176949.fb2 The Mysterious Mr Quin - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 7

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Die Stimme aus dem Dunkeln

Ich mache mir Sorgen wegen Margery«, sagte Lady Stranleigh. »Meine Tochter, wissen Sie«, fügte sie hinzu.

Sie seufzte nachdenklich. »Mit einer großen Tochter kommt man sich schrecklich alt vor.«

Mr Sattersway, der Empfänger dieser Vertraulichkeiten, zeigte sich den Umständen gewachsen. »Man sollte es nicht für möglich halten«, meinte er galant und machte eine kleine Verbeugung.

»Schmeichler«, sagte Lady Stranleigh, doch es klang ziemlich zerstreut. Offenbar war sie mit den Gedanken nicht ganz bei der Sache. Bewundernd betrachtete Mr Sattersway die schlanke Gestalt in dem weißen Kleid. Die Sonne von Cannes war unerbittlich, in ihrem Licht ließ sich nichts verbergen, doch Lady Stranleigh bestand die Prüfung glänzend. Auf die Entfernung wirkte sie außerordentlich jugendlich. Man konnte sich beinahe fragen, ob sie schon erwachsen war oder nicht. Mr Sattersway, der stets gut unterrichtet war, wusste, dass Lady Stranleigh bereits Enkelkinder hätte haben können. Sie war der höchste Triumph der Kunst über die Natur, die Figur makellos, der Teint herrlich. Sie hatte viele Schönheitssalons reich gemacht, und das Resultat war wirklich sehr erstaunlich.

Lady Stranleigh zündete sich eine Zigarette an, schlug die schönen Beine übereinander, die in hauchdünnen Strümpfen steckten, und sagte leise: »Ja, ich mache mir wegen Margery wirklich Sorgen.«

»Du liebe Zeit«, rief Mr Sattersway, »was ist passiert?«

Lady Stranleigh wandte ihm ihre schönen blauen Augen zu. »Sie haben sie nie kennen gelernt, nicht wahr? Sie ist Charles’ Tochter«, fügte sie erklärend hinzu.

Falls das »Who’s who« wirklich stimmte, hätte die Eintragung über Lady Stranleigh wie folgt enden können: Ihr Hobby ist das Heiraten. Sie war durch das Leben geschwebt und hatte einige Ehemänner auf der Strecke zurückgelassen. Drei verlor sie durch Scheidung, einen durch Tod.

»Wenn sie Rudolfs Tochter wäre, könnte ich es ja verstehen«, grübelte Lady Stranleigh. »Erinnern Sie sich noch an Rudolf? Er war sehr temperamentvoll. Schon sechs Monate nach unserer Eheschließung musste ich bei Gericht umso seltsame Dinge nachsuchen – wie nennt man das doch noch? Eheliche… was weiß ich, Sie kennen das ja! Gott sei Dank ist heute alles viel einfacher. Ich erinnere mich, dass ich ihm die verrücktesten Briefe schrieb. Mein Anwalt diktierte sie mir praktisch. Ich bat ihn, zurückzukommen, und schwor, dass ich alles tun würde, was… und so weiter. Aber man konnte sich auf Rudolf nie verlassen. Er war so temperamentvoll. Er kam umgehend nachhause, was genau das falsche war, weil der Anwalt es überhaupt nicht so gemeint hatte.« Sie seufzte.

»Was ist mit Margery?«, fragte Mr Sattersway, sie taktvoll auf den Gegenstand ihres Gesprächs zurückführend.

»Ja, natürlich. Das wollte ich Ihnen gerade erzählen. Margery hört seltsame Dinge und sieht Gespenster und so etwas. Ich hätte nie gedacht, dass Margery soviel Fantasie hat. Sie ist ein liebes Kind, war es immer, nur ein wenig langweilig.«

»Unmöglich«, murmelte Mr Sattersway in der etwas unklaren Vorstellung, dies sei ein Kompliment.

»Sie ist wirklich sehr langweilig«, fuhr Lady Stranleigh fort. »Sie interessiert sich nicht fürs Tanzen oder für Cocktailpartys oder für irgendwelche andere Dinge, für die sich ein junges Mädchen interessieren sollte. Sie bleibt viel lieber zuhause und geht auf die Jagd, statt mit mir zu verreisen.«

»So, so«, sagte Mr Sattersway. »Sie wollte nicht mit Ihnen herkommen?«

»Nun, ich habe sie nicht gedrängt. Töchter können einen deprimieren, finde ich.«

Mr Sattersway versuchte, sich Lady Stranleigh zusammen mit einer ernsten Tochter vorzustellen, doch es gelang ihm nicht.

»Ich frage mich, ob Margery etwa den Verstand verliert«, fuhr Margerys Mutter fröhlich fort. »Wenn man Stimmen hört, ist das ein schlimmes Zeichen, soviel ich weiß. In Abbot’s Mede spukte es jedenfalls nicht. Das alte Gebäude brannte 1836 bis auf die Grundmauern ab, und dann bauten sie es als eine Art frühviktorianisches Schloss wieder auf, in dem einfach kein Geist hausen kann. Es ist viel zu hässlich und zu gewöhnlich dafür.«

Mr Sattersway hüstelte. Er fragte sich, warum sie ihm das alles erzählte.

»Ich dachte«, sagte Lady Stranleigh und lächelte ihn strahlend an, »dass Sie mir vielleicht helfen könnten.«

»Wieso ich?«

»Ja. Sie kehren morgen nach England zurück, nicht wahr?«

»Ja, das stimmt«, gab Mr Sattersway vorsichtig zu.

