an ihrer Seite. Mr Quin sagte in freundlichem Ton:
»Gehört der kleine Wagen Ihnen, Miss Carlton-Smith?«
»Ja.«
»Sie fahren ihn selbst? Ich glaube, man braucht viel Mut dazu, hier in der Gegend. Die Kehren sind ziemlich schwierig. Ein unachtsamer Augenblick – und hinunter, immer weiter hinunter. So etwas geht ganz schnell.«
Sie gesellten sich zu den andern. Mr Sattersway stellte seinen Freund vor. Da spürte er, wie ihn jemand am Ärmel zupfte. Es war Naomi. Sie nahm ihn beiseite und fragte aufgeregt:
»Wer ist der Mann?«
Mr Sattersway blickte sie erstaunt an. »Nun, eigentlich weiß ich es nicht genau. Ich meine, wir kennen uns seit einigen Jahren, und von Zeit zu Zeit begegnen wir uns immer wieder, doch eigentlich…«
Er schwieg. Es war Unsinn, was er da redete, und das junge Mädchen hörte ihm gar nicht zu. Sie stand mit gesenktem Kopf da und ballte die Fäuste.
»Er weiß Bescheid«, sagte sie. »Er weiß Bescheid. Wieso?«
Mr Sattersway fand keine Antwort, sondern blickte sie nur sprachlos an, weil er nicht begriff, warum sie so außer sich war.
»Ich habe Angst«, murmelte sie.
»Vor Mr Quin?«
»Ich habe Angst vor seinen Augen. Sie sehen alles.«
Etwas Kaltes und Feuchtes berührte Mr Sattersways Wange. Er blickte auf.
»Was, es schneit!«, rief er erstaunt.
»Da haben wir uns ja einen schönen Tag für unser Picknick ausgesucht!«, sagte Naomi. Sie hatte sich wieder beruhigt, auch wenn es ihr schwerfiel.
Was sollten sie tun? Die verschiedensten Vorschläge wurden gemacht. Der Schnee fiel immer dichter. Dann hatte Mr Quin einen Einfall, der freudig angenommen wurde. Am Ende der Häuser stand eine kleine Kneipe. Sie stürmten darauf zu.
»Sie haben Ihr Essen dabei«, sagte Mr Quin, »und sicherlich wird man Ihnen Kaffee kochen.«
Es war ein kleines Lokal, ziemlich dunkel, und durch das einzige winzige Fenster fiel nur wenig Licht, doch im Kamin brannte ein behagliches Feuer. Eine alte Korsin warf gerade eine Hand voll Reisig darauf. Die Flammen züngelten heller, und in ihrem Schein entdeckten die Neuankömmlinge, dass noch mehr Gäste da waren.
Drei Leute saßen an einem Holztisch. Die Szene hatte etwas Unwirkliches, fand Mr Sattersway, und die drei Gäste selbst erschienen ihm sogar noch unwirklicher.
Die Frau am Kopfende sah wie eine Herzogin aus oder vielmehr so, wie man sich gewöhnlich eine Herzogin vorstellte. Sie war das Ideal einer großen Dame. Sie trug ihren aristokratischen Kopf sehr hoch, das schneeweiße Haar war schön gekämmt. Ihr graues Kleid umspielte sie in künstlerischen Falten. Die eine lange weiße Hand stützte ihr Kinn, in der anderen hielt sie ein Brötchen mit Gänseleberpastete. Zu ihrer Rechten saß ein Mann mit einem sehr weißen Gesicht, sehr schwarzen Haaren und einer Hornbrille. Er war sehr vornehm und teuer gekleidet. Im Augenblick hatte er den Kopf zurückgeworfen und die linke Hand ausgestreckt, als wolle er ein Gedicht vortragen.
Auf der anderen Seite der weißhaarigen Dame saß ein freundlicher kleiner Mann mit einer Glatze. Er wirkte so unauffällig, dass man keinen zweiten Blick auf ihn verschwendete.
Nach einem kurzen Augenblick des Unbehagens übernahm die Herzogin – die echte – die Initiative.
»Was für ein schrecklicher Sturm«, sagte sie fröhlich und trat auf die Gruppe zu, ein energisches Lächeln um die Lippen, das ihr bei Wohltätigkeitssitzungen und Ähnlichem häufig genützt hatte. »Vermutlich hat er Sie genauso überrascht wie uns? Aber Korsika ist eine wunderschöne Insel. Ich bin erst heute Vormittag angekommen.«
Der Mann mit dem schwarzen Haar stand auf, und die Herzogin ließ sich anmutig auf seinem Stuhl nieder.
»Wir sind schon eine Woche da«, sagte die weißhaarige Dame.
