176949.fb2
Mr Sattersway ging langsam die Bond Street entlang und genoss den Sonnenschein. Er war, wie üblich, sorgfältig und elegant gekleidet, und sein Ziel waren die Harchester Galleries, wo gerade die Bilder eines gewissen Frank Bristow ausgestellt waren, eines neuen und bislang unbekannten Künstlers, der plötzlich in Mode zu kommen schien. Mr Sattersway war ein Förderer der Künste.
Als Mr Sattersway die Galerie betrat, wurde er sofort mit einem Lächeln erfreuter Zufriedenheit begrüßt.
»Guten Morgen, Mr Sattersway. Ich habe Sie schon vor einiger Zeit erwartet. Kennen Sie Bristows Arbeiten? Hübsch – sehr hübsch sogar. In seiner Art ganz einmalig.«
Mr Sattersway erwarb einen Katalog und trat durch den Rundbogen in den langen Raum, wo die Arbeiten des Künstlers ausgestellt waren. Es waren Aquarelle von ungewöhnlicher Technik und Vollendung, sodass sie beinahe kolorierten Radierungen ähnelten. Mr Sattersway wanderte langsam an den Wänden entlang, betrachtete die Bilder prüfend und war insgesamt sehr angetan. Natürlich befanden sich auch unausgereifte Arbeiten darunter. Das war zu erwarten gewesen. Aber einiges grenzte doch beinahe an Genialität. Vor einem kleinen Meisterwerk, das die Westminster Bridge mit ihrem Gewimmel von Autobussen, Straßenbahnen und eiligen Fußgängern zeigte, blieb Mr Sattersway stehen: eine winzige Arbeit und auf wunderbare Weise vollkommen. Wie er feststellte, hieß das Bild Der Ameisenhaufen. Er ging weiter. Plötzlich hielt er den Atem an, sein Interesse war aufs Höchste gefesselt.
Das Bild hieß Der tote Harlekin. Im Vordergrund zeigte es einen Marmorfußboden, der aus eingelegten schwarzen und weißen Quadraten bestand. In der Mitte des Fußbodens lag ein Harlekin auf dem Rücken, die Arme ausgebreitet und in ein schwarzrotes Narrengewand gehüllt. Hinter ihm befand sich ein Fenster, und durch dieses Fenster blickte jemand auf die am Boden liegende Gestalt; allem Anschein nach war es derselbe Mann. Seine Silhouette hob sich vom roten Schein der untergehenden Sonne ab.
Dieses Bild erregte Mr Sattersway aus zwei Gründen: Einmal erkannte er das Gesicht des Mannes, der hier abgebildet war, zumindest glaubte er, es zu erkennen. Es hatte eine unverkennbare Ähnlichkeit mit Mr Quin, jenem Freund, dem Mr Sattersway immer unter etwas mysteriösen Umständen begegnet war.
»Ich kann mich unmöglich irren«, murmelte er. »Aber wenn es stimmt – was hat es zu bedeuten?«
Denn Mr Sattersways Erfahrung hatte gezeigt, dass Mr Quins Erscheinen immer etwas zu bedeuten hatte.
Mr Sattersways Interesse hatte jedoch, wie bereits erwähnt, noch einen zweiten Grund. Er erkannte den Schauplatz des Bildes wieder.
»Das Terrassenzimmer von Charnley«, sagte er. »Merkwürdig – und höchst interessant.«
Mit wachsender Aufmerksamkeit betrachtete er das Bild und überlegte, was sich der Künstler wohl dabei gedacht hatte. Der eine Harlekin tot auf dem Fußboden, ein zweiter Harlekin blickt durch das Fenster – oder war es derselbe Harlekin? Langsam ging er weiter an den Wänden entlang, schaute immer neue Bilder an, ohne sie eigentlich zu sehen, und immer kreisten seine Gedanken um dasselbe Thema. Er war erregt. Das Leben, das heute Morgen noch eintönig gewesen zu sein schien, war keineswegs mehr eintönig. Ganz genau wusste er, dass er auf der Schwelle zu erregenden und interessanten Ereignissen stand. Er ging zu dem Tisch hinüber, an dem Mr Cobb saß. Mr Cobb gehörte zu den angesehenen Mitgliedern der Galerie, und Mr Sattersway kannte ihn schon seit Jahren. »Ich würde gern die Nummer neununddreißig kaufen«, sagte er, »wenn sie nicht bereits verkauft ist.«
Mr Cobb blätterte in einem Verzeichnis.
»Das Beste von allen«, murmelte er, »eine wahre Kostbarkeit – finden Sie nicht auch? Nein, es ist noch nicht verkauft.« Er nannte einen Preis. »Eine gute Geldanlage, Mr Sattersway. In einem Jahr müssen Sie bestimmt das Dreifache dafür bezahlen.«
»Das heißt es bei solchen Gelegenheiten immer«, sagte Mr Sattersway lächelnd.
»Na, und habe ich nicht immer Recht behalten?«, fragte Mr Cobb. »Wenn Sie Ihre Sammlung verkauften, Mr Sattersway, glaube ich nicht, dass auch nur eines Ihrer Bilder weniger einbringen würde, als Sie seinerzeit dafür bezahlten.«
»Dann kaufe ich also dieses Bild«, sagte Mr Sattersway. »Hier haben Sie einen Scheck.«
»Sie werden es sicher nicht bereuen. Wir glauben an Bristow.«
»Ist er noch jung?«
»Sieben- oder achtundzwanzig.«
»Ich würde ihn gern kennen lernen«, sagte Mr Sattersway. »Vielleicht ist er bereit, einmal mit mir zu Abend zu essen?«
»Ich kann Ihnen seine Adresse geben. Und ich bin überzeugt, dass er mit Freuden zusagen wird. In der Welt der Künstler gilt Ihr Name eine ganze Menge.«
»Sie schmeicheln mir«, sagte Mr Sattersway und wollte gerade weitergehen, als Mr Cobb ihn zurückhielt.
»Da drüben ist er! Ich werde Sie gleich mit ihm bekannt machen.«
Er verließ seinen Platz hinter dem Tisch. Mr Sattersway begleitete ihn, bis sie vor einem großen, etwas unbeholfen wirkenden jungen Mann standen, der an der Wand lehnte und mit gerunzelter Stirn ins Leere starrte.
Mr Cobb übernahm das erforderliche Vorstellen, und Mr Sattersway hielt eine formelle und reizende kleine Ansprache.