»Außerdem kennen Sie alle diese Seelenforscher. Natürlich habe ich Recht! Ich weiß, dass Sie einfach alle Welt kennen.«

Mr Sattersway lächelte leicht. Es war eine seiner kleinen Schwächen, dass er gern die richtigen Leute kannte.

»Was könnte also einfacher sein?«, fuhr Lady Stranleigh fort. »Ich komme mit ihnen nicht zurecht. Sie wissen schon… ernste Männer mit Bärten und Brille. Sie langweilen mich entsetzlich, und ich zeige mich dann von meiner schlimmsten Seite.«

Mr Sattersway war ziemlich schockiert. Lady Stranleigh lächelte ihn weiter strahlend an.

»Das wäre also abgemacht!«, sagte sie fröhlich. »Sie fahren nach Abbot’s Mede und besuchen Margery und arrangieren die Sache. Ich werde Ihnen schrecklich dankbar sein. Wenn Margery tatsächlich verrückt ist, komme ich selbstverständlich nachhause. Ah, da ist ja Bimbo!«

Ihr Lächeln wurde so strahlend, dass es Mr Sattersway beinahe blendete.

Ein junger Mann in weißen Tennishosen näherte sich ihnen. Er war ungefähr fünfundzwanzig Jahre alt und sah sehr gut aus.

»Ich habe dich überall gesucht, Babs«, sagte der junge Mann direkt.

»Wie war’s beim Tennis?«

»Ekelhaft.«

Lady Stranleigh erhob sich. Sie blickte noch einmal zurück und flötete Mr Sattersway zu: »Es ist einfach großartig, dass Sie mir helfen wollen. Das werde ich Ihnen nie vergessen!«

Mr Sattersway blickte dem davongehenden Paar nach.

Ob Bimbo wohl die Nummer fünf wird, überlegte er.

Der Schaffner des Luxuszuges zeigte Mr Sattersway die Stelle, wo vor einigen Jahren ein Unglück passiert war. Als der Mann mit seinem in den lebhaftesten Farben geschilderten Bericht fertig war, blickte Mr Sattersway auf und entdeckte hinter ihm ein bekanntes Gesicht, das ihm freundlich zulächelte.

»Mein lieber Mr Quin!«, rief Mr Sattersway. Sein kleines verwelktes Gesicht war eitel Freude. »Was für ein Zufall! Dass wir mit dem gleichen Zug nach England zurückfahren. Sie fahren doch nach England?«

»Ja«, antwortete Mr Quin. »Ich habe dort etwas ziemlich Wichtiges zu erledigen. Gehen Sie auch zum ersten Abendessen?«

»Das tue ich immer. Natürlich ist es eine idiotische Zeit – halb sieben, aber man riskiert da nicht soviel mit verkochtem Essen.«

Mr Quin nickte verständnisvoll. »Ja«, sagte er. »Vielleicht können wir einen gemeinsamen Tisch bekommen.«

Um halb sieben saßen Mr Quin und Mr Sattersway an einem kleinen Tisch im Speisewagen. Mr Sattersway beschäftigte sich gründlich mit der Weinkarte und sagte dann zu Mr Quin: »Ich habe Sie seit… hm… seit Korsika nicht mehr gesehen. Damals verließen Sie uns ganz plötzlich.«

Mr Quin zuckte mit den Schultern. »Nicht anders als sonst. Ich komme und gehe, wissen Sie. Ich komme und gehe.«

Die Worte schienen ein Echo der Erinnerung in Mr Sattersways Kopf zu wecken. Ein kleiner Schauder lief ihm den Rücken hinunter. Es war nicht unangenehm, ganz im Gegenteil. Er spürte ein köstliches Gefühl der Erwartung.

Mr Quin nahm die Rotweinflasche und betrachtete das Etikett. Die Flasche befand sich zwischen ihm und der Lampe, und ein paar Augenblicke lang war seine Person in ein rotes Glühen gehüllt.

Wieder spürte Mr Sattersway, wie die Erregung in ihm hochstieg. »Ich habe in England auch eine Aufgabe zu erfüllen«, bemerkte er und lächelte dabei breit. »Sicherlich kennen Sie Lady Stranleigh?«

Mr Quin schüttelte den Kopf.

»Alter Adel«, sagte Mr Sattersway. »Sehr alter Adel. Einer der wenigen, der sich auch in der weiblichen Linie vererbt. Sie ist eine Baronin. Wirklich, eine sehr romantische Geschichte.«

Mr Quin lehnte sich entspannt in seinem Stuhl zurück. Der Ober, der den hin und her schwingenden Wagen entlanggetanzt kam, stellte wie aus dem Nichts Tassen mit Suppe vor sie hin. Vorsichtig begann Mr Quin zu essen.

»Sie werden mir auf Ihre wundervolle plastische Art wieder eine Personenbeschreibung geben«, murmelte er. »Habe ich Recht?«

Mr Sattersway strahlte.