Mr Sattersway schreckte auf. Konnte man diese Stimme je vergessen, wenn man sie einmal gehört hatte? Sie hallte durch den Raum mit seinen steinernen Wänden, getragen von Gefühlen, von schönster Melancholie. Ihm schien, als habe die weißhaarige Frau etwas Herrliches, Unvergessliches gesagt, voller Bedeutung. Sie hatte mit dem Herzen gesprochen.
Hastig flüsterte er Mr Tomlinson zu: »Der Mann mir der Brille ist Mr Vyse – ein Produzent, wissen Sie!«
Der pensionierte Richter aus Indien betrachtete Mr Vyse mit unverhohlenem Missfallen.
»Was produziert er denn?«, fragte er. »Wurst?«
»Was für ein Gedanke! Natürlich nicht«, antwortete Mr Sattersway entsetzt über die Erwähnung von so etwas Gewöhnlichem im Zusammenhang mit Mr Vyse. »Er macht Theaterstücke.«
»Ich glaube«, sagte Naomi, »ich gehe wieder raus. Es ist so heiß hier drin.«
Der harte, laute Ton ihrer Stimme ließ Mr Sattersway zusammenfahren. Sie schob Mr Tomlinson zur Seite und schritt wie blind auf die Tür zu. Doch plötzlich stand sie Mr Quin gegenüber, der ihr den Weg vertrat.
»Setzen Sie sich wieder hin!«, befahl er.
Seine Stimme war sehr energisch. Zu Mr Sattersways Erstaunen gab Naomi nach kurzem Zögern nach. Sie setzte sich ans Ende des Tisches, so weit wie möglich von den übrigen entfernt.
Mr Sattersway wurde eifrig und nagelte den Produzenten fest. »Vielleicht erinnern Sie sich nicht mehr«, begann er, »mein Name ist Sattersway.«
»Aber natürlich!« Eine lange knochige Hand schoss vor und drückte die seine schmerzhaft: »Mein lieber Freund, wer hätte gedacht, Sie ausgerechnet hier zu treffen! Sie kennen sicherlich Miss Nunn?«
Mr Sattersway gab es einen Stoß. Kein Wunder, dass ihm ihre Stimme so bekannt vorgekommen war. Tausende von Zuhörern in ganz England hatten diese herrlichen gefühlvollen Töne schon fasziniert. Rosina Nunn! Die bedeutendste Tragödin Englands. Auch Mr Sattersway gehörte zu ihren eifrigsten Bewunderern. Keiner konnte wie sie eine Rolle so hervorragend interpretieren, mit den feinsten Schattierungen der Bedeutung eines Wortes. Er hatte sie immer für eine intellektuelle Schauspielerin gehalten, die ihre Rolle verstand und sie bis ins Innerste durchdrang.
Es war entschuldbar, dass er sie nicht sofort erkannte, denn Rosina Nunn hatte einen exzentrischen Geschmack. Fünfundzwanzig Jahre lang war sie eine Blondine gewesen. Nach einer Tournee durch die Vereinigten Staaten erschien sie in England mit rabenschwarzem Haar und spielte nur noch Tragödien. Die Rokoko-Dame mit dem weißen Haar war ihre neueste Laune.
»Ach, übrigens, dies ist Mr Judd, Miss Nunns Gatte«, sagte Vyse unverbindlich und deutete auf den Mann mit der Glatze.
Rosina Nunn hatte mehrere Ehemänner gehabt, erinnerte sich Mr Sattersway. Offenbar war Mr Judd der letzte.
Mr Judd wickelte eifrig Päckchen aus, die er aus einem Korb neben sich nahm. »Möchtest du noch Pastete, Liebling?«, fragte er seine Frau.
»Das letzte Brötchen war nicht so dick bestächen, wie du es magst.«
Rosina Nunn gab ihm das Brötchen und murmelte nur: »Henry fallen die herrlichsten Gerichte ein. Ein Essen zusammenzustellen überlasse ich immer ihm.«
»Man muss die Bestie füttern«, sagte Mr Judd lachend und tätschelte seiner Frau die Schulter.
»Er behandelt sie, als wäre sie ein Hund«, flüsterte Mr Vyse melancholisch an Mr Sattersways Ohr. »Schneidet ihr das Essen in Bissen. Komische Geschöpfe, die Frauen.«
Mr Sattersway und Mr Quin begannen, das Picknick auszupacken: hart gekochte Eier, gekochter Schinken und Gruyère-Käse wurden in der Runde verteilt. Die Herzogin und Miss Nunn schienen in ein vertrauliches Gespräch vertieft zu sein, wie die Satzfetzen bewiesen, die zu den andern Gästen herüberdrangen.