»Ich hatte gerade das Vergnügen, eines Ihrer Bilder zu erwerben: den Toten Harlekin.«
»Ach? Na, dann haben Sie kein schlechtes Geschäft gemacht«, sagte Mr Bristow ungnädig. »Eine verdammt gute Arbeit – auch wenn ich selbst es behaupte.«
»Das habe ich gesehen«, sagte Mr Sattersway. »Ihre Arbeit interessiert mich sehr, Mr Bristow. Für einen so jungen Menschen finde ich sie ungewöhnlich reif. Würden Sie mir das Vergnügen machen, irgendwann mit mir zu essen? Haben Sie heute Abend schon etwas vor?«
»Genaugenommen nicht«, sagte Mr Bristow, und immer noch war er nicht gerade von übertriebener Höflichkeit.
»Sagen wir also: Um acht?«, schlug Mr Sattersway vor. »Hier haben Sie meine Karte mit der Adresse.«
»Gut – einverstanden«, sagte Mr Bristow. »Danke«, fügte er noch hinzu. Es war ihm gerade noch rechtzeitig eingefallen.
Ein junger Mann, der von sich selbst keine gute Meinung hat und fürchtet, die übrige Welt sei derselben Ansicht. Das etwa war der Schluss, zu dem Mr Sattersway kam, als er in den Sonnenschein der Bond Street hinaustrat, und Mr Sattersways Urteil über seine Mitmenschen traf nur selten sehr weit neben das Ziel.
Frank Bristow erschien um fünf nach acht und stellte fest, dass er nicht nur von seinem Gastgeber, sondern auch von einem weiteren Gast erwartet wurde. Dieser Gast wurde ihm als Oberst Monckton vorgestellt. Fast unmittelbar danach gingen sie zum Essen. Auf dem ovalen Mahagonitisch lag noch ein viertes Gedeck, und Mr Sattersway gab sofort die notwendige Erklärung dafür.
»Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass mein Freund, Mr Harley Quin, ebenfalls kommen würde«, sagte er. »Vielleicht haben Sie ihn schon irgendwo kennen gelernt?«
»Ich kenne überhaupt keine Leute«, brummte Mr Bristow.
Oberst Monckton sah den Maler mit jenem unbeteiligten Interesse an, das er auch einer neuen Quallenart entgegengebracht hätte. Mr Sattersway hingegen bemühte sich, die Kugel der Unterhaltung ständig in Bewegung zu halten.
»Ihr Bild fand mein besonderes Interesse, weil ich glaubte, in dem Schauplatz das Terrassenzimmer von Charnley wiederzuerkennen. Habe ich richtig vermutet?« Und als der Künstler nickte, fuhr er fort: »Das ist allerdings sehr interessant. In früheren Zeiten bin ich selbst mehrmals auf Charnley gewesen. Vielleicht kennen Sie jemanden von der Familie?«
»Nein!«, sagte Bristow. »Solche Familien legen keinen Wert darauf, mich zu kennen. Ich bin mal mit einem Ausflugsbus hingefahren.«
»Ach, du lieber Himmel«, sagte Monckton, um überhaupt etwas zu sagen. »Mit einem Ausflugsbus! Unvorstellbar!«
Frank Bristow sah ihn mit gefurchter Stirn an.
»Warum denn nicht?«, fragte er wütend.
Der arme Monckton war völlig verstört. Vorwurfsvoll blickte er Mr Sattersway an, als wollte er sagen: »Für Sie als Naturalist mögen diese primitiven Lebensformen vielleicht ganz interessant sein, aber warum haben Sie ausgerechnet mich in diese Geschichte hineingezogen?«
»Ach, scheußliche Dinger, diese Busse!«, sagte er. »Auf schlechten Straßen wird man immer grässlich durchgeschüttelt.«
»Wenn man sich keinen Rolls-Royce leisten kann, muss man leider mit dem Bus fahren«, sagte Bristow mit Erbitterung in der Stimme. Oberst Monckton starrte ihn an. Mr Sattersway überlegte: Wenn es mir nicht gelingt, diesen jungen Mann zu besänftigen, dürfte es ein ziemlich anstrengender Abend werden.
»Charnley hat mich immer fasziniert«, sagte er. »Seit jener Tragödie bin ich nur ein einziges Mal dort gewesen. Ein schreckliches Haus – und ein gespenstisches dazu.«
»Das stimmt«, sagte Bristow.
»Es gibt dort zwei echte Gespenster«, sagte Monckton. »Angeblich soll Charles I. mit seinem Kopf unter dem Arm auf der Terrasse herumwandern – den Grund dafür habe ich allerdings vergessen. Und dann existiert noch die ›weinende Frau‹, die immer auftaucht, wenn einer der Charnleys stirbt.«
»Quatsch«, sagte Bristow verächtlich.
»Jedenfalls wurde diese Familie vom Pech verfolgt«, sagte Mr Sattersway eilig. »Vier Inhaber des Titels sind eines gewaltsamen Todes gestorben, und der letzte Lord Charnley hat Selbstmord verübt.«
»Eine grässliche Geschichte«, sagte Monckton ernst. »Ich war damals dort, als es passierte.«
»Warten Sie, das muss vor vierzehn Jahren gewesen sein«, sagte Mr Sattersway. »Seit damals ist das Haus zugesperrt.«
»Das wundert mich wirklich nicht«, sagte Monckton. »Für die junge Frau muss es ein fürchterlicher Schock gewesen sein. Einen Monat waren sie gerade verheiratet und kurz vorher aus den Flitterwochen zurückgekommen. Ein großer Kostümball, um ihre Heimkehr zu feiern. Und ausgerechnet als die ersten Gäste eintrafen, schloss Charnley sich im Eichenzimmer ein und erschoss sich. So etwas tut man nicht… Wie meinen Sie?«
Er wandte den Kopf scharf nach links und blickte dann Mr Sattersway an, dabei lachte er verlegen.
»Langsam macht sich bei mir das Alter bemerkbar, Sattersway. Eben habe ich tatsächlich geglaubt, jemand säße auf dem leeren Stuhl und hätte etwas zu mir gesagt!« Er schwieg nachdenklich.
»Ja«, fuhr er dann fort, »für Alix Charnley war es ein ziemlicher Schock. Sie war damals eines der hübschesten Mädchen, die man sich vorstellen kann, und platzte förmlich vor dem, was die Leute Lebensfreude nennen. Heute soll sie wie ein Geist aussehen. Ich bin ihr seit Jahren nicht mehr begegnet. Ich glaube, sie lebt meistens im Ausland.«
»Und ihr Sohn?«
»Der Junge ist in Eton. Was er machen wird, wenn er alt genug ist, weiß ich nicht. Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass er wieder in das Haus zieht.«
»Immerhin könnte es einen ganz hübschen Vergnügungspark abgeben«, sagte Bristow.