»Sie ist eine großartige Frau«, sagte er. »Sechzig, wissen Sie. Ja, ich würde behaupten, sie ist mindestens sechzig. Ich kannte sie schon als Kind, sie und ihre Schwester. Beatrice, das war der Name der älteren, Beatrice und Barbara. Sie hießen überall nur die Barron-Mädchen. Beide waren sehr hübsch und für damalige Verhältnisse unvermögend. Das ist viele Jahre her! Mein Gott, ich war ja selbst ein junger Mann!« Mr Sattersway seufzte. »Mehrere Leute hatten noch ein Anrecht auf den Titel. Der alte Lord Stranleigh hat viele seltsame Dinge erlebt. Drei Verwandte starben ganz plötzlich – zwei Brüder des alten Mannes und ein Neffe. Und dann die Uralia. Erinnern Sie sich an das Schiffsunglück? Sie sank an der Küste von Neuseeland. Die andere, Barbara, war unter den wenigen Überlebenden. Sechs Monate später starb der alte Stranleigh, sie erbte den Titel und ein beträchtliches Vermögen. Seit damals dreht sich ihr Leben nur um eines: um sie selbst. Sie ist sich immer gleich geblieben, schön, skrupellos, hart, egozentrisch. Sie war viermal verheiratet, und ich bin überzeugt, dass sie sofort einen Mann finden könnte.«

Dann berichtete er von dem Auftrag, den Lady Stranleigh ihm gegeben hatte.

»Ich dachte, ich fahre mal nach Abbot’s Mede und besuche die junge Dame«, erklärte er. »Ich finde, dass etwas unternommen werden sollte. Man kann Lady Stranleigh nicht wie eine durchschnittliche Mutter behandeln.« Er schwieg und sah sein Gegenüber an. »Ich wünschte, Sie würden mich begleiten«, fügte er nachdenklich hinzu. »Ist das nicht möglich?«

»Ich fürchte nein«, antwortete Mr Quin. »Aber warten Sie mal – liegt Abbot’s Mede nicht in Wiltshire?«

Mr Sattersway nickte.

»Das dachte ich mir doch! Zufällig bin ich ganz in der Nähe, an einem Ort, den Sie und ich gut kennen.« Er lächelte wieder. »Erinnern Sie sich noch an das Wirtshaus Zu den Schellen und Narren?«

»Natürlich!«, rief Mr Sattersway. »Werden Sie dort wohnen?«

Mr Quin nickte. »Für eine Woche oder zehn Tage oder noch länger. Wenn Sie mich besuchen kommen wollen, würde ich mich freuen.«

Und aus irgendeinem Grund fühlte sich Mr Sattersway von dieser Versicherung seltsam getröstet.

»Meine liebe Miss Margery«, sagte Mr Sattersway. »Ich versichere Ihnen, es würde mir nicht im Traum einfallen, Sie auszulachen.«

Margery zog leicht die Brauen hoch. Sie saßen in der großen gemütlichen Halle von Abbot’s Mede. Margery Gale war eine große, kräftig gebaute Frau und hatte keine Ähnlichkeit mit ihrer Mutter. Sie war nach ihrem Vater geschlagen, der aus einem Geschlecht von robusten Landjunkern und Pferdeliebhabern stammte. Sie sah rosig und vernünftig aus, ein Bild der Gesundheit. Trotzdem, überlegte Mr Sattersway, neigten die Barrons zu einer gewissen geistigen Instabilität. Margery hatte zwar die Statur ihres Vaters, konnte aber doch mütterlicherseits irgendeinen Sparren geerbt haben.

»Ich wünschte«, sagte Margery, »ich könnte die Casson loswerden. Ich glaube nicht an Spiritismus und mag ihn auch nicht. Sie gehört zu diesen verrückten Weibern, die einen Fimmel zu Tode reiten können. Ständig liegt sie mir in den Ohren, ich solle ein Medium herholen.« Mr Sattersway hüstelte, bewegte sich unruhig in seinem Sessel und sagte dann sachlich: »Mal sehen, ob ich alle Fakten habe. Zum ersten Mal trat dieses – hm – Phänomen vor zwei Monaten auf. Stimmt das?«

»Ungefähr«, erwiderte Margery. »Manchmal war es nur ein Flüstern, manchmal konnte ich die Stimme deutlich hören, aber sie sagte immer dasselbe.«

»Und das war?«

»›Gib mir wieder, was dir nicht gehört. Gib mir wieder, was du gestohlen hast!‹ Jedes Mal habe ich sofort das Licht angemacht, aber das Zimmer war leer. Niemand war da. Schließlich wurde ich so nervös, dass ich Clayton, Mutters Zofe, bat, auf dem Sofa in meinem Schlafzimmer zu schlafen.«

»Aber Sie hörten die Stimme trotzdem wieder?«

»Ja, aber Clayton hörte sie nicht. Und das macht mir Angst.«

Mr Sattersway überlegte eine Weile. »War sie an jenem Abend laut oder leise?«

»Kaum mehr als ein Flüstern«, musste Margery zugeben. »Wenn Clayton tief geschlafen hat, dürfte sie sie kaum gehört haben. Sie findet, ich sollte zum Arzt gehen.«

Margery lachte bitter. »Aber seit heute Nacht glaubt mir sogar Clayton«, fuhr sie fort.