»Das Brot darf nur leicht getoastet sein«, sagte Miss Nunn mit ihrer schönen tiefen Stimme. »Verstehen Sie? Dann eine sehr dünne… Schicht… Marmelade… Zusammenrollen… in den Ofen… eine Minute, nicht mehr… köstlich…«
»Diese Frau lebt nur fürs Essen«, murmelte Mr Vyse. »Unglaublich! Sie denkt an nichts anderes. Ich erinnere mich da an eine Inszenierung… wissen Sie, wo sie sagt: ›Und die herrliche ruhige Zeit, die ich noch verbringen werde…‹ Sie brachte es einfach nicht so, wie ich es haben wollte. Schließlich riet ich ihr, dabei an Pfefferminzlikör zu denken. Den mag sie sehr. Sofort war die Wirkung da – ein sehnsüchtiger Ausdruck, der einem bis ans Herz ging.«
Mr Sattersway schwieg. Er erinnerte sich.
Mr Tomlinson, der ihnen gegenübersaß, räusperte sich.
»Sie produzieren Stücke, wie ich höre? Mir gefällt eines ganz besonders: ›Jim, der Schreiber.‹ Ganz großartig!«
»Um Gottes willen«, sagte Mr Vyse, und ein Schauder durchrieselte ihn.
»Eine winzige Zehe Knoblauch«, sagte Miss Nunn zur Herzogin. »Sagen Sie es Ihrer Köchin. Es wirkt Wunder…«
Sie seufzte glücklich und wandte sich an ihren Mann: »Henry«, beklagte sie sich. »Ich habe nicht ein bisschen Kaviar gesehen.«
»Dabei sitzt du beinahe drauf!«, antwortete Mr Judd fröhlich. »Du hast ihn hinter dich auf den Stuhl gestellt.«
Rosina Nunn stellte ihn eilig auf den Tisch und lächelte glücklich in die Runde.
»Henry ist einfach großartig. Ich bin so schrecklich zerstreut und weiß nie, wo ich was hingelegt habe.«
»Wie damals, als du deine Perlen in den Waschbeutel packtest«, sagte Henry scherzhaft. »Und dann hast du ihn im Hotel vergessen. Mein Gott, habe ich da telefoniert und Telegramme geschickt.«
»Sie waren versichert«, meinte Miss Nunn verträumt. »Im Gegensatz zu meinem Opal.« Ein feiner, herzbrechender Ausdruck von Leid huschte über ihr Gesicht.
Wenn sich Mr Sattersway in der Gesellschaft von Mr Quin befand, hatte er schon öfter das Gefühl gehabt, als spiele er in einem Theaterstück mit. Auch jetzt hatte er diesen Eindruck. Beinahe glaubte er zu träumen. Jeder spielte mit. Die Worte »… meinem Opal…« waren sein Stichwort. Er beugte sich vor.
»Was war mit Ihrem Opal, Miss Nunn?«
»Reichst du mir mal die Butter, Henry? Danke. Ach ja, mein Opal. Er wurde mir gestohlen, wissen Sie. Ich bekam ihn nie wieder.«
»Erzählen Sie uns doch die Geschichte!«, bat Mr Sattersway.
»Nun – ich bin im Oktober geboren, und der Opal ist mein Glücksstein. Deshalb wollte ich einen ganz besonders schönen haben und habe lange darauf gewartet. Angeblich war er einer der makellosesten, die existierten. Nicht sehr groß – etwa wie ein Zweishillingstück, aber welche Farbe, welches Feuer!«
Sie seufzte. Mr Sattersway bemerkte, dass die Herzogin unruhig wurde, doch jetzt war Miss Nunn nicht mehr zu halten. Sie erzählte weiter, und ihre schöne Stimme ließ die Geschichte wie eine alte Legende klingen.
»Er wurde von einem jungen Mann namens Alec Gerard gestohlen. Er schrieb Theaterstücke.«
»Sehr gute sogar«, warf Mr Vyse fachmännisch ein. »Eines behielt ich mal sechs Monate.«
»Haben Sie es angenommen?«, fragte Mr Tomlinson.