Oberst Monckton blickte ihn mit kalter Verachtung an.
»Ach, das kann nicht Ihr Ernst sein«, sagte Mr Sattersway. »Dann hätten Sie nämlich dieses Bild nicht gemalt. Tradition und Atmosphäre sind unfassbare Dinge. Zu ihrem Entstehen braucht es Generationen, und wenn man sie zerstört, kann man sie nicht binnen vierundzwanzig Stunden wieder herbeischaffen.«
Er erhob sich. »Gehen wir ins Rauchzimmer hinüber. Ich habe ein paar Aufnahmen von Charnley aufgehoben, die ich Ihnen gern zeigen möchte.«
Zu Mr Sattersways Steckenpferden gehörte das Fotografieren. Außerdem war er der stolze Verfasser eines Buches: Die Heime meiner Freunde. Die infrage kommenden Freunde waren ausnahmslos ziemlich exaltiert, und das Buch zeigte Mr Sattersway in einem snobistischen Licht, das ihm nicht ganz gerecht wurde.
»Das hier ist eine Aufnahme vom Terrassenzimmer, die ich letztes Jahr machte«, sagte er. Er reichte sie Bristow. »Sie sehen, dass die Aufnahme fast denselben Bildausschnitt zeigt wie Ihr Aquarell. Der Teppich ist ein wunderbares Stück – ein Jammer, dass die Farben nicht so herauskommen.«
»Ich kann mich noch daran erinnern«, sagte Bristow. »Hinreißende Farben. Wie Feuer glühten sie. Trotzdem wirkte er ein bisschen unpassend. Schon die Größe passte nicht zu dem Raum mit den schwarzen und weißen Quadraten. Sonst liegt kein Teppich in diesem Raum. Er zerstört die ganze Wirkung – wie ein riesiger Blutfleck sah er aus.«
»Sind Sie vielleicht dadurch auf den Einfall gebracht worden, das Bild zu malen?«, fragte Mr Sattersway.
»Vielleicht«, sagte Bristow nachdenklich. »Wenn man diesen Teppich sieht, kommt man ganz von selbst auf die Idee, dass sich in dem kleinen getäfelten Zimmer, das nebenan liegt, eine Tragödie abgespielt hat.«
»Das Eichenzimmer«, sagte Monckton. »Ja, das ist das Spukzimmer. Übrigens existiert dort auch ein Priesterversteck, hinter einer verschiebbaren Täfelung neben dem Kamin. Die Überlieferung behauptet, Charles I. hätte sich dort einmal versteckt. Außerdem hat es in diesem Zimmer bei Duellen zwei Tote gegeben. Und schließlich hat sich, wie ich schon sagte, Reggie Charnley dort erschossen.«
Er nahm Bristow die Aufnahme aus der Hand.
»Das ist übrigens der Buchara«, sagte er, »ein Teppich, der meiner Ansicht nach ein paar tausend Pfund wert ist. Als ich damals dort war, lag er jedoch im Eichenzimmer, wo er auch hinpasste. Auf dieser großen Marmorfläche wirkt er fast lächerlich.«
Mr Sattersway betrachtete den leeren Sessel, den er neben den seinen gezogen hatte. Dann sagte er nachdenklich. »Ich möchte nur wissen, wann er dort hingelegt worden ist.«
»Das muss erst später geschehen sein. Richtig – ich erinnere mich an eine Unterhaltung mit Charnley, und zwar genau am Tag der Tragödie. Charnley meinte damals, an sich gehöre der Teppich hinter Glas.«
Mr Sattersway schüttelte den Kopf: »Das Haus wurde unmittelbar nach der Tragödie zugesperrt, und alles wurde genauso belassen, wie es damals war.«
Hier fiel Bristow mit einer Frage ein. Seine aggressive Art hatte er völlig abgelegt. »Warum hat Lord Charnley sich eigentlich erschossen?«, fragte er.
Monckton bewegte sich unbehaglich in seinem Sessel.
»Das weiß kein Mensch«, sagte er unsicher.
»Ich nehme an«, antwortete Mr Sattersway langsam, »dass es tatsächlich Selbstmord war.«
Der Oberst blickte ihn völlig verblüfft an.
»Selbstmord«, sagte er, »selbstverständlich war es Selbstmord! Mein lieber Freund, ich hielt mich damals selbst im Hause auf.«
Mr Sattersway blickte den leeren Sessel an, der neben ihm stand, und lächelte dann vor sich hin, als hätte ein Unsichtbarer einen Witz gemacht. Dann sagte er: »Manchmal erkennt man gewisse Dinge später sehr viel deutlicher als im Augenblick ihres Geschehens.«
»Unsinn«, rief Monckton. »Reiner Unsinn! Wie können Sie etwas klarer erkennen, wenn es nicht mehr deutlich und scharf, sondern in der Erinnerung leicht verschwommen geworden ist?«
Mr Sattersway erhielt jedoch von unerwarteter Seite Unterstützung. »Ich weiß, was Sie meinen«, sagte der Maler. »Und ich finde, dass Sie Recht haben. Es ist eine Frage der Proportion, nicht? Und wahrscheinlich sogar mehr als nur der Proportion. Der Relativität und wie man es sonst noch nennt.«
»Wenn Sie mich fragen«, sagte der Oberst, »ich halte diese ganzen einsteinschen Sachen für Unsinn! Genauso wie Spiritisten und spukende Großmütter!« Wütend blickte er sich um. »Natürlich war es Selbstmord!«, fuhr er fort. »Habe ich denn nicht praktisch mit eigenen Augen gesehen, wie es passierte?«
»Erzählen Sie doch«, sagte Mr Sattersway. Mit einem leicht besänftigten Knurren machte es sich der Oberst in seinem Sessel noch bequemer.
»Das Ganze kam vollkommen unerwartet«, begann er. »Charnley war den ganzen Tag über wie immer gewesen. Wegen des Maskenballs waren eine Menge Gäste im Haus. Kein Mensch wäre auf die Idee gekommen, dass er sich in dem Augenblick erschießt, in dem die ersten Gäste erscheinen.«
»Geschmackvoller wäre es gewesen, wenn er damit gewartet hätte, bis sie wieder gegangen waren«, sagte Mr Sattersway.
»Natürlich wäre es das gewesen! Verdammt geschmacklos, so etwas überhaupt zu tun.«
»Und ganz uncharakteristisch«, sagte Mr Sattersway.