»Was ist passiert?«

»Das will ich Ihnen gerade erzählen: Ich habe bis jetzt noch mit niemandem darüber gesprochen. Gestern war ich auf der Jagd. Es war ein langer Ritt. Ich war todmüde und schlief tief. Ich träumte – ein schrecklicher Traum –, dass ich über ein eisernes Geländer fiel und sich eine der Eisenspitzen langsam in meinen Hals bohrte. Ich erwachte. Es stimmte. Jemand hielt mir einen spitzen Gegenstand an die Kehle, und eine Stimme murmelte: ›Du hast mich bestohlen. Dafür wirst du sterben.‹

Ich schrie«, fuhr Margery fort, »schlug um mich, doch niemand war da. Clayton hörte mich im Nebenzimmer schreien. Sie lief zu mir und spürte, wie in der Dunkelheit etwas an ihr vorbeihuschte, aber sie hat gesagt, egal, was es gewesen sei, jedenfalls kein menschliches Wesen.«

Mr Sattersway starrte sie nachdenklich an. Das Mädchen war offensichtlich völlig durcheinander und sehr erregt. Er bemerkte auf der linken Seite neben ihrer Kehle ein kleines Pflaster. Sie fing seinen Blick auf und nickte.

»Ja«, sagte sie, »wie Sie sehen, war es keine Einbildung.«

Die nächste Frage stellte Mr Sattersway fast entschuldigend, weil sie so dramatisch klang. »Kennen Sie jemanden… der… einen Groll gegen Sie hegt?«

»Natürlich nicht!«, erwiderte Margery. »Was für ein Gedanke!«

Mr Sattersway versuchte es mit einer anderen Taktik. »Wer hat Sie in den letzten zwei Monaten besucht?«

»Die Wochenendgäste zählen Sie doch wohl nicht mit? Marcia Keane war die ganze Zeit über hier. Sie ist meine beste Freundin und genauso verrückt auf Pferde wie ich. Mein Vetter Roley Vavasour blieb auch ziemlich lange.«

Mr Sattersway nickte. Er meinte, es sei am besten, wenn er sich mit Clayton unterhalte, der Zofe. »Ist sie schon lange bei Ihnen?«

»Eine Ewigkeit«, antwortete Margery. »Sie kam ins Haus, als Mutter und Tante Beatrice noch Mädchen waren. Deshalb hat Mutter sie auch behalten, obwohl sie jetzt für sich eine französische Zofe angestellt hat. Clayton näht und macht alle möglichen Arbeiten.«

Sie führte ihn in den ersten Stock und machte ihn mit Clayton bekannt. Sie war eine große, magere, alte Frau mir ordentlich gescheiteltem grauem Haar. Der Gipfel der Ehrbarkeit.

»Nein, Sir«, antwortete sie auf Mr Sattersways Fragen. »Ich habe nie gehört, dass es im Haus spuken soll. Offen gestanden, Sir, bis heute Nacht hielt ich es für Einbildung. Miss Margery hat eine blühende Fantasie. Aber ich habe wirklich etwas gespürt – irgendetwas ist in der Dunkelheit an mir vorbeigehuscht. Und ich schwöre, Sir, es war kein menschliches Wesen! Und dann die Verletzung an Miss Margerys Hals. Die hat sie sich doch nicht selbst beigebracht, die Ärmste!« Doch ihre Worte hinterließen bei Mr Sattersway einen Verdacht. Hatte Margery sich etwa absichtlich verletzt? Er hatte von den seltsamsten Fällen gehört, wo Mädchen, die so gesund und vernünftig wirkten wie Margery, die erstaunlichsten Sachen gemacht hatten.

»Es wird bald verheilt sein«, meinte Clayton. »Nicht wie meine Narbe.«

Sie deutete auf ihre Stirn. »Das ist vor vierzig Jahren passiert, Sir. Und die Erinnerung daran ist immer noch zu sehen.«

»Es geschah, als die Uralia unterging«, warf Margery ein. »Clayton wurde von einem Stück Holz am Kopf getroffen, nicht wahr, Clayton?«

»Ja, Miss.«

»Was halten Sie denn von der Sache, Clayton?«, fragte Mr Sattersway. »Was steckt hinter dem Überfall auf Miss Margery?«

»Ich kann eigentlich gar nichts dazu sagen, Sir.«

Mr Sattersway deutete die Antwort richtig als die Zurückhaltung einer wohl erzogenen Angestellten. »Was glauben Sie nun wirklich, Clayton?«, fragte er einschmeichelnd.

»Ich denke, Sir, dass in diesem Haus irgendetwas Verrücktes geschah und es keinen Frieden geben wird, bis das nicht geklärt ist.«

Sie war sehr ernst, und ihre blassblauen Augen wichen seinem Blick nicht aus.

Ziemlich enttäuscht ging Mr Sattersway wieder nach unten. Offenbar war Clayton der üblichen Ansicht, dass es im Haus wegen einer üblen Tat, die in der Vergangenheit geschehen war, spukte. Mr Sattersway war nicht so leicht zu überzeugen. Das Phänomen war erst in den letzten zwei Monaten aufgetreten, erst seit Marcia Keane und Roley Vavasour zu Besuch weilten. Er musste mehr über die beiden herausfinden. Es konnte möglich sein, dass das Ganze nur ein Scherz war. Doch er schüttelte den Kopf. Diese Lösung befriedigte ihn nicht. Die Geschichte war viel ernster.

Die Post war gekommen und Margery gerade dabei, sie zu öffnen und zu lesen. Plötzlich stieß sie einen kleinen Ruf aus. »Mutter ist wirklich zu albern«, sagte sie. »Bitte, lesen Sie!« Sie reichte Mr Sattersway das Blatt.

