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Mr Sattersway saß in seiner großen Opernloge im ersten Rang. Draußen an der Tür hing eine gedruckte Karte mit seinem Namen. Als Liebhaber und Kenner aller Künste hatte Mr Sattersway eine besondere Schwäche für gute Musik und gehörte zu den treuen Abonnenten von Covent Garden. Während der Saison hatte er stets für dienstags und freitags eine Loge gemietet.
Doch er saß nicht häufig allein dort, wie im Augenblick. Er war ein geselliger kleiner Mann und liebte es, seine Loge mit der Elite aus aller Welt zu füllen, zu der auch er gehörte, und mit dem Adel der Kunst, bei dem er ebenfalls zuhause war. Heute Abend war er allein, weil ihn eine Gräfin versetzt hatte. Diese Gräfin war nicht nur eine gefeierte Schönheit, sondern auch eine gute Mutter. Ihre Kinder hatten eine sehr profane und unangenehme Krankheit, nämlich Mumps, und sie wachte zuhause, in besorgtem Gespräch mit den Kinderschwestern in ihren makellos gestärkten Uniformen. Ihr Mann, der sie mit den eben erwähnten Kindern und einem Titel versorgt hatte, sonst aber eine völlige Null war, hatte die Gelegenheit genützt und war geflüchtet. Nichts langweilte ihn so wie Musik.
Deshalb war Mr Sattersway allein. Es wurde Cavalleria rusticana und Der Bajazzo gegeben, und da er Erstere nie gemocht hatte, traf er gerade ein, als der Vorhang nach Santuzzas tödlicher Ohnmacht fiel, und hatte noch Gelegenheit, mit geübtem Blick die Zuschauer im Saal zu mustern, ehe sie zu den Ausgängen strömten, um Bekannte zu begrüßen oder Kaffee oder Limonade zu ergattern. Mr Sattersway stellte seinen Operngucker scharf ein, blickte durch das Haus und steuerte zur Tür, nachdem er ein Gesprächsopfer entdeckt hatte, im Kopf einen genauen Angriffsplan, den er jedoch nicht mehr ausführen konnte. Denn genau vor seiner Loge stieß er mit einem großen dunklen Mann zusammen, in welchem er zu seiner Freude Mr Quin erkannte.
»Mr Quin!«, rief er aufgeregt.
Er ergriff die Hand seines Freundes und hielt sie so fest, als fürchte er, dass er sich jeden Augenblick in Luft auflösen könne. »Sie müssen zu mir in die Loge kommen«, sagte er energisch. »Sie sind doch nicht in Begleitung hier?«
»Nein. Ich bin allein und sitze im Parkett«, antwortete Mr Quin mit einem Lächeln.
»Dann ist ja alles klar«, sagte Mr Sattersway und seufzte erleichtert.
Ein Beobachter hätte sein Benehmen sicherlich komisch gefunden. Aber es beobachtete ihn niemand.
»Sie sind sehr freundlich«, sagte Mr Quin.
»Nein, gar nicht. Es ist mir ein Vergnügen. Ich wusste nicht, dass Sie Opernliebhaber sind.«
»Es gibt gewisse Gründe, warum mir Der Bajazzo gefällt.«
»Ja, natürlich«, sagte Mr Sattersway und nickte weise, obwohl er, wenn man ihn gefragt hätte, nicht hätte erklären können, warum er gerade dieses Wort benützte. »Natürlich!«, wiederholte er.
Beim ersten Klingelzeichen kehrten sie in die Loge zurück und beobachteten, über die Brüstung gelehnt, wie die Zuschauer in den Saal kamen.
»Was für ein schöner Kopf«, bemerkte Mr Sattersway plötzlich.
Er deutete mit seinem Opernglas auf einen Sitz im Parkett, direkt unter ihnen. Ein Mädchen saß dort, deren Gesicht sie nicht sehen konnten, nur das helle Gold ihres Haares, das wie eine Kappe anlag und mit dem weißen Nacken zu verschmelzen schien.
»Ein griechischer Kopf«, sagte Mr Sattersway ehrfürchtig. »Reines Griechisch.« Er seufzte glücklich. »Eine bemerkenswerte Sache, wenn man einmal darüber nachdenkt – wie wenig Leute Haare haben, die zu ihnen passen.«
»Sie sind ein guter Beobachter«, antwortete Mr Quin.
»Ja, ich sehe viel«, gab Mr Sattersway zu. »Ich habe ein scharfes Auge. Zum Beispiel fiel mir dieser Kopf sofort auf. Wir müssen unbedingt auch ihr Gesicht sehen. Aber ich bin überzeugt, es wird nicht zum Haar passen. Eine Möglichkeit unter tausend.«
Noch während er sprach, begannen die Lichter allmählich schwächer zu werden, und dann erloschen die Lampen ganz. Der Dirigent klopfte ab, und die Oper begann. Ein neuer Tenor, angeblich ein zweiter Caruso, sang an diesem Abend. In den Zeitungen war er in schöner Widersprüchlichkeit als Jugoslawe, Tschechoslowake, Albaner, Ungar und Bulgare bezeichnet worden. Er hatte in der Albert Hall ein außergewöhnliches Konzert gegeben, ein Programm von Volksliedern aus seinen heimatlichen Bergen, mit einem dafür besonders gestimmten Orchester. Die Lieder bestanden aus einer Folge von seltsamen Halbtönen, und die Leute, die sich für sachverständig hielten, waren begeistert gewesen. Die Kritiker hatten mit ihrer Meinung hinterm Berg gehalten, weil sie fanden, dass sich das Ohr erst an diese Lieder gewöhnen müsse, ehe man sie beurteilen könne. Einige Opernbesucher waren sehr erleichtert, als sie feststellten, dass Joaschbim an diesem Abend in ganz gewöhnlichem Italienisch sang, mit dem üblichen Schluchzen und Beben.