»Ja«, gab Monckton zu. »So etwas sah Charnley gar nicht ähnlich.«
»Und trotzdem war es Selbstmord?«
»Natürlich! Wir standen nämlich gerade zu dritt oder viert oben auf der Treppe: ich selbst, dann die kleine Ostrander, Algie Darcy – na ja, und vielleicht noch zwei andere. Charnley ging unten durch die Diele und verschwand im Eichenzimmer. Die kleine Ostrander hat später gesagt, sein Gesicht habe einen gespenstischen Ausdruck gehabt und seine Augen seien ganz starr gewesen, aber das ist natürlich Unsinn, denn von unserem Platz aus konnte sie das Gesicht gar nicht sehen. Aber irgendwie ging er in einer etwas gebückten Haltung, als laste das Gewicht der ganzen Welt auf seinen Schultern. Eine Frau rief ihm etwas nach, ich glaube, es war die Gouvernante irgendwelcher Leute, die Lady Charnley aus purer Freundlichkeit eingeladen hatte. Sie suchte ihn, um ihm irgendetwas auszurichten. Sie rief: ›Lord Charnley, Lady Charnley möchte wissen…‹ Er kümmerte sich jedoch gar nicht darum, sondern verschwand im Eichenzimmer, schlug die Tür hinter sich zu, und dann hörten wir, wie er von drinnen abschloss. Und eine Minute danach hörten wir den Schuss.
Wir rannten in die Diele hinunter. Das Eichenzimmer hat noch eine zweite Tür, die in das Terrassenzimmer führt. Wir versuchten, durch diese Tür hineinzukommen, aber sie war ebenfalls abgeschlossen. Schließlich mussten wir die Tür aufbrechen. Charnley lag auf dem Boden – tot, eine Pistole dicht neben seiner rechten Hand. Was konnte es schon anderes sein als Selbstmord? Ein Unfall? Das war ausgeschlossen. Es gab nur eine andere Möglichkeit: Mord. Aber Mord ohne Mörder gibt es nicht. Das müssen Sie zugeben.«
»Der Mörder könnte immerhin geflohen sein«, meinte Mr Sattersway.
»Das ist unmöglich. Wenn Sie ein Stück Papier und einen Bleistift haben, will ich Ihnen gern den Grundriss des Zimmers aufzeichnen. Zwei Türen führten in das Eichenzimmer, die eine von der Diele, die Zweite vom Terrassenzimmer aus. Aber beide Türen waren von innen abgeschlossen, und die Schlüssel steckten.«
»Und das Fenster?«
»War geschlossen, und die Läden auch.«
Es folgte eine Pause.
»So sieht es also aus«, sagte Monckton triumphierend zu den beiden anderen.
»Es scheint tatsächlich zu stimmen«, sagte Mr Sattersway dunkel.
»Und noch etwas«, sagte der Oberst. »Auch wenn ich mich gerade eben über die Spiritisten lustig gemacht habe, gebe ich doch zu, dass eine verteufelt komische Stimmung über dem ganzen Haus und besonders über diesem einen Zimmer lag. In der Wandtäfelung sind verschiedene Löcher, Andenken an die Duelle, die in dem Zimmer stattfanden, und auf dem Fußboden findet sich ein merkwürdiger Fleck, der immer wieder erscheint, obgleich das Holz schon mehrfach erneuert worden ist. Wahrscheinlich hat der Boden jetzt einen zweiten Blutfleck – vom Blut des armen Charnley.«
»Hatte er sehr viel Blut verloren?«, fragte Mr Sattersway.
»Nur sehr wenig. Auffallend wenig – wenigstens meinte das der Arzt.«
»Auf welche Weise hat er sich erschossen? Durch Kopfschuss?«
»Nein, ins Herz.«
»Das ist nicht ganz einfach«, sagte Bristow. »Verdammt schwierig, genau zu wissen, wo das Herz sitzt. Also, ich würde so etwas nie machen.«
Mr Sattersway schüttelte den Kopf. Er war enttäuscht. Er hatte gehofft, irgendetwas herauszufinden – was es war, wusste er allerdings nicht. Monckton erzählte weiter.
»Dieses Charnley ist tatsächlich ein Haus, in dem es spukt. Persönlich habe ich es natürlich nicht erlebt.«
»Sie haben also die weinende Frau mit dem silbernen Krug nicht gesehen?«
»Nein, das habe ich weiß Gott nicht, Sir«, sagte der Oberst nachdrücklich. »Aber das Personal wird wahrscheinlich beschwören, sie gesehen zu haben.«
»Aberglaube«, grübelte Mr Sattersway, und sein Blick wanderte zu dem leeren Sessel. »Aber manchmal, finden Sie nicht auch – manchmal kann so etwas ganz nützlich sein?«
Bristow starrte ihn fragend an.
»Nützlich ist ein merkwürdiges Wort.«
»Hoffentlich sind Sie jetzt überzeugt, Sattersway«, sagte der Oberst.
»Vollständig«, sagte Mr Sattersway. »Es ist zwar immer noch merkwürdig – besonders bei einem jungverheirateten Mann, jung, reich, glücklich, der gerade seine Heimkehr feiert –, aber ich gebe zu, dass sich gegen die Tatsachen nichts einwenden lässt.« Leise wiederholte er: »Die Tatsachen!« Und dabei furchte er die Stirn.
»Interessant bei der ganzen Sache ist meiner Meinung nach das, was keiner von uns jemals erfahren wird«, sagte Monckton. »Nämlich der Grund, der dahinter steckt. Natürlich gab es Gerüchte – alle möglichen Gerüchte. Sie wissen wohl selbst, was die Leute in solchen Fällen alles erzählen.«
»Aber tatsächlich weiß niemand etwas«, sagte Mr Sattersway nachdenklich.
»Als Kriminalroman würde die Sache bestimmt keine Leser finden«, bemerkte Bristow. »Hat der Tod dieses Mannes irgendjemandem Vorteile gebracht?«
»Nur einem noch ungeborenen Kind«, sagte Mr Sattersway.
Monckton lachte leise und schadenfroh. »Für den armen Hugo Charnley war das ein schwerer Schlag«, sagte er. »Kaum wurde bekannt, dass ein Kind unterwegs sei, hatte er die angenehme Aufgabe, Tag und Nacht gespannt abzuwarten, ob es ein Junge oder ein Mädchen würde. Und für seine Gläubiger war es auch eine aufregende Warterei. Schließlich kam ein Junge zur Welt, und das war für die Leute natürlich eine große Enttäuschung.«
»War die Witwe sehr untröstlich?«, fragte Bristow.