Es war ein für Lady Stranleigh sehr typischer Brief. Sie schrieb:

»Liebe Margery,

ich freue mich so, dass der nette kleine Mr Sattersway bei dir ist. Er ist schrecklich klug und kennt viele große Tiere. Du musst sie alle einladen und die ganze Sache genau ergründen. Ich bin überzeugt, es wird dir viel Spaß machen, und ich wünschte nur, ich könnte dabei sein. Ich bin in den letzten paar Tagen sehr krank gewesen.

Die Hotels passen wirklich nicht auf, was sie einem zum Essen servieren. Der Arzt behauptet, es sei eine Art Vergiftung. Ich fühlte mich entsetzlich elend.

Lieb von dir, mir Pralinen zu schicken, Margery, aber was für ein verrückter Einfall! Ich meine, es gibt doch hier die herrlichsten Geschäfte.

Bis bald, mein Liebling. Viel Vergnügen bei der Jagd nach dem Familiengespenst. Bimbo findet, dass ich immer besser Tennis spiele.

Tausend Küsse,

Deine Barbara«

»Mutter möchte immer, dass ich sie Barbara nenne«, erklärte Margery. »Völlig verrückt, finde ich.«

Mr Sattersway lächelte ein wenig. Manchmal musste die ernsthafte, konservative Tochter Lady Stranleigh ziemlich auf die Nerven gehen. Der Inhalt des Briefes beunruhigte ihn. Margery war offensichtlich nichts aufgefallen.

»Haben Sie Ihrer Mutter Pralinen geschickt?«, fragte er.

Margery schüttelte den Kopf. »Nein. Es muss jemand anders gewesen sein.«

Mr Sattersway machte ein ernstes Gesicht. Zwei Dinge schienen ihm von Bedeutung zu sein. Lady Stranleigh hatte eine Schachtel Pralinen geschenkt bekommen und eine schwere Vergiftung gehabt. Allem Anschein nach hatte sie diese beiden Punkte nicht in Zusammenhang gebracht. Aber bestand denn überhaupt einer? Mr Sattersway war geneigt, die Möglichkeit zu bejahen.

Ein großes dunkelhaariges Mädchen tauchte aus dem Frühstückszimmer auf. Margery stellte sie Mr Sattersway als Marcia Keane vor.

Sie lächelte gutmütig auf den kleinen Mann hinunter.

»Sind Sie hergekommen, um Margerys Lieblingsgeist zu erlegen?«, fragte sie gedehnt. »Wir ziehen sie ständig damit auf. Ach, da ist ja Roley!«

Vor dem Haus war ein Wagen vorgefahren. Ein großer junger Mann mit hellem Haar und jungenhaften Bewegungen stieg aus.

»Hallo, Margery«, rief er. »Hallo, Marcia! Ich habe Verstärkung geholt.« Er wandte sich nach den beiden Frauen um, die eben in die Halle traten. Mr Sattersway kannte die eine. Es war Mrs Casson, von der Margery kurz vorher gesprochen hatte.

»Sie müssen mir verzeihen, meine liebe Margery«, sagte sie, »aber Mr Vavasour hat behauptet, wir seien willkommen. Eigentlich war es seine Idee, dass ich Mrs Lloyd mitbringen sollte.«

Sie stellte ihre Begleiterin mit einer kleinen Geste vor. »Das ist Mrs Lloyd«, sagte sie in triumphierendem Ton. »Das beste Medium, das es gibt!«

Mrs Lloyd äußerte nicht den geringsten Protest. Sie verneigte sich und stand mit den Händen vor der Brust gefaltet da. Sie war eine braune junge Frau von durchschnittlichem Aussehen. Ihr Kleid wirkte ziemlich unmodern und war etwas bestickt. Sie trug eine Kette aus Mondsteinen und mehrere Ringe.

Wie Mr Sattersway feststellte, war Margery über die Eindringlinge nicht sehr begeistert. Sie warf Roley Vavasour einen ärgerlichen Blick zu. Er schien über die verursachte Störung nicht beunruhigt zu sein.

»Ich glaube, das Mittagessen ist fertig«, sagte Margery.

»Sehr schön«, sagte Mrs Casson. »Wir können gleich danach eine Séance abhalten. Haben Sie für Mrs Lloyd etwas Obst? Vor einer spiritistischen Sitzung nimmt sie nicht eine ordentliche Mahlzeit zu sich.«

Sie gingen ins Esszimmer. Das Medium aß zwei Bananen und einen Apfel und antwortete vorsichtig und kurz auf die verschiedenen freundlichen Bemerkungen, die Margery von Zeit zu Zeit an sie richtete. Kurz bevor sie vom Tisch aufstanden, warf sie plötzlich den Kopf zurück und schnüffelte. »In diesem Haus stimmt irgendetwas nicht. Ganz und gar nicht. Ich fühle es!«

»Ist sie nicht großartig«, flüsterte Mrs Casson begeistert.

»Ja, zweifellos«, antwortete Mr Sattersway trocken.

Die Séance fand in der Bibliothek statt. Wie Mr Sattersway bemerkte, war die Gastgeberin davon nicht sehr angetan. Nur die unverhohlene Freude ihrer Gäste versöhnte sie etwas mit der ganzen Geschichte.

Mrs Casson bereitete die Sitzung sehr gründlich vor. Offenbar kannte sie sich in diesen Dingen sehr gut aus. Stühle wurden in einem Kreis aufgestellt, die Vorhänge zugezogen, und dann verkündete das Medium, es sei bereit.