»Natürlich nicht«, antwortete Mr Vyse, entsetzt über so einen Einfall. »Aber wissen Sie, dass ich einmal fast soweit gewesen wäre?«
»In dem Stück gab es eine herrliche Rolle für mich«, sagte Miss Nunn. »›Rachels Kinder‹ hieß es, obwohl keine Person mit diesem Namen vorkam. Der Autor erschien im Theater und unterhielt sich mit mir darüber. Er sah sehr gut aus und war scheu, der arme Junge. Ich erinnere mich…«, ein sehnsuchtsvolles Leuchten ging über ihr Gesicht, »dass er mir Pfefferminzlikör mitbrachte. Der Opal lag auf dem Schminktisch. Er war in Australien gewesen und wusste über Opale Bescheid. Er nahm ihn mit ins Licht, um ihn besser betrachten zu können. Vermutlich hat er ihn dann in die Tasche geschoben. Jedenfalls vermisste ich ihn, sobald er gegangen war. War das eine Aufregung. Erinnern Sie sich?«
Die Frage galt Mr Vyse.
»Natürlich«, antwortete Mr Vyse mit einem Stöhnen.
»Man fand das leere Etui in seinem Zimmer«, fuhr Miss Nunn fort. »Er hatte überhaupt kein Geld, aber am nächsten Tag zahlte er eine hohe Summe auf sein Bankkonto ein. Angeblich hatte ein Freund für ihn auf ein Pferd gesetzt, aber er konnte diesen Freund nicht vorzeigen. Er erklärte, er habe das Etui irrtümlich eingesteckt. Ich finde, das war eine ziemlich dürftige Ausrede, nicht wahr? Er hätte sich etwas Besseres einfallen lassen sollen! Ich musste als Zeugin auftreten. In allen Zeitungen erschienen Bilder von mir. Mein Presseagent war begeistert über den Rummel, aber ich hätte lieber meinen Opal wiedergehabt.«
Sie schüttelte bedauernd den Kopf.
»Möchtest du etwas eingemachte Ananas?«, fragte Mr Judd.
Miss Nunns Gesicht hellte sich auf. »Wo ist die Dose?«
»Ich habe sie dir gerade gegeben.«
Miss Nunn blickte hinter sich und vor sich, betrachtete die grauseidene Handtasche und hob langsam einen großen Beutel aus roter Seide vom Boden auf. Mit großem Interesse verfolgte Mr Sattersway, wie sie dessen Inhalt ans Tageslicht beförderte.
Erst kam eine Puderquaste, dann ein Lippenstift, ein kleines Schmucketui, ein Strang Wolle, noch eine Puderquaste, zwei Taschentücher, eine Schachtel mit Kremhütchen, ein Papiermesser mit Perlmuttgriff, ein Spiegel, ein kleines dunkelbraunes Holzkästchen, fünf Briefe, eine Walnuss, ein kleines quadratisches Stück lila Crepe de Chine, ein Band und das Ende eines Hörnchens. Als Letztes kam die Ananasdose zum Vorschein.
»Heureka!«, murmelte Mr Sattersway.
»Wie bitte?«
»Ach, nichts«, antwortete Mr Sattersway hastig. »Was für ein hübsches Papiermesser.«
»Ja, nicht wahr? Irgendjemand hat es mir geschenkt. Ich weiß nur nicht mehr, wer.«
»Das ist ein indisches Kästchen«, bemerkte Mr Tomlinson. »Eine sinnreiche kleine Erfindung, nicht wahr?«
»Das hat mir auch irgendjemand geschenkt«, erklärte Miss Nunn. »Ich habe es schon sehr lange. Im Theater stand es immer auf meinem Schminktisch. Ich finde, es ist nicht sehr hübsch.«
Das Kästchen war aus einfachem dunkelbraunen Holz und ließ sich seitlich öffnen. An der Oberseite befanden sich zwei Holzplättchen, die man im Kreis drehen konnte.
»Vielleicht nicht besonders hübsch«, sagte Mr Tomlinson mit einem Kichern. »Aber ich wette, Sie haben noch nie so eines gesehen.«
Mr Sattersway beugte sich vor. Plötzlich wurde er sehr aufgeregt.
»Warum sagten Sie, es sei eine sinnreiche kleine Erfindung?«, fragte er.
»Na, stimmt es etwa nicht?«
Der pensionierte Richter blickte Miss Nunn fragend an. Sie schien nicht zu begreifen.
»Sicherlich soll ich den Trick nicht verraten, nicht wahr?«
Miss Nunn verstand immer noch nicht.
»Was für einen Trick?«, fragte Mr Judd.
»Mein Gott, kennen Sie ihn nicht?«
Er musterte die fragenden Gesichter.
»Nicht zu glauben. Geben Sie mir das Kästchen einen Augenblick? Danke.«
Er öffnete es.
»Also, ich brauche etwas, das ich hineinlegen kann. Es darf nicht zu groß sein. Ein Stückchen Gruyère-Käse vielleicht. Ja, das passt großartig. Ich lege es hinein und schließe das Kästchen.«
Er fingerte ein paar Augenblicke daran herum und sagte dann: »Und jetzt…« Er öffnete es wieder. Es war leer.