»Die Ärmste!«, sagte Monckton. »Ich werde sie nie vergessen. Sie hat weder geweint, noch ist sie zusammengebrochen oder was weiß ich. Sie war wie – erstarrt. Und wie ich schon erzählte, sperrte sie das Haus gleich danach zu, und soweit ich orientiert bin, ist sie seitdem nie mehr dort gewesen.«
»Hinsichtlich des Motivs tappen wir also weiterhin im Dunkeln«, sagte Bristow mit einem flüchtigen Lachen. »Ein anderer Mann oder eine andere Frau – eins von beiden wird es wohl gewesen sein, was?«
»Anscheinend«, sagte Mr Sattersway.
»Und alles spricht für eine andere Frau«, fuhr Bristow fort, »da die schöne Witwe nicht wieder geheiratet hat. Ich hasse Frauen«, fügte er kalt hinzu.
Mr Sattersway lächelte ein wenig; Frank Bristow sah es jedoch.
»Meinetwegen können Sie ruhig lächeln«, sagte er. »Aber es stimmt! Sie bringen alles durcheinander. Sie mischen sich ständig ein. Sie schieben sich zwischen den Mann und seine Arbeit. Sie… Ein einziges Mal bin ich einer Frau begegnet, die – na ja, interessant war sie.«
»Das habe ich mir gedacht«, sagte Mr Sattersway.
»Aber nicht so, wie Sie meinen. Ich lernte sie zufällig kennen. Wenn Sie es genau wissen wollen: in der Bahn.« Und trotzig fügte er hinzu: »Warum soll man nicht auch in der Bahn Leute kennen lernen?«
»Sicher«, sagte Mr Sattersway besänftigend. »Es ist völlig egal, ob in der Bahn oder sonst wo.«
»Ich kam damals aus dem Norden zurück. Wir hatten das Abteil für uns allein. Wieso, weiß ich nicht mehr, aber wir fingen an, uns zu unterhalten. Ihren Namen kenne ich nicht, und wahrscheinlich werde ich sie wohl auch nie wiedersehen. Ich bin mir, nebenbei gesagt, gar nicht klar, ob ich es überhaupt will. Vielleicht ist es schade.« Er schwieg und versuchte, die richtigen Worte zu finden. »Sie war so unwirklich, verstehen Sie? Schattenhaft. Wie diese Leute, die in den gälischen Märchen aus den Hügeln herauskommen.«
Mr Sattersway nickte freundlich. In seiner Fantasie konnte er sich das Bild gut vorstellen. Der sehr positive und realistische Bristow und eine Gestalt, die silbrig und gespenstisch war – schattenhaft, wie Bristow sie genannt hatte.
»Ich glaube, dass man so nur werden kann, wenn irgendetwas Entsetzliches passiert ist, etwas so Entsetzliches, dass es fast unerträglich ist. Vielleicht flieht man aus der Realität in eine halbwirkliche Welt, die man sich selbst gezimmert hat, und nach einiger Zeit kann man dann natürlich nicht wieder zurück.«
»Was hatte sie denn erlebt?«, fragte Mr Sattersway neugierig.
»Das weiß ich nicht«, sagte Bristow. »Erzählt hat sie mir nichts. Ich vermute es nur. Wenn man irgendetwas verstehen will, ist man immer nur auf Vermutungen angewiesen.«
»Ja«, sagte Mr Sattersway. »Man ist auf Vermutungen angewiesen.«
Er blickte auf, als sich die Tür öffnete. Schnell und voller Erwartung blickte er auf, aber die Worte des Butlers enttäuschten ihn.
»Eine Dame, Sir, möchte Sie in einer sehr dringenden Angelegenheit sprechen. Miss Aspasia Glen.«
Leicht erstaunt erhob sich Mr Sattersway. Der Name Aspasia Glen war ihm bekannt. Wer in London kannte ihn nicht? Als »Frau mit der Schärpe« war sie in einer Reihe von Matineen aufgetreten, die sie allein bestritt und mit denen sie London im Sturm erobert hatte. Mithilfe ihrer Schärpe hatte sie verschiedene Charaktere dargestellt. Nacheinander hatte die Schärpe den Schleier einer Nonne, den Kopfputz einer Bäuerin und hundert andere Dinge verkörpert, und bei jeder Darstellung war Aspasia Glen ein vollkommen und restlos anderes Geschöpf gewesen. Als Künstlerin zollte Mr Sattersway ihr großen Beifall. Zufälligerweise hatte er nie ihre Bekanntschaft gemacht. Ein Besuch zu dieser ungewöhnlichen Stunde erregte also seine größte Neugierde. Mit einigen Worten der Entschuldigung verließ er das Zimmer und ging durch die Diele in das Wohnzimmer. Miss Glen saß genau in der Mitte eines Sofas, das mit Goldbrokat bezogen war. Auf diese Weise beherrschte sie den ganzen Raum. Mr Sattersway merkte sofort, dass sie die Absicht hatte, sich die Situation nicht aus der Hand nehmen zu lassen. Seltsamerweise verspürte er im ersten Moment nur Abneigung. Er war ein ernsthafter Bewunderer von Aspasia Glens Kunst gewesen. Soweit ihre Persönlichkeit über die Rampe hinaus gedrungen war, hatte er sie für reizend und sympathisch gehalten. Sehnsüchtig und reizvoll, aber nicht herrisch hatte sie gewirkt. Jetzt, von Angesicht zu Angesicht, bekam er jedoch einen völlig anderen Eindruck. Sie hatte etwas Hartes, Freches und Gezwungenes an sich. Groß und dunkel war sie, und ihr Alter schätzte er auf fünfunddreißig. Sie sah zweifellos sehr gut aus, und diese Tatsache nutzte sie deutlich aus.
»Sie müssen meinen Besuch zu dieser unpassenden Zeit verzeihen, Mr Sattersway«, sagte sie. Ihre Stimme war voll, farbig und verführerisch. »Ich will nicht behaupten, dass ich mich schon seit Langem danach gesehnt hätte, Sie kennen zu lernen, aber trotzdem freue ich mich über den Anlass, der mich hierher führte. Und dass es gerade heute Abend ist…« Sie lachte. »Mein Gott, wenn ich etwas haben will, kann ich einfach nicht warten. Wenn ich etwas haben will, muss ich es sofort haben!«
»Jeder Anlass, der eine so charmante Dame in mein Haus führt, ist mir willkommen«, sagte Mr Sattersway auf altmodisch galante Weise.
»Wie reizend Sie zu mir sind«, sagte Aspasia Glen.
»Meine liebe Dame«, sagte Mr Sattersway, »darf ich Ihnen hier und jetzt für das Vergnügen danken, das Sie mir oft geschenkt haben, auf meinem Platz im Parkett.«
Sie lächelte ihn entzückt an.