Der Vorhang fiel nach dem ersten Akt, und heftiger Beifall brandete auf. Mr Sattersway blickte Mr Quin an und merkte, dass dieser auf seine Meinung gespannt war. Mr Sattersway warf sich in die Brust. Schließlich kannte er sich aus. Als Kritiker war er beinahe unfehlbar. Bedächtig nickte er. »Das war erstklassig«, bemerkte er.
»Finden Sie?«
»Eine Stimme wie Caruso. Die Leute werden es nicht sofort merken, weil seine Technik noch nicht perfekt ist. Gewisse raue Kanten müssen noch abgeschliffen werden, manchmal ist er unsicher. Aber die Stimme ist da – herrlich!«
»Ich war bei seinem Konzert in der Albert Hall«, sagte Mr Quin.
»Ach, tatsächlich? Ich war verhindert.«
»Das Hirtenlied war besonders schön.«
»Ich habe darüber gelesen«, antwortete Mr Sattersway. »Der Refrain endet mit einer hohen Note, einer Art Schrei. Zwischen a-Moll und b-Moll. Sehr seltsam.«
Joaschbim war dreimal vor den Vorhang gerufen worden; er verneigte sich lächelnd. Das Licht ging an, und die Zuschauer drängten hinaus. Mr Sattersway beugte sich vor, um das Mädchen mit dem goldblonden Haar zu betrachten. Sie stand auf, strich ihren Schal zurecht und wandte sich um.
Mr Sattersway hielt den Atem an. Ja, dachte er, solche Gesichter gab es – Gesichter, die Geschichte machten…
Das Mädchen trat in den Gang, gefolgt von ihrem Begleiter, einem jungen Mann. Mr Sattersway bemerkte, wie alle Männer in ihrer Nähe sie ansahen und sie heimlich weiter beobachteten.
Schönheit!, dachte Mr Sattersway. Ja, so etwas gibt es! Nicht Charme, noch Reiz oder Anziehungskraft oder irgendetwas Ähnliches, über das wir heutzutage so viel reden, sondern reine Schönheit. Die Form eines Gesichts, die Linie einer Braue, der Schwung eines Kinns. In Gedanken zitierte er die Zeile: »Ein Gesicht, das tausend Schiffe in Bewegung bringt.« Und zum ersten Mal verstand er, was diese Worte wirklich bedeuteten.
Er sah Mr Quin an, der ihn mit solchem schweigenden Einverständnis betrachtete, dass Mr Sattersway jedes erklärende Wort überflüssig zu sein schien.
»Ich habe mich schon immer gefragt«, sagte er nur, »wie solche Frauen wirklich sind.«
»Was meinen Sie damit?«
»Frauen, so schön wie Helena, Cleopatra, Maria Stuart.«
Mr Quin nickte nachdenklich. »Wenn wir hinausgehen«, schlug er vor, »werden wir es vielleicht herausfinden.«
Sie verließen die Loge, und ihre Suche hatte Erfolg. Das Paar saß auf einem Sofa in einem der Gänge. Nun konnte Mr Sattersway auch den Begleiter der jungen Frau genauer in Augenschein nehmen, einen dunklen jungen Mann, nicht besonders gut aussehend, doch es war eine gewisse Rastlosigkeit an ihm. Ein Gesicht mit vielen seltsamen Konturen – kräftigen Backenknochen, einem energischen, leicht gebogenen Kinn, tiefliegenden Augen, die wegen der dunklen dichten Brauen seltsam hell wirkten.
Ein interessantes Gesicht, dachte Mr Sattersway. Kein Durchschnittsgesicht! Es hat etwas Gewisses.
Der junge Mann beugte sich vor und sprach ernst auf das Mädchen ein. Sie lauschte aufmerksam. Beide gehörten nicht zu Mr Sattersways Welt. Vermutlich Künstler, überlegte Mr Sattersway. Das Mädchen trug ein ziemlich formloses Gewand aus billiger grüner Seide. Ihre Schuhe waren aus schmutzigem weißem Satin. Der junge Mann steckte in einem Smoking und schien sich darin nicht sehr wohl zu fühlen.
Die beiden Männer gingen mehrmals an ihnen vorbei. Als sie zum vierten Mal an ihnen vorüberschritten, hatte sich eine dritte Person zu dem Paar gesellt, ein blonder junger Mann, der wie ein Angestellter wirkte. Sein Auftauchen schien eine gewisse Spannung auszulösen. Der Neuankömmling spielte nervös mit seiner Fliege und fühlte sich offensichtlich unbehaglich. Das Mädchen blickte ernst zu ihm auf, und ihr Begleiter machte ein wütendes Gesicht.
»Die übliche Geschichte«, bemerkte Mr Quin leise im Vorbeigehen zu Mr Sattersway.
»Ja.« Mr Sattersway seufzte. »Vermutlich ist so etwas unvermeidlich. Zwei Hunde, die sich um einen Knochen zanken. So war es immer, und so wird es auch bleiben. Und trotzdem wünscht man sich manchmal, dass es anders wäre. Schönheit…« Er brach ab. Schönheit war für Mr Sattersway etwas Besonderes, Wunderbares. Es fiel ihm schwer, darüber zu reden. Er sah Mr Quin an, der verständnisvoll nickte.