»Nein, so was!«, rief Mr Judd. »Wie haben Sie es gemacht?«
»Ganz leicht. Man stülpt das Kästchen um, dreht das linke Plättchen halb um, dann schließt man das rechte. Wenn wir das Stückchen Käse wiederhaben wollen, brauchen wir es nur umgekehrt zu machen. Das rechte Plättchen halb herumdrehen, das linke schließen – und jetzt: Da ist es!«
Das Kästchen war offen. Die Tafelrunde stieß einen überraschten Schrei aus. Das Käsestückchen war wieder da – und außerdem noch etwas anderes. Ein runder Gegenstand, der in allen Regenbogenfarben schimmerte.
»Mein Opal!«
Die Worte klangen wie Trompetenschall. Rosina Nunn sprang auf und schlug die Hände zusammen. »Mein Opal! Aber wie ist er da hineingekommen?«
Henry Judd räusperte sich. »Hm, ich glaube, Rosy, mein Liebling, du hast ihn selbst hineingesteckt.«
Jemand stand vom Tisch auf und lief hinaus. Es war Naomi Carlton-Smith. Mr Quin folgte ihr.
»Aber wann? Du meinst…«
Mr Sattersway beobachtete, wie es ihr allmählich dämmerte. Es dauerte beinahe zwei Minuten.
»Du meinst, letztes Jahr im Theater?«
»Ich weiß ja«, sagte Henry tröstend, »dass du immer mit irgendetwas spielst, Rosy. Denk nur an den Kaviar vorhin.«
Miss Nunn überlegte und sagte langsam: »Ich legte ihn hinein, ohne es zu merken, dann habe ich das Kästchen wohl umgedreht und zufällig die Plättchen… aber dann…« Und da begriff sie. »Aber dann hat ihn Alec Gerard ja gar nicht gestohlen! Oh!« Sie stieß einen erschütternden Schrei aus, der aus tiefster Kehle kam. »Wie entsetzlich!«
»Naja«, bemerkte Mr Vyse, »das lässt sich ändern.«
»Aber er war ein Jahr im Gefängnis!« Dann überraschte sie alle mit der Frage, die sie an die Herzogin richtete. »Warum ist das Mädchen hinausgelaufen? Wer ist sie?«
»Das ist Miss Carlton-Smith«, antwortete die Herzogin. »Sie war mit Mr Gerard verlobt. Die Sache hat sie sehr mitgenommen.«
Mr Sattersway machte sich unauffällig davon. Es hatte aufgehört zu schneien. Naomi saß auf der niedrigen Steinmauer, einen Skizzenblock auf den Knien. Farbige Kreiden lagen neben ihr. Mr Quin stand da und sah ihr beim Zeichnen zu.
Sie hielt Mr Sattersway den Block hin. Die Szene war nur rasch aufs Papier geworfen, doch sie verriet Begabung. Ein Wirbel von Schneeflocken mit einer Gestalt in der Mitte.
»Sehr gut!«, sagte Mr Sattersway.
Mr Quin blickte zum Himmel hoch. »Der Schneesturm ist vorbei«, meinte er. »Die Straßen werden nass sein, aber ich glaube nicht, dass es einen Unfall gibt.«
»Das glaube ich auch nicht«, antwortete Naomi. Ihre Stimme hatte einen bedeutsamen Unterton, den Mr Sattersway nicht verstand. Sie sah ihn an und lächelte, ein strahlendes Lächeln. »Mr Sattersway kann mit mir zurückfahren, wenn er möchte.«
Da wusste er, zu was sie in ihrer Verzweiflung fähig gewesen wäre.
»Nun«, sagte Mr Quin. »Ich muss mich jetzt verabschieden.«
Er ging davon.
»Wohin will er?«, fragte Mr Sattersway, der ihm verblüfft nachstarrte.
»Dorthin zurück, woher er gekommen ist, nehme ich an«, sagte Naomi in einem seltsamen Ton.
»Aber – aber da ist doch nichts«, meinte Mr Sattersway, denn Mr Quin ging auf die Stelle am Abhang zu, wo sie ihn zuerst gesehen hatten. »Sie sagten selbst, es sei das Ende der Welt.«
Er gab ihr den Zeichenblock zurück.
»Die Skizze ist sehr gut«, sagte er. »Eine große Ähnlichkeit. Aber warum trägt er ein Narrenkostüm?«
Eine Sekunde lang trafen sich ihre Blicke.
»Ich sehe ihn eben so«, antwortete Naomi Carlton-Smith.