»Ich will auch gleich zum Thema kommen. Ich war heute in den Harchester Galleries. Und dort sah ich ein Bild, ohne das ich einfach nicht mehr sein kann. Ich wollte es kaufen, aber das ging nicht, weil Sie es bereits gekauft haben. Deshalb…« Sie machte eine Pause. »Lieber Mr Sattersway, ich muss es einfach haben! Mein Scheckheft habe ich mitgebracht.« Hoffnungsvoll sah sie ihn an. »Jeder hat mir gesagt, wie furchtbar nett Sie sind. Und zu mir ist jeder sowieso nett, verstehen Sie! Für mich selbst ist es zwar sehr schwierig – aber so ist es nun einmal.«
Das also waren Aspasia Glens Methoden. Innerlich blieb Mr Sattersway dieser so überbetont weiblichen Art gegenüber kalt und kritisch; dasselbe galt für ihre Art, das verwöhnte Kind zu spielen. Wahrscheinlich sollte es ihn reizen, aber das tat es nicht. Aspasia Glen hatte einen Fehler begangen. Sie hatte ihn als älteren Dilettanten behandelt, der von einer hübschen Frau leicht zu umschmeicheln ist. Hinter Mr Sattersways galanter Art verbarg sich jedoch ein gescheiter und kritischer Verstand. Er sah die Menschen ziemlich genau so, wie sie in Wirklichkeit waren, und nicht, wie sie sein wollten. Und so sah er nicht eine charmante Frau vor sich, die ihn um die Erfüllung einer Laune bat, sondern eine rücksichtslose Egoistin, die entschlossen war, ihren Willen aus irgendeinem Grunde, der ihm verborgen blieb, durchzusetzen. Aber er wusste sehr genau, dass Aspasia Glen ihren Willen diesmal nicht durchsetzen würde. Er würde das Bild des toten Harlekin nicht an sie ausliefern. Fieberhaft suchte er in seinen Gedanken nach der besten Möglichkeit, ihr auszuweichen, ohne sie allzu sehr zu verletzen.
»Ich bin überzeugt«, sagte er, »dass jeder Ihnen entgegenkommt, so gut er kann, und das mit größtem Vergnügen.«
»Dann wollen Sie mir das Bild also überlassen?«
Langsam und bedauernd schüttelte Mr Sattersway den Kopf. »Das ist, fürchte ich, leider unmöglich. Sehen Sie…« Er schwieg einen Augenblick. »Ich habe das Bild für eine Dame gekauft. Es soll ein Geschenk sein.«
»Ach! Aber sicherlich…«
Das Telefon auf dem Tisch läutete. Mit einer gemurmelten Entschuldigung nahm Mr Sattersway ab. Eine Stimme meldete sich, eine kalte kleine Stimme, die sehr entfernt klang.
»Kann ich bitte Mr Sattersway sprechen?«
»Am Apparat.«
»Hier ist Lady Charnley, Alix Charnley. Wahrscheinlich erinnern Sie sich nicht mehr an mich, Mr Sattersway, da wir uns vor vielen Jahren zum letzten Mal gesehen haben.«
»Meine liebe Alix. Natürlich erinnere ich mich an Sie!«
»Ich möchte Sie nämlich um etwas bitten: Ich war heute in den Harchester Galleries, und da hing ein Bild mit dem Titel Der tote Harlekin. Vielleicht haben Sie es wiedererkannt: Es ist das Terrassenzimmer von Charnley. Ich… ich würde das Bild gern haben. Es ist an Sie verkauft worden.« Sie verstummte. »Mr Sattersway, ich möchte dieses Bild aus ganz bestimmten Gründen besitzen. Wollen Sie es mir verkaufen?«
Mr Sattersway dachte: Das ist wirklich wie ein Wunder. Und als er antwortete, war er dankbar, dass Aspasia Glen nur die eine Seite der Unterhaltung hören konnte. »Wenn Sie mein Geschenk annehmen, liebe Alix, würde es mich sehr glücklich machen.« Hinter sich hörte er einen Aufschrei und fuhr herum. »Ich habe es für Sie gekauft, wirklich. Aber hören Sie zu, meine liebe Alix, ich möchte Sie um einen sehr großen Gefallen bitten. Wenn Sie mir den erfüllen könnten?«
»Natürlich, Mr Sattersway! Ich bin Ihnen so dankbar!«
»Ich möchte, dass Sie zu mir kommen, möglichst sofort.«
Es folgte eine kurze Pause, und dann antwortete sie ruhig: »Ich komme sofort.«
Mr Sattersway legte den Hörer auf.
Schnell und ärgerlich sagte Miss Glen: »Ging es um das Bild, über das wir sprachen?«
»Ja«, sagte Mr Sattersway, »und die Dame, der ich es schenke, wird in wenigen Minuten herkommen.«
Plötzlich erstrahlte Aspasia Glens Gesicht in einem neuen Lächeln.
»Geben Sie mir die Chance, dass ich sie zu überreden versuche, mir das Bild zu überlassen?«
»Ich gebe Ihnen die Chance, sie zu überreden.«
Innerlich war er seltsam erregt. Er befand sich im Mittelpunkt eines Dramas, das wie von selbst einem vorbestimmten Ende zustrebte. Er, der Zuschauer, spielte eine Hauptrolle. Er wandte sich an Miss Glen. »Wollen Sie mich bitte hinüberbegleiten? Ich würde Sie gern mit meinen Freunden bekannt machen.«
Er hielt ihr die Tür auf, und nachdem sie die Diele durchquert hatte, öffnete er die Tür des Rauchzimmers.
»Miss Glen«, sagte er, »darf ich Ihnen einen alten Freund, Oberst Monckton, vorstellen. Und das ist Mr Bristow, der Maler des Bildes, das Sie so bewundern.« Dann stutzte er, als sich eine dritte Gestalt aus dem Sessel erhob, der bisher unbesetzt neben seinem eigenen gestanden hatte.
»Ich glaube, Sie haben mich heute Abend erwartet«, sagte Mr Quin. »Während Ihrer Abwesenheit habe ich mich Ihren Freunden selbst vorgestellt. Ich bin so froh, dass es mir möglich war, doch noch vorbeizukommen.«
»Mein lieber Freund«, sagte Mr Sattersway, »ich… ich habe getan, was mir möglich war, aber…« Er verstummte angesichts des spöttischen Ausdrucks in Mr Quins Augen. »Wenn ich bekannt machen darf: Mr Harley Quin – Miss Aspasia Glen.«
War es Einbildung, oder war sie wirklich ein wenig zusammengefahren? Ein neugieriger Ausdruck huschte über ihr Gesicht. Plötzlich machte Bristow sich lauthals bemerkbar. »Jetzt habe ich es!«
»Was haben Sie?«
»Jetzt weiß ich, was mich irritierte. Es ist die Ähnlichkeit – eine deutliche Ähnlichkeit!« Gebannt starrte er Mr Quin an. »Sehen Sie es auch?« Er hatte sich an Mr Sattersway gewandt. »Sehen Sie nicht die Ähnlichkeit mit dem Harlekin meines Bildes – mit dem Mann, der durch das Fenster schaut?«
Dieses Mal war es keine Einbildung. Deutlich hörte er, wie Miss Glen tief einatmete, und er sah, dass sie einen Schritt zurückwich.