Sie kehrten in ihre Loge zurück, um sich den zweiten Akt anzusehen.
Nach dem Ende der Aufführung sagte Mr Sattersway zu seinem Freund: »Es ist ein regnerischer Abend. Mein Wagen wartet. Erlauben Sie mir, Sie irgendwohin…« Er hüstelte und schwieg.
Das letzte Wort hatte Mr Sattersway aus Taktgefühl gesagt. »Nachhause«, würde in seinen Ohren zu sehr nach Neugierde geklungen haben. Mr Quin war immer sehr verschwiegen gewesen. Mr Sattersway wusste außergewöhnlich wenig von ihm.
»Aber vielleicht«, fuhr der kleine Mann fort, »haben Sie auch einen Wagen?«
»Nein«, antwortete Mr Quin. »Ich habe keinen.«
»Dann…«
Mr Quin schüttelte den Kopf. »Sie sind sehr freundlich«, sagte er. »Aber ich möchte lieber meiner eigenen Wege gehen. Außerdem«, fügte er mit einem seltsamen Lächeln hinzu, »wenn etwas passieren sollte, ist es an Ihnen zu handeln. Gute Nacht und vielen Dank. Wieder einmal haben wir ein Drama gemeinsam erlebt.«
Er verschwand so rasch, dass Mr Sattersway keine Zeit fand, dagegen zu protestieren. Er blieb mit einem leicht unbehaglichen Gefühl zurück. Was für ein Drama hatte Mr Quin gemeint? Den Bajazzo oder etwas anderes?
Masters, Mr Sattersways Chauffeur, wartete wie immer in einer Seitenstraße. Sein Herr hasste das lange Warten vor der Oper, während die Wagen einer nach dem andern vorfuhren. Wie schon viele Male vorher ging Mr Sattersway diese Straße entlang. Vor ihm schritten eine Frau und ein Mann, und gerade, als er sie erkannte, trat ein weiterer Mann auf sie zu.
Es passierte alles in einer Minute. Eine laute wütende Männerstimme, eine zweite Männerstimme, die beleidigt protestierte, dann ein Handgemenge, Schläge, ärgerliches Keuchen, mehr Schläge, die Gestalt eines Polizisten, der würdevoll wie aus dem Nichts auftauchte – und keinen Augenblick später stand Mr Sattersway bei dem Mädchen, das entsetzt an eine Hauswand zurückgewichen war.
»Erlauben Sie«, sagte er. »Sie dürfen hier nicht bleiben.«
Er nahm sie beim Arm und steuerte sie rasch die Straße entlang. Sie blickte nur einmal kurz zurück.
»Sollte ich nicht…«, begann sie unsicher.
Mr Sattersway schüttelte den Kopf. »Es wäre viel zu unangenehm für Sie. Vermutlich würde man Sie bitten, zum Revier mitzukommen. Ich bin sicher, dass keiner Ihrer… Freunde dies wünscht.«
Er blieb stehen. »Da ist mein Wagen. Wenn Sie erlauben, bringe ich Sie nachhause. Es wäre mir ein Vergnügen.«
Das Mädchen musterte ihn. Mr Sattersways Würde und Ehrbarkeit beeindruckten sie. Sie neigte den Kopf.
»Vielen Dank«, sagte sie und stieg in den Wagen, dessen Tür Masters für sie aufhielt.
Als Antwort auf Mr Sattersways Frage nannte sie eine Adresse in Chelsea. Mr Sattersway setzte sich neben sie in den Fond.
Das Mädchen war nervös und nicht in Stimmung, sich zu unterhalten, und Mr Sattersway war so taktvoll, sich ihr nicht aufzudrängen. Plötzlich wandte sie sich ihm zu und sagte ärgerlich: »Ich wünschte, die Leute würden sich nicht immer so dumm benehmen.«
»Ja, es ist schlimm«, stimmte Mr Sattersway zu.
Seine sachliche Art beruhigte sie, und sie sprach weiter, als hätte sie das Bedürfnis, sich jemandem anzuvertrauen. »Es war nicht so, dass ich… ich meine, Mr Eastney und ich sind schon lange Zeit befreundet. Seit ich nach London kam. Er hat sich mit meiner Stimme unendlich viel Mühe gegeben und mir gute Verbindungen besorgt. Er ist so freundlich zu mir gewesen. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr! Er ist völlig verrückt auf die Oper. Es war sehr nett von ihm, mich heute Abend mitzunehmen. Ich bin überzeugt, er kann es sich eigentlich nicht leisten. Dann erschien Mr Bums und unterhielt sich mit uns, wirklich sehr höflich, aber Phil, ich meine, Mr Eastney wurde wütend. Er hatte gar keinen Grund dazu. Dies ist schließlich ein freies Land, oder etwa nicht? Und Mr Burns ist so freundlich und gut erzogen. Dann, als wir zur U-Bahn gingen, schloss er sich uns an, und er hatte noch keine zwei Worte gesagt, als Philip wie ein Verrückter auf ihn einschlug. Und… ach, es gefällt mir gar nicht!«
»Wirklich?«, fragte Mr Sattersway sehr freundlich.
Sie errötete, allerdings nur ein wenig. Sie war nicht kokett, sondern es machte ihr einfach Spaß, dass zwei Männer sich um sie stritten, was nur natürlich war, dachte Mr Sattersway. Doch er stellte auch fest, dass ihre Gefühle von Erstaunen und Beunruhigung überlagert waren. Ihre nächste Bemerkung war deshalb für ihn sehr aufschlussreich.