»Sechs Personen«, sagte sie und blickte durch den Raum. »Das ist nicht gut. Es muss eine ungerade Zahl sein. Sieben wäre ideal. Bei sieben Personen bin ich immer in Hochform.«

»Nehmen wir einen der Angestellten«, schlug Roley vor. Er stand auf. »Ich werde den Butler suchen.«

»Wie wär’s mit Clayton«, sagte Margery.

Mr Sattersway bemerkte, dass Roley Vavasour ein ärgerliches Gesicht machte.

»Warum ausgerechnet Clayton?«, fragte er.

»Du magst sie nicht«, sagte Margery nachdenklich.

Roley zuckte die Achseln. »Clayton mag mich nicht«, erwiderte er protestierend. »Sie hasst mich wie die Pest.« Er schwieg abwartend, doch Margery gab nicht nach. »Na schön«, sagte er dann, »soll sie mitmachen.«

Kurz darauf saßen alle im Kreis und schwiegen erwartungsvoll.

Jemand hüstelte, ein anderer bewegte sich unruhig. Dann erklangen ein paar Klopftöne, und eine Stimme sprach aus dem Medium. Es war ein Indianer. Ein Irokese.

»Tapferer Krieger begrüßt Sie. Jemand ist da, der Sie dringend sprechen möchte. Jemand, der der jungen Dame eine Botschaft geben möchte. Ich gehe jetzt. Der Geist hat gesprochen.«

Es entstand eine Pause, dann sagte eine neue Stimme, eine weibliche Stimme: »Ist Margery da?«

Roley Vavasour übernahm die Initiative und antwortete:

»Ja, sie ist da. Wer sind Sie?«

»Beatrice.«

»Beatrice? Wer ist Beatrice?«

Zum Ärger der Anwesenden meldete sich der Indianer wieder. »Ich habe eine Botschaft für Sie alle. Das Leben hier ist heiter und schön. Helfen Sie denen, die noch nicht herübergekommen sind.«

Wieder herrschte Schweigen. Dann sagte die Frauenstimme: »Hier ist Beatrice.«

»Beatrice und weiter?«

»Beatrice Barron.«

Mr Sattersway beugte sich vor. Er war sehr erregt. »Beatrice Barron, die beim Untergang der Uralia ertrank?«

»Ja, das ist richtig. Ich erinnere mich an die Uralia. Ich habe eine Nachricht für dieses Haus: Gib mir wieder, was dir nicht gehört.«

»Ich verstehe Sie nicht«, sagte Margery hilflos. »Ich… oh, bist du wirklich Tante Beatrice?«

»Ja, ich bin deine Tante.«

»Natürlich ist sie es«, warf Mrs Casson vorwurfsvoll ein. »Warum sind Sie so misstrauisch? Das mögen Geister nicht.«

Plötzlich fiel Mr Sattersway ein einfacher Ausweg ein, wie er den Geist auf die Probe stellen konnte: Mit leicht zitternder Stimme fragte er: »Erinnern Sie sich noch an Mr Bottacetti?«

Ein helles Lachen war die Antwort. »Der gute alte Bottacetti. Er ist gekentert.«

Mr Sattersway war verblüfft. Der Geist hatte die Probe bestanden. Es war ein Ereignis, das über vierzig Jahre zurücklag. Damals hatten die Barron-Mädchen und er im selben Seebad Ferien gemacht. Ein junger italienischer Bekannter war mit dem Boot hinausgefahren und gekentert, und Beatrice Barron hatte ihn deswegen verspottet. Mr Sattersway schien es unmöglich, dass einer der Anwesenden die Geschichte kannte.

Das Medium bewegte sich unruhig und seufzte.

»Sie kommt zu sich«, sagte Mrs Casson. »Mehr werden wir heute kaum erfahren.«

Die Vorhänge wurden aufgezogen, und das Tageslicht strömte in den Raum voller Menschen, von denen mindestens zwei große Angst hatten.

Mr Sattersway erkannte an Margerys bleichem Gesicht, dass sie sehr erschrocken war. Als sie Mrs Casson und das Medium losgeworden waren, zog er seine Gastgeberin in ein vertrauliches Gespräch.

»Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen, Miss Margery. Wenn Sie und Ihre Mutter sterben, wer erbt den Titel und das Vermögen?«

»Roley Vavasour, glaube ich. Seine Mutter war Mutters Kusine.«

Mr Sattersway nickte. »Er ist diesen Winter häufig hier gewesen«, bemerkte er freundlich. »Bitte, entschuldigen Sie, wenn ich Sie frage, ob er… ob er Sie gern hat?«

»Vor drei Wochen hat er um meine Hand angehalten«, antwortete Margery. »Ich wollte nicht.«

»Darf ich Sie fragen, ob Sie mit jemand anders verlobt sind?«

Ein rosiger Schimmer flog über ihr Gesicht.

»Ja«, sagte sie energisch. »Ich werde Noel Barton heiraten. Meine Mutter hat mich ausgelacht. Sie findet es idiotisch. Sie findet es lächerlich, sich mit einem Hilfsgeistlichen zu verloben. Ich möchte wissen, warum? Es gibt solche Geistliche und solche. Sie sollten Noel mal zu Pferd sehen!«

»Sicher, sicher«, sagte Sattersway. »Ganz bestimmt.«

Ein Diener erschien mit einem silbernen Tablett, auf dem ein Telegramm lag. Margery riss es auf. »Meine Mutter kommt morgen«, sagte sie. »Verdammt! Ich wünschte, sie würde wegbleiben!«

Mr Sattersway schwieg zu diesem töchterlichen Gefühlsausbruch. Vielleicht hielt er ihn sogar für gerechtfertigt. »In diesem Fall«, murmelte er, »fahre ich wohl nach London zurück.«

Mr Sattersway war nicht zufrieden mit sich. Er fand, dass er dieses spezielle Problem nicht richtig gelöst hatte. Es stimmte zwar, dass ihn Lady Stranleighs Rückkehr aller Verantwortung enthob, doch er war überzeugt, dass er von Abbot’s Mede noch nicht das letzte Wort gehört hatte.