»Ich erwähnte bereits, dass ich noch jemanden erwartete«, sagte Mr Sattersway. Er sprach mit einer Art von Triumph. »Allerdings muss ich dabei sagen, dass mein Freund Quin ein höchst ungewöhnlicher Mensch ist. Er kann Geheimnisse entwirren. Er bringt es fertig, gewisse Dinge sichtbar werden zu lassen.«
»Sind Sie ein Medium, Sir?«, fragte Monckton, der Mr Quin zweifelnd betrachtete.
Mr Quin lächelte und schüttelte langsam den Kopf.
»Mr Sattersway übertreibt«, sagte er ruhig. »Einmal oder auch zweimal hat er, als ich mit ihm zusammen war, auf wirklich ungewöhnliche Art bestimmte Folgerungen gezogen. Warum er diese Erfolge ausgerechnet mir in die Schuhe schieben will, ahne ich nicht. Wahrscheinlich aus Bescheidenheit.«
»Nein, nein«, sagte Mr Sattersway erregt. »Das stimmt nicht. Sie sorgten dafür, dass ich plötzlich Dinge sah – Dinge, die ich längst hätte gesehen haben sollen, die ich tatsächlich auch gesehen hatte, ohne jedoch zu wissen, dass ich sie sah.«
»Das klingt verteufelt kompliziert«, sagte Monckton.
»Aber überhaupt nicht«, erklärte Mr Quin. »Die einzige Schwierigkeit liegt darin, dass wir nicht zufrieden sind, irgendetwas zu sehen, wir wollen vielmehr den Dingen, die wir sehen, eine falsche Auslegung unterschieben.«
Aspasia Glen wandte sich an Bristow.
»Ich möchte gern wissen«, sagte sie nervös, »wie Sie auf die Idee gekommen sind, das Bild zu malen.«
Bristow zuckte die Schultern. »Das weiß ich nicht genau«, gestand er. »Irgendetwas am Haus – an Charnley, meine ich – fesselte meine Fantasie. Der große leere Raum. Draußen die Terrasse, die Vorstellung von Gespenstern und ähnlichen Dingen, nehme ich an. Gerade eben habe ich die Geschichte des letzten Lord Charnley gehört, der sich erschoss. Angenommen, man ist tot und der Geist lebt weiter? Merkwürdig muss das sein, verstehen Sie. Man kann auf der Terrasse stehen und durch das Fenster seinen eigenen Leichnam sehen, und man würde alles sehen.«
»Was meinen Sie damit?«, sagte Aspasia Glen. »Wieso sehen?«
»Ach Gott, man würde sehen, was geschieht. Man würde sehen…«
Die Tür öffnete sich, und der Butler meldete Lady Charnley.
Mr Sattersway ging ihr entgegen. Seit nahezu neunzehn Jahren hatte er sie nicht gesehen. Er erinnerte sich nur an sie, wie sie damals gewesen war: Ein lebhaftes, strahlendes Mädchen, und jetzt sah er eine erstarrte Frau. Sehr blond, sehr blass und mit einem Gang, als schwebe sie, ähnlich einer Schneeflocke, die von einem eisigen Wind getrieben wird. Etwas Unwirkliches lag über ihr, kühl, fern.
»Es ist reizend von Ihnen, dass Sie gekommen sind«, sagte Mr Sattersway.
Er führte sie zu den anderen. Mit einer flüchtigen Bewegung deutete sie an, dass sie Miss Glen kenne, aber Aspasia Glen reagierte nicht.
»Es tut mir leid«, murmelte Lady Charnley, »aber irgendwo muss ich Ihnen schon einmal begegnet sein, nicht wahr?«
»Vielleicht im Theater«, sagte Mr Sattersway. »Das ist Miss Aspasia Glen, Lady Charnley.«
»Ich freue mich sehr, Sie kennen zu lernen, Lady Charnley«, sagte Aspasia Glen. Ihre Stimme hatte plötzlich einen leichten amerikanischen Akzent. Mr Sattersway wurde an einen ihrer Bühnenauftritte erinnert.
»Oberst Monckton kennen Sie«, fuhr Mr Sattersway fort.
»Das hier ist Mr Bristow.«
Er merkte plötzlich, dass sich ihre Wangen leicht röteten.
»Mr Bristow und ich kennen uns ebenfalls«, sagte sie und lächelte leise. »Von einer Bahnfahrt.«
»Und Mr Harley Quin.«
Er beobachtete sie gespannt, aber diesmal deutete nichts darauf hin, dass sie ihr Gegenüber erkannte. Er schob ihr einen Sessel zurecht, und nachdem er sich ebenfalls gesetzt hatte, räusperte er sich und war ein wenig aufgeregt. »Ich… das hier ist wirklich eine ungewöhnliche Versammlung. Ihr Mittelpunkt ist das Bild. Ich glaube, wenn wir wollten, könnten wir jetzt die – die Dinge aufklären.«
»Wollen Sie etwa eine Séance abhalten, Sattersway?«, fragte Monckton. »Sie sind heute Abend wirklich etwas merkwürdig.«
»Nein«, sagte Mr Sattersway, »eine Séance eigentlich nicht. Aber mein Freund Quin glaubt – und ich stimme darin überein –, dass man durch einen Rückblick in die Vergangenheit die Dinge so sehen kann, wie sie wirklich waren, und nicht so, wie sie schienen.«
»In die Vergangenheit?«, fragte Lady Charnley.
»Ich spreche vom Selbstmord Ihres Mannes, Alix. Ich weiß, dass es Sie schmerzt…«
»Nein«, sagte Alix Charnley, »es schmerzt nicht mehr. Nichts schmerzt mich mehr.«
Mr Sattersway musste an Bristows Worte denken:
»Sie war so unwirklich, verstehen Sie. Schattenhaft. Wie diese Leute, die in den gälischen Märchen aus den Hügeln herauskommen.«
»Schattenhaft« hatte er sie genannt. Das passte ganz genau. Ein Schatten, das Abbild einer anderen. Wo aber war dann die reale Alix? Und sein Verstand antwortete sofort: In der Vergangenheit. Durch vierzehn Jahre von uns getrennt.