»Hoffentlich wurde er nicht verletzt«, sagte sie.
Na, wen meint sie da?, überlegte Mr Sattersway und lächelte in der Dunkelheit in sich hinein.
Er wollte wissen, ob er Recht hatte, und fragte: »Sie meinen, dass Mr… hm… Eastney Mr Burns nicht verletzt hat?«
Sie nickte. »Ja. Es ist alles so schrecklich. Ich wünschte… ich wünschte, ich hätte Klarheit.«
Der Wagen hielt an der angegebenen Adresse.
»Haben Sie Telefon?«, fragte Mr Sattersway.
»Ja.«
»Wenn Sie wollen, erkundige ich mich und rufe Sie dann an.«
Das Gesicht des Mädchens hellte sich auf. »Ach, das – wäre schön. Macht es Ihnen auch nicht zu viel Mühe?«
»Überhaupt nicht.«
Sie bedankte sich und gab ihm ihre Telefonnummer. Scheu fügte sie hinzu: »Übrigens, ich heiße Gillian West.«
Während er durch die nächtliche Stadt fuhr, um seinen Auftrag auszuführen, lag ein kleines Lächeln um Mr Sattersways Lippen. Mehr steckt also nicht dahinter, dachte er. Die Form eines Gesichts, die Linie eines Kinns…
Aber er hielt sein Versprechen.
Am nächsten Sonntagnachmittag fuhr Mr Sattersway zum Kew Gardens, um den blühenden Rhododendron zu bewundern. Vor vielen Jahren – es schien Mr Sattersway unglaublich lange her zu sein – war er mit einer gewissen jungen Dame in den Kew Gardens gegangen, um die Sternhyazinthen zu betrachten. Vorher hatte Mr Sattersway sich in Gedanken genau überlegt, mit welchen Worten er um ihre Hand anhalten wollte. Er ging seine Rede im Kopf gerade noch einmal durch und antwortete auf ihre begeisterten Rufe über die Sternhyazinthen nur sehr wortkarg, als der Schock kam. Die junge Dame schwieg plötzlich und vertraute Mr Sattersway – ihrem wahren Freund – an, dass sie sich verliebt habe. Mr Sattersway vergaß die kleine vorbereitete Ansprache und kramte hastig in der untersten Schublade seines Gedächtnisses nach den passenden verständnisvollen Worten.
Das war Mr Sattersways ganze Romanze gewesen, eher eine scheue altmodische Liebesepisode, und deshalb dachte er immer mit einer gewissen Wehmut an Kew Gardens und pflegte häufig hinzugehen, um die Sternhyazinthen zu betrachten, oder den Rhododendron, wenn er länger als gewöhnlich verreist gewesen war. Dann seufzte er und wurde sentimental und genoss den Ausflug sehr, auf eine altmodische, romantische Weise.
An diesem besonderen Nachmittag schlenderte er gerade am Teehaus vorbei, als er ein junges Paar entdeckte, das an einem der kleinen Tische saß. Es waren Gillian West und der blonde junge Mann. Sie sahen ihn im gleichen Augenblick. Das Mädchen errötete und sprach eifrig auf ihren Begleiter ein. Einen Moment später schüttelte Mr Sattersway ihnen auf seine korrekte, ziemlich energische Art die Hand und nahm die etwas scheu vorgetragene Einladung zum Tee dankend an.
»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, Sir«, begann Mr Burns, »wie dankbar ich Ihnen bin, dass Sie sich an jenem Abend so freundlich um Gillian gekümmert haben. Sie hat mir alles erzählt.«
»Ja«, sagte Gillian. »Es war wirklich sehr gütig von Ihnen.«
Mr Sattersway freute sich, denn das Paar interessierte ihn. Die Naivität und Aufrichtigkeit fand er beeindruckend. Außerdem tat er einen Blick in eine Welt, die er nicht gut kannte.
Auf seine vertrocknete zurückhaltende Art konnte Mr Sattersway sehr sympathisch sein. Bald erfuhr er mehr von seinen neuen Freunden. Er stellte fest, dass aus Mr Burns bereits Charlie geworden war, und es erstaunte ihn nicht sehr, als er hörte, dass die beiden verlobt waren.
»Offen gestanden«, sagte Mr Burns mit erfrischender Aufrichtigkeit, »ist es erst heute Nachmittag passiert, nicht wahr, Gil?«
Burns war bei einer Reederei angestellt und verdiente ganz ordentlich. Außerdem besaß er etwas Vermögen, und die beiden wollten bald heiraten.
Mr Sattersway hörte aufmerksam zu, nickte und gratulierte.
Ein durchschnittlicher junger Mann, dachte er. Ein sehr durchschnittlicher junger Mann. Netter, ehrlicher Bursche, vieles spricht für ihn: hat eine gute Meinung von sich, ohne eingebildet zu sein; sieht anständig aus, aber nicht übertrieben. Nichts Außergewöhnliches an ihm dran. Hat das Pulver nicht erfunden. Und das Mädchen liebt ihn.
»Und Mr Eastney?«, fragte er.
Er sagte absichtlich nicht mehr, doch wie er erwartet hatte, tat der Name seine Wirkung. Charlie Burns’ Gesicht verdunkelte sich, und Gillian machte eine besorgte Miene. Eigentlich war sie mehr als besorgt, dachte Mr Sattersway. Offensichtlich fürchtete sie sich.