Die Wendung, die die Geschichte dann nahm, war derart ernster Natur, dass sie Mr Sattersway völlig unvorbereitet traf. Er erfuhr es aus der Morgenzeitung: Baronin stirbt in der Badewanne, stand im Daily Megaphone. Die andern Zeitungen hielten sich nicht zurück und formulierten es vorsichtiger, doch die Tatsache blieb, dass man Lady Stranleigh tot in ihrer Wanne aufgefunden hatte und sie ertrunken war. Vermutlich hatte sie das Bewusstsein verloren und war mit dem Kopf unter Wasser geglitten.

Mr Sattersway überzeugte diese Erklärung nicht. Er rief nach seinem Diener, machte weniger sorgfältig als sonst Toilette und saß zehn Minuten später in seinem großen Rolls-Royce, der ihn so schnell wie möglich aus London hinaustrug.

Doch seltsamerweise fuhr er nicht nach Abbot’s Mede, sondern zu einem kleinen Wirtshaus, etwa fünfzehn Meilen davon entfernt, das den ziemlich ungewöhnlichen Namen Zu den Schellen und Narren trug. Zu seiner großen Erleichterung hörte er, dass Mr Harley Quin noch dort wohnte. Keine Minute später stand er seinem Freund von Angesicht zu Angesicht gegenüber.

Mr Sattersway ergriff Mr Quins Hand und redete aufgeregt auf ihn ein. »Ich bin schrecklich durcheinander. Bitte, helfen Sie mir! Obwohl ich das entsetzliche Gefühl habe, dass es bereits zu spät ist. Dass das reizende Mädchen als nächste dran ist. Sie ist eine anständige Person, durch und durch.«

»Wenn Sie mir erzählen würden«, erwiderte Mr Quin lächelnd, »worum es sich eigentlich handelt?«

Mr Sattersway blickte ihn vorwurfsvoll an. »Sie wissen es genau. Ich bin überzeugt, Sie wissen Bescheid. Aber ich werde es Ihnen erzählen.«

Er schilderte ihm seine Erlebnisse in Abbot’s Mede, und wie immer, wenn er mit Mr Quin zusammen war, machte ihm das Erzählen Spaß. Er sprach glänzend, anschaulich und war sehr genau, was die Einzelheiten betraf.

»Verstehen Sie«, sagte er zum Schluss. »Dafür muss es eine Erklärung geben.«

Er sah Mr Quin hoffnungsvoll an, ähnlich wie ein Hund seinen Herrn.

»Aber Sie sind es, der das Problem lösen muss, nicht ich«, erklärte Mr Quin. »Ich kenne die Leute gar nicht. Sie aber kennen sie!«

»Ich kannte die Barron-Mädchen vierzig Jahre«, sagte Mr Sattersway nicht ohne Stolz.

Mr Quin nickte mitfühlend, und etwas getröstet fuhr sein Gegenüber fort:

»Damals in Brighton, wirklich komisch, wie Bottacetti kenterte. Wir haben sehr gelacht. Mein Gott, war ich noch jung. Wir machten einen Haufen Dummheiten. Ich erinnere mich auch an die Zofe, die bei ihnen war. Sie hieß Alice, ein reizendes kleines Ding, sehr treuherzig. Ich küsste sie auf dem Hotelgang, und eine der beiden Schwestern hätte mich beinahe dabei erwischt. Ach, wie lange das her ist!«

Wieder schüttelte er den Kopf und seufzte. Dann sah er Mr Quin fragend an. »Sie können mir also nicht helfen?«, fragte er bekümmert. »Bei einer andern Gelegenheit…«

»Bei andrer Gelegenheit war der Erfolg ganz allein Ihr Verdienst«, erklärte Mr Quin würdevoll. »Diesmal wird es genauso sein. Wenn ich Sie wäre, würde ich jetzt nach Abbot’s Mede fahren.«

»Ganz recht, ganz recht«, rief Mr Sattersway. »Das hatte ich auch vor. Ich kann Sie nicht überreden, mitzukommen?«

Mr Quin schüttelte den Kopf. »Nein, meine Aufgabe hier ist beendet. Ich reise gleich ab.«

In Abbot’s Mede wurde Mr Sattersway sofort zu Margery Gale geführt. Sie saß im Frühstückszimmer am Schreibtisch und ordnete eine Menge Papiere. Ihre herzliche Begrüßung rührte ihn. Sie schien sich über seinen Besuch sehr zu freuen.

»Roley und Marcia sind gerade weggefahren. Ach, Mr Sattersway, es ist ganz anders, als die Ärzte glauben. Ich bin überzeugt, absolut überzeugt, dass meine Mutter unter Wasser gedrückt wurde. Sie wurde ermordet, und wer immer das ist – er will auch mich umbringen. Ich bin absolut sicher. Deshalb…« Sie wies auf das Blatt Papier vor sich.