»Ich habe kein gutes Gefühl«, sagte Gillian leise. Ihre Worte galten Mr Sattersway, als wüsste sie ganz instinktiv, dass er ihre Zweifel verstehen würde, im Gegensatz zu ihrem Verlobten. »Wissen Sie… er hat eine Menge für mich getan. Er hat mich dazu ermutigt, Gesangsunterricht zu nehmen, und… und mir immer wieder geholfen. Dabei wusste ich genau, dass meine Stimme nicht ausreicht, nicht erstklassig ist. Natürlich hatte ich Engagements…« Sie schwieg.
»Aber du hattest auch ganz schöne Schwierigkeiten«, sagte Burns. »Ein Mädchen braucht jemand, der sich um sie kümmert. Gillian hatte eine Menge unerfreulicher Erlebnisse, Mr Sattersway. Alles in allem ziemlich viele. Sie sieht gut aus, wie Sie selbst feststellen können, und das… na ja, da gerät ein Mädchen oft in Schwierigkeiten.«
Mr Sattersway erfuhr von verschiedenen Vorfällen, die Burns vage als »unerfreuliche Erlebnisse« einstufte. Da war der junge Mann gewesen, der sich erschoss; der Bankdirektor – ein verheirateter Mann! –, der sich höchst seltsam benommen hatte; der gewalttätige Fremde und der wütende ältere Künstler. Eine Spur von Gewalttätigkeit und Tragödien hatte sich durch Gillian Wests Leben gezogen, was Charlie Burns in nüchternem Ton bestätigte. »Und meiner Meinung nach«, schloss er, »ist dieser Eastney etwas verrückt. Gillian hätte Schwierigkeiten mit ihm gekriegt, wenn ich nicht aufgetaucht wäre, um mich um sie zu kümmern.«
Sein Lachen klang etwas einfältig, fand Mr Sattersway, und das Mädchen lächelte nicht. Sie sah Mr Sattersway ernst an.
»Phil ist in Ordnung«, sagte sie langsam. »Er mag mich, das weiß ich, und ich mag ihn auch, wie einen Freund… aber… aber nicht mehr! Ich habe keine Ahnung, wie er die Neuigkeit aufnehmen wird. Er… ich fürchte, er wird…«
Sie schwieg, weil ein Gefühl von drohendem Unheil, das sie nicht näher erklären konnte, ihr den Mund schloss.
»Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann«, sagte Mr Sattersway herzlich. »Bitte, verfügen Sie über mich.«
Ihm schien, dass Charlie Burns etwas verächtlich das Gesicht verzog, doch Gillian sagte spontan: »Herzlichen Dank, Mr Sattersway.«
Mr Sattersway verließ seine neuen Freunde, nachdem er Gillian versprochen hatte, am nächsten Donnerstag bei ihr Tee zu trinken.
Am Donnerstag war Mr Sattersway aufgeregt und von angenehmer Vorfreude erfüllt. Ich bin zwar ein alter Mann, dachte er, aber nicht so alt, dass mich nicht ein schönes Gesicht begeistern könnte. Ein Gesicht… Dann schüttelte er ahnungsvoll den Kopf.
Gillian war allein. Charlie Burns wollte später nachkommen. Sie wirkte viel glücklicher, stellte Mr Sattersway fest, als sei ihr ein Stein von der Seele genommen. Sie gab dies auch sofort offen zu.
»Ich hatte Angst, Phil von Charlie zu erzählen. Es war sehr dumm von mir. Ich hätte Phil besser kennen müssen. Natürlich regte es ihn auf, aber er hätte es nicht netter aufnehmen können. Er war richtig süß. Sehen Sie, was er mir heute Vormittag geschickt hat: ein Hochzeitsgeschenk. Ist es nicht großartig?«
Es war tatsächlich für einen jungen Mann in Philip Eastneys Verhältnissen ein großartiges Geschenk: ein Radiogerät neuesten Typs.
»Wir lieben beide die Musik so sehr, verstehen Sie«, erklärte Gillian. »Phil meinte, wenn ich mir ein Konzert im Radio anhöre, würde ich dabei immer auch an ihn denken. Ich glaube, er hat Recht. Denn wir sind so gute Freunde gewesen.«
»Sie können stolz auf ihn sein«, antwortete Mr Sattersway. »Offenbar ist er ein guter Verlierer.«
Gillian nickte. Mr Sattersway stellte fest, dass ihr Tränen in die Augen stiegen.
»Er bat mich nur noch um eine kleine Gefälligkeit. Heute Abend jährt sich der Tag, an dem wir uns kennen lernten. Er bat mich, zuhause zu bleiben und Radio zu hören und nicht mit Charlie auszugehen. Natürlich habe ich es ihm versprochen. Ich war sehr gerührt und sagte, ich würde mit großer Zuneigung und Dankbarkeit an ihn denken.«
Mr Sattersway nickte. Er war etwas verblüfft. Es passierte ihm selten, dass er sich in der Einschätzung eines Menschen täuschte, und er hätte Philip Eastney einer derart sentimentalen Bitte nicht für fähig gehalten. Der junge Mann musste noch banaler sein, als er angenommen hatte. Offensichtlich fand Gillian nichts dabei. Mr Sattersway war ein wenig – ein ganz klein wenig – enttäuscht. Er war selbst ein gefühlvoller Mensch und wusste es, doch vom Rest der Welt erwartete er Besseres. Außerdem passten Gefühle zu Menschen seiner Generation. Doch in der modernen Zeit spielten sie keine Rolle mehr.
Er bat Gillian zu singen, und sie willigte ein. Er machte ihr ein Kompliment über ihre Stimme, doch er wusste genau, dass sie nur zweitklassig war. Allen Erfolg, den sie in ihrem Beruf haben würde, würde sie ihrem Gesicht zu verdanken haben, nicht ihrer Stimme. Er war nicht besonders scharf darauf, den jungen Burns so bald wiederzusehen. In diesem Augenblick wurde seine Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand auf dem Kaminsims gelenkt, der von dem übrigen, ziemlich wertlosen Zeug abstach wie ein Diamant von einem Abfallhaufen.
Es war ein bauchiger Pokal aus dünnem grünem Glas. Auf seinem Rand ruhte eine schillernde Kugel, die wie eine große Seifenblase aussah. Gillian bemerkte Mr Sattersways Begeisterung.
»Das ist noch ein Hochzeitsgeschenk von Phil. Ich finde ihn sehr hübsch. Er arbeitet in einer Art Glasfabrik.«
»Ein wunderschönes Glas«, sagte Mr Sattersway andächtig. »Die Glasbläser von Murano könnten stolz darauf sein.«
Mit neu erwachtem Interesse an Philip Eastney verließ Mr Sattersway die Wohnung. Ein außergewöhnlicher junger Mann. Und trotzdem zog das Mädchen mit dem herrlichen Gesicht Charlie Burns vor. Was für seltsame und unerforschliche Wege des Schicksals.
Mr Sattersway kam in den Sinn, dass der Abend mit Mr Quin nicht so anregend wie sonst verlaufen war, weil Gillian Wests Schönheit ihr Hauptgesprächsthema gewesen war. Gewöhnlich hatte eine Begegnung mit dem geheimnisvollen Mann immer ein seltsames, unerwartetes Ereignis zur Folge. In der Hoffnung, den geheimnisvollen Freund zu treffen, lenkte Mr Sattersway seine Schritte zum Restaurant Arlecchino, wo er Mr Quin schon einmal gefunden hatte. Mr Quin war dort Stammgast.
Mr Sattersway wanderte durch die Räume des Restaurants und hielt hoffnungsvoll nach ihm Ausschau, konnte aber das dunkle lächelnde Gesicht nirgends entdecken. Dafür entdeckte er jemand anders. An einem kleinen Tisch für sich allein saß Philip Eastney.
Das Restaurant war ziemlich voll, und so nahm Mr Sattersway dem jungen Mann gegenüber Platz. Plötzlich stieg in ihm ein Gefühl der Vorfreude auf, als sei er in ein Gewebe von aufregenden Ereignissen verstrickt. Er steckte mitten drin – was immer es auch war. Jetzt wusste er, was Mr Quin an jenem Abend in der Oper gemeint hatte. Irgendein Drama spielte sich ab, und Mr Sattersway spielte eine Rolle dabei, eine wichtige Rolle. Er durfte sein Stichwort nicht versäumen.
Er saß Philip Eastney mit dem Gefühl gegenüber, dass er das Rad des Schicksals nicht aufhalten konnte. Es war sehr leicht, ein Gespräch zu beginnen. Eastney schien sich gern zu unterhalten. Wie immer war Mr Sattersway ein guter Zuhörer. Sie sprachen vom Krieg, von Waffen und Giftgasen. Eastney wusste über Letztere sehr genau Bescheid, da er im Krieg in einer Gasfabrik gearbeitet hatte. Mr Sattersway fand das Thema sehr fesselnd, und sie unterhielten sich eine Weile darüber.
Es existiere auch ein Gas, erzählte Eastney, das nie ausprobiert worden sei. Schon ein Hauch sei tödlich. Er wurde richtig lebhaft. Nachdem Mr Sattersway das Eis gebrochen hatte, lenkte er das Gespräch vorsichtig auf die Musik. Eastneys schmales Gesicht erhellte sich. Er redete mit der Begeisterung und dem Eifer des wahren Musikfreundes. Als das Thema auf Joaschbim kam, war der junge Mann kaum zu bremsen. Er und Mr Sattersway stimmten darin überein, dass nichts auf Erden über eine wirklich schöne Tenorstimme gehe.
»Wissen Sie eigentlich, dass Caruso ein Weinglas zersingen konnte?«, fragte Eastney.
»Ich dachte, das sei eine Fabel«, antwortete Mr Sattersway.
»Nein, es soll wirklich wahr sein. So etwas ist durchaus möglich. Es ist eine Frage der Resonanz.«
Er vertiefte sich in die technischen Details. Sein Gesicht war gerötet, die Augen glänzten. Das Thema schien ihn zu faszinieren, und Mr Sattersway stellte fest, dass er gründliche Kenntnisse darüber besaß. Ein außergewöhnlicher Kopf, dachte Mr Sattersway, man könnte ihn beinahe als genial bezeichnen. Brillant, ungezügelt, unentschlossen, wohin er sich am Ende wenden sollte, aber zweifellos genial.
»Ich sollte mich schämen, dass ich soviel geredet habe«, sagte er, »aber es war wirklich ein glücklicher Zufall, der Sie heute Abend hierher führte. Ich… ich brauchte jemanden, mit dem ich mich unterhalten konnte.«
Er beendete seine Worte mit einem seltsamen kleinen Lachen.
Seine Augen blitzten immer noch vor unterdrückter Erregung. Trotzdem lag etwas Tragisches über ihm.