»Ich habe mein Testament gemacht«, erklärte sie. »Eine Menge Geld und ziemlich viel Grundbesitz gehören nicht zum Titel. Außerdem ist da noch das Vermögen meines Vaters. Noel soll mein Alleinerbe sein. Ich weiß, er wird das Beste draus machen, und Roley traue ich nicht über den Weg. Er ist scharf auf alles, was er bekommen kann. Würden Sie den Zeugen machen?«

»Meine liebe junge Dame«, sagte Mr Sattersway. »Sie müssen in Gegenwart von zwei Zeugen unterzeichnen, die dann ebenfalls unterschreiben.«

Margery fegte diese rechtlichen Bedenken beiseite.

»Ich finde nicht, dass es auch nur die geringste Rolle spielt«, erwiderte sie. »Clayton sah, wie ich unterschrieb, dann setzte sie ihren Namen darunter. Ich wollte eigentlich gerade nach dem Butler läuten, doch Sie können es auch tun.«

Mr Sattersway äußerte keinen neuen Protest mehr. Er schraubte seinen Füllfederhalter auf. Gerade als er unterzeichnen wollte, fiel sein Blick auf einen Namen. Er hielt inne. Eine Flut von Erinnerungen überschwemmte ihn. Auf dem Testament stand der Name Alice Clayton.

Irgendetwas schien in seinen Gedanken an die Oberfläche kommen zu wollen. Alice Clayton… Im Zusammenhang mit ihr sollte er sich etwas Wichtiges ins Gedächtnis zurückrufen. Es hing mit Mr Quin zusammen. Mit etwas, das er vor gar nicht langer Zeit zu Mr Quin gesagt hatte.

Ah, jetzt hatte er es! Alice Clayton, das war ihr Name gewesen. »Ein reizendes kleines Ding« hatte er sie genannt. Die Leute änderten sich zwar, aber doch nicht so! Außerdem hatte die Alice Clayton, die er gekannt hatte, braune Augen. Das Zimmer schien sich um ihn zu drehen. Er tastete nach einem Stuhl und hörte wie aus weiter Ferne Margerys Stimme. Ängstlich fragte sie:

»Ist Ihnen nicht gut? Oh, was ist? Sicher sind Sie krank!«

Dann hatte er sich wieder gefasst. Er ergriff ihre Hand und sagte:

»Meine Liebe, jetzt ist mir alles klar. Sie müssen sich auf einen großen Schock gefasst machen. Die Frau, die Sie Clayton nennen, ist gar nicht Clayton. Die echte Alice Clayton ist bei dem Untergang der Uralia ertrunken.«

Margery starrte ihn entsetzt an. »Wer… wer ist sie denn dann?«

»Ich irre mich nicht! Ich kann mich nicht irren! Es ist die Schwester Ihrer Mutter, Beatrice Barron. Sie erzählten mir doch, dass sie von einem Stück Holz an den Kopf getroffen wurde. Ich glaube, dass sie durch diesen Schlag ihr Gedächtnis verlor und Ihre Mutter, als sie das merkte, ihre Chance ergriff und…«

»Und ihr das Erbe stahl, wollen Sie sagen«, ergänzte Margery bitter. »Ja, so etwas hätte sie tun können. Schrecklich, dass ich das sage, jetzt, nach ihrem Tod, doch ich glaube, dazu wäre sie fähig gewesen.«

»Beatrice ist die ältere«, erklärte Mr Sattersway. »Nachdem ihr Onkel gestorben war, hätte sie alles geerbt. Ihre Mutter wäre mit leeren Händen dagestanden. Ihre Mutter behauptete, die Verletzte sei ihre Zofe, statt zuzugeben, dass es ihre Schwester war. Das Mädchen erholte sich von dem Unfall und glaubte natürlich, was man ihr erzählte… dass sie nämlich Alice Clayton sei, die Zofe Ihrer Mutter. Wahrscheinlich regt sich ihr Gedächtnis seit Neuestem wieder, aber der Schlag von damals hat ihr Gehirn geschädigt.«

Margery sah ihn mit entsetzten Augen an. »Sie hat meine Mutter umgebracht und will auch mich töten!«, rief sie erschrocken.

»Anscheinend«, antwortete Mr Sattersway. »In ihrem Kopf war nur ein wirrer Gedanke… dass man ihr das Erbe stahl und Sie und Ihre Mutter es ihr vorenthielten.«

»Aber – aber Clayton ist schon so alt!«

Eine Vision stieg vor Mr Sattersways innerem Auge auf – das Bild der verwelkten alten Frau mit dem ordentlich gescheitelten grauen Haar und das des strahlenden blonden Geschöpfs im Sonnenschein von Cannes. Schwestern! War so etwas möglich? Er erinnerte sich an die Barron-Mädchen und wie ähnlich sie sich gesehen hatten. Nur weil sich ihr Leben in verschiedenen Richtungen entwickelt hatte…

Er schüttelte heftig den Kopf, immer noch gequält von dem Gedanken, wie viel Freude und Leid das Leben bescherte.

Dann sah er Margery an und meinte freundlich: »Gehen wir jetzt lieber hinauf.«

Sie fanden Clayton in ihrem kleinen Arbeitszimmer. Sie saß da und nähte. Bei ihrem Eintritt wandte sie nicht einmal den Kopf. Mr Sattersway entdeckte schnell, warum.

»Herzversagen«, murmelte er, während er die kalte, steife Schulter berührte.

»Vielleicht ist es besser so.«