»Es war mir ein Vergnügen«, sagte Mr Sattersway. »Unsere Unterhaltung war sehr fesselnd und höchst aufschlussreich.«
Dann verbeugte er sich auf seine komische höfliche Art und verließ das Restaurant. Die Nacht war warm, und während er langsam die Straße entlangging, überkam ihn ein höchst seltsames Gefühl. Plötzlich bildete er sich ein, nicht mehr allein zu sein – dass jemand neben ihm ging. Vergebens versuchte er sich klarzumachen, dass es Einbildung sei. Die Vorstellung blieb. Jemand schritt neben ihm die dunkle stille Straße entlang, jemand, den er nicht sehen konnte. Er fragte sich, warum er an Mr Quin denken musste. Sein Bild stand deutlich vor seinem inneren Auge. Er konnte spüren, dass Mr Quin neben ihm war, und doch brauchte er nur seine Augen zu benützen, um festzustellen, dass es nicht stimmte und er allein war.
Aber der Gedanke an Mr Quin ließ ihn nicht los, und noch etwas anderes beschäftigte ihn, er spürte eine Unruhe, eine bedrückende Vorahnung kommenden Unheils. Er musste etwas unternehmen, und zwar rasch. Aber was? Irgendetwas stimmte nicht, und es lag an ihm, die Sache in Ordnung zu bringen.
Das Gefühl war so stark, dass Mr Sattersway den Kampf aufgab. Statt dessen schloss er die Augen und versuchte, sich das Bild Mr Quins noch genauer ins Gedächtnis zu rufen. Wenn er ihn doch hätte fragen können! Noch während ihm diese Überlegung in den Sinn kam, wusste er, dass sie falsch war. Es hatte nie einen Zweck gehabt, Mr Quin Fragen zu stellen. »Sie halten alle Fäden in der Hand…« Genau das würde Mr Quin zu ihm sagen.
Wieso Fäden? Sorgfältig analysierte er sein Gefühl, seinen Eindruck. Er spürte, dass Gefahr in der Luft lag. Aber wer war in Gefahr?
Sofort sah er eine Szene vor sich: Gillian West, wie sie vor ihrem Radio saß.
Mr Sattersway warf einem vorbeikommenden Zeitungsjungen eine Münze zu und nahm sich ein Exemplar. Dann schlug er das Radioprogramm nach. Heute Abend gab es eine Sendung mit Joaschbim, stellte er voll Interesse fest. Er würde Salve Dimora aus dem Faust singen, und dann mehrere Volkslieder: das Hirtenlied, Der Fisch, Das kleine Reh und noch anderes.
Mr Sattersway knüllte die Zeitung zusammen. Jetzt wusste er, was Gillian sich anhören würde, und das machte das Bild noch klarer. Sie würde dasitzen, allein…
Ein seltsamer Wunsch, den Philip Eastney da geäußert hatte. Sieht ihm gar nicht ähnlich! Passt überhaupt nicht zu dem Mann. Er war kein empfindsamer Mensch, eher gewalttätig, gefährlich…
Ein neuer Gedanke durchzuckte Mr Sattersway. Eastney war ein gefährlicher Mann – das hatte etwas zu bedeuten. »Sie halten alle Fäden in den Händen…« Dass er Philip Eastney heute Abend getroffen hatte – wirklich seltsam! Einen glücklichen Zufall hatte Eastney es genannt. War es denn ein Zufall? Oder passte diese Begegnung nicht eher genau zu den vielfältigen Ereignissen des Tages, zwischen denen offenbar ein Zusammenhang zu bestehen schien, wie er ein- oder zweimal am Abend zu spüren geglaubt hatte?
Mr Sattersway versuchte, sich zu erinnern. Eastney musste irgendetwas Wichtiges gesagt haben. Warum hatte er sonst dieses unbezwingbare Gefühl, dass er sich beeilen sollte? Über was hatten sie sich unterhalten? Über Gesang, Kriegseinsatz, Caruso.
Caruso! Mr Sattersways Gedanken schweiften ab. Joaschbims Stimme war fast so gut wie die Carusos. Gillian würde jetzt vor dem Radio sitzen und dieser Stimme lauschen, die strahlend und voll durch den Raum klang und Glas zum Klingen bringen konnte…
Mr Sattersway hielt den Atem an. Glas! Caruso hatte angeblich Weingläser zersungen! Joaschbim sang in einem Londoner Studio, und mehr als eine Meile entfernt zerbrach ein Glas. Kein Weinglas, sondern ein Pokal aus feinem grünem Glas. Eine kristallene Seifenblase fiel herab, eine Seifenblase, die vielleicht nicht leer war…
Das war der Augenblick, in dem Mr Sattersway durchdrehte, wie ein paar Passanten glaubten, die ihn zufällig beobachteten. Er blätterte hastig in der Zeitung, warf einen raschen Blick auf das Radioprogramm und rannte die stille Straße entlang, als sei der Teufel hinter ihm her. Er fand ein Taxi, sprang hinein, schrie dem Fahrer die Adresse zu und rief, dass er so schnell wie möglich fahren solle, es ginge um ein Menschenleben. Der Fahrer hielt ihn für verrückt, aber reich, und tat sein Bestes.
Mr Sattersway lehnte sich zurück. In seinem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Bruchstücke von Dingen, die er in der Schule gelernt hatte, zuckten ihm durch den Kopf, Sätze, die Eastney am Abend gesagt hatte. Resonanz – Schwingungen, Überlagerungen von Frequenzen – irgendetwas mit einer Hängebrücke. Soldaten, die hinübermarschierten… wenn ihre Schritte die Brücke zum Schwingen brachten… Eastney hatte diese physikalischen Gesetze genau studiert. Eastney wusste Bescheid. Und er war ein Genie.
Um zehn Uhr fünfundvierzig sollte die Sendung beginnen. So spät war es jetzt genau. Ja, aber zuerst kam die Arie aus dem Faust. Es musste das Hirtenlied sein, mit dem Schrei nach dem Refrain, bei dem… ja, was eigentlich?
Seine Gedanken begannen sich wieder zu überschlagen… Töne, Obertöne, Halbtöne… Er wusste zu wenig von diesen Dingen. Doch Eastney war Fachmann. Mein Gott, hoffentlich kam er noch rechtzeitig!
Das Taxi hielt. Mr Sattersway sprang hinaus und stürzte wie ein junger Sprinter die Treppe zum ersten Stock hinauf. Die Wohnungstür war nur angelehnt. Er stieß sie auf, und die großartige Tenorstimme klang ihm entgegen. Er kannte die Verse, wenn er sie auch unter weniger außergewöhnlichen Umständen gehört hatte.
»Hirte, sieh die wehende Mähne deines Pferdes…«
Er kam also noch rechtzeitig. Er riss die Wohnungstür auf. Gillian saß in einem Sessel beim Kamin.
»Barya Mischas Tochter soll heut’ heiraten.
Zu der Hochzeit muss ich eilen…«
Sie musste ihn für verrückt halten. Er packte sie, schrie irgendetwas Unverständliches und zerrte sie aus dem Raum. Dann standen sie an der Treppe.
»Zu der Hochzeit muss ich eilen!
Ja-ha!«
Ein herrlicher strahlender Ton, mächtig, voll, ein Ton, auf den der Sänger stolz sein konnte. Und noch ein anderer Laut, das schwache Klirren von zerspringendem Glas.
Eine Katze schoss an ihnen vorbei und verschwand durch die Eingangstür. Gillian machte eine Bewegung, doch Mr Sattersway hielt sie zurück und stammelte dabei:
»Nein, nein… es ist tödlich. Kein Geruch, der Sie warnen könnte… Ein Hauch, und alles ist vorbei. Kein Mensch weiß genau, wie gefährlich es ist. Es wurde nie ausprobiert…«
Er berichtete, was Philip Eastney ihm beim Abendessen über dieses Gift erzählt hatte.
Gillian starrte ihn verständnislos an.
Philip Eastney warf einen Blick auf seine Taschenuhr. Es war genau halb zwölf. In der letzten drei viertel Stunde war er am Themseufer auf und ab gewandert. Er starrte über das Wasser und wandte sich um – vor ihm stand der Mann, mit dem er zu Abend gegessen hatte.
»Was für ein Zufall«, sagte er und lachte. »Es scheint heute Abend unser Schicksal zu sein, dass wir uns immer wieder begegnen.«
»Wenn Sie so etwas Schicksal nennen wollen«, antwortete Mr Sattersway.
Eastney blickte ihn forschend an, und seine Miene veränderte sich.
»Ja?«, sagte er ruhig.
Mr Sattersway kam sofort zur Sache. »Ich war gerade in Miss Wests Wohnung.«
»Ja?«
Der gleiche Tonfall, die gleiche tödliche Gelassenheit.
»Wir haben… wir haben eine tote Katze gefunden.«
Es folgte ein langes Schweigen. Dann fragte Eastney: »Wer sind Sie eigentlich?«
Da wurde Mr Sattersway gesprächig. In aller Ausführlichkeit schilderte er die Ereignisse.
»Und, wie Sie sehen, erschien ich noch rechtzeitig auf dem Schauplatz«, schloss er. Dann fügte er leise hinzu. »Haben Sie irgendetwas dazu zu sagen?«
Er erwartete einen Gefühlsausbruch, eine verrückte Rechtfertigung. Doch es kam nichts.
»Nein«, antwortete Philip Eastney schließlich, drehte sich auf dem Absatz um und ging davon.
Mr Sattersway blickte ihm nach, bis seine Gestalt von der Dunkelheit verschluckt wurde. Gegen seinen Willen spürte er ein gewisses Mitgefühl mit Eastney, die Bewunderung des Künstlers für einen andern Künstler, des empfindsamen Menschen für einen wahren Liebhaber, des einfachen Mannes für das Genie.
Mit einem Ruck rief er sich zur Ordnung und begann, in derselben Richtung wie Eastney weiterzugehen. Nebel kam vom Fluss herauf. Nach ein paar Schritten stieß er auf einen Polizisten, der ihn misstrauisch musterte.
»Haben Sie eben nicht gehört, wie irgendetwas ins Wasser klatschte?«, fragte der Polizist.
»Nein«, antwortete Mr Sattersway.
Der Polizist spähte über die dunkle Themse.
»Sicherlich ein Selbstmörder«, murmelte er betrübt. »Sie tun es immer wieder.«
»Ich nehme an«, erwiderte Mr Sattersway, »dass die Leute dafür ihre Gründe haben.«
»Meistens wegen Geld«, sagte der Polizist. »Manchmal auch wegen einer Frau«, fügte er, schon im Weggehen, hinzu. »Es ist ja immer ihre Schuld, aber manche Frauen können unglaubliche Schwierigkeiten verursachen.«
»Manche ja«, stimmte Mr Sattersway zu.
Nachdem der Polizist verschwunden war, setzte sich Mr Sattersway auf eine Bank. Während der Nebel immer dichter wurde, dachte er an die schöne Helena und grübelte darüber nach, ob sie wohl auch nur eine nette, durchschnittliche Frau gewesen war, mit einem herrlichen Gesicht, das ihr zum Fluch oder zum Segen geworden war…