»Meine Liebe«, sagte er, »Sie erschrecken mich. Sie ähneln der weinenden Frau mit dem silbernen Krug.«
Irgendetwas zersplitterte. Die Kaffeetasse, die auf dem Tisch neben Aspasia Glen gestanden hatte, lag in Scherben auf dem Fußboden. Mit einer Handbewegung schnitt Mr Sattersway ihre Entschuldigung ab. Er überlegte: Wir kommen näher, wir kommen mit jeder Minute näher – aber wem näher?
»Wandern wir mit unseren Gedanken zu jenem Abend vor vierzehn Jahren zurück«, sagte er. »Lord Charnley verübte Selbstmord. Aus welchem Grund? Niemand weiß es.«
Lady Charnley wurde unruhig.
»Lady Charnley weiß es«, sagte Frank Bristow unvermittelt.
»Unsinn«, sagte Monckton, verstummte dann jedoch und sah sie mit gerunzelter Stirn neugierig an.
Sie blickte zu dem Künstler hinüber. Es war, als würde er die Worte aus ihr herauslocken. Sie nickte langsam, und ihre Stimme war wie eine Schneeflocke: kalt und weich.
»Ja, Sie haben Recht. Ich weiß es wirklich. Deswegen kann ich auch, solange ich lebe, nie mehr nach Charnley zurück. Deswegen erklärte ich auch, dass es unmöglich sei, als Dick, mein Sohn, wollte, dass wir wieder dort wohnen sollten.«
»Wollen Sie uns den Grund verraten, Lady Charnley?«, sagte Mr Quin.
Sie blickte ihn an. Dann begann sie ruhig.
»Wenn Sie wollen, will ich es Ihnen erzählen. Heute scheint alles nicht mehr so wichtig zu sein. Ich fand unter seinen Papieren einen Brief, den ich dann vernichtete.«
»Was für einen Brief?«, fragte Mr Quin.
»Den Brief des Mädchens. Sie war als Gouvernante bei den Merriams. Er hatte – er hatte mit ihr ein Verhältnis, vor unserer Hochzeit, als wir bereits verlobt waren. Und sie war schwanger geworden. Das hatte sie ihm geschrieben, und dass sie mir alles erzählen wollte. Und da hat er sich erschossen.« Müde sah sie die anderen an. Sie wirkte verträumt wie ein Kind, das eben eine Lektion aufgesagt hat, die es nur allzugut kennt.
Monckton schnaubte durch die Nase.
»Mein Gott«, sagte er, »so also war es! Na ja, das erklärt allerdings alles.«
»Wirklich?«, sagte Mr Sattersway. »Eines erklärt es immerhin nicht. Es erklärt nicht, warum Mr Bristow dieses Bild gemalt hat.«
»Was soll das heißen?«
Mr Sattersway blickte Mr Quin an, als suche er bei ihm Unterstützung, und offenbar erhielt er sie, denn er fuhr fort: »Ja, ich weiß selbst, dass es in Ihren Ohren verrückt klingt, aber das Bild ist der Brennpunkt der ganzen Sache. Wegen dieses Bildes sind wir alle heute Abend hierher gekommen. Das Bild musste geradezu gemalt werden – das ist es, was ich sagen will.«
»Sie meinen damit den unheimlichen Einfluss des Eichenzimmers«, begann Monckton.
»Nein«, sagte Mr Sattersway. »Nicht den des Eichenzimmers, sondern den des Terrassenzimmers. Darum geht es doch! Der Geist des Toten stand draußen vor dem Fenster, blickte hinein und sah seinen eigenen Leichnam auf dem Boden liegen.«
»Was ihm gar nicht möglich war«, sagte der Oberst, »weil die Leiche im Eichenzimmer lag.«
»Angenommen, sie lag genau dort«, sagte Mr Sattersway. »Angenommen, sie lag genau dort, wo Mr Bristow sie sah – wo er sie in seiner Vorstellung sah, meine ich: auf den schwarzweißen Marmorfliesen vor dem Fenster.«
»Jetzt reden Sie Unsinn«, sagte Monckton. »Wenn es wirklich so gewesen ist, hätten wir sie doch nicht im Eichenzimmer gefunden.«
»Es sei denn, irgendjemand hat sie dorthin gebracht«, sagte Mr Sattersway.
»Aber wie hätten wir in diesem Fall sehen können, wie Charnley in das Eichenzimmer ging?«, fragte Monckton.
»Sein Gesicht haben Sie doch nicht gesehen, nicht wahr?«, erkundigte Sattersway sich. »Damit will ich Folgendes sagen: Sie sahen vermutlich, dass ein Mann, der ein Maskenkostüm trug, in das Eichenzimmer ging.«
»Ein Kostüm aus Brokat und eine Perücke«, sagte Monckton.
»Sehr richtig. Und Sie glaubten, es wäre Lord Charnley, weil das Mädchen ihn mit Lord Charnleys Namen rief.«
»Und weil, als wir wenige Minuten später die Tür aufbrachen, nur der tote Lord Charnley im Eichenzimmer war. Darum kommen Sie nicht herum, Sattersway.«
»Nein«, sagte Mr Sattersway niedergeschlagen. »Nein – es sei denn, dass sich irgendwo ein Versteck befand.«
»Haben Sie nicht vorhin etwas von einem Priesterversteck erzählt, das sich in diesem Zimmer befindet?«, unterbrach Frank Bristow ihn.
»Aha!«, rief Mr Sattersway. »Angenommen…« Mit einer Handbewegung bat er um Ruhe, stützte seine Stirn in die andere Hand und fing an, langsam und zögernd zu sprechen.
»Ich habe eine bestimmte Vorstellung – vielleicht ist es nur Fantasie, aber ich glaube, es hängt damit zusammen. Angenommen, irgendjemand hätte Lord Charnley erschossen. Im Terrassenzimmer erschossen. Dann schleift er – ohne eine andere Person – die Leiche in das Eichenzimmer. Er legt den Toten hin, die Pistole dicht neben seine rechte Hand. Jetzt kommen wir zum nächsten Schritt. Es darf nicht der geringste Zweifel daran aufkommen, dass Lord Charnley Selbstmord verübt hat. Ich glaube, das konnte ziemlich einfach bewerkstelligt werden. Der Mann trägt das gleiche Kostüm wie Charnley und geht in Kostüm und Perücke durch die Diele zur Tür des Eichenzimmers, und um ganz sicher zu sein, ruft jemand vom oberen Ende der Treppe ihn an, und zwar mit Lord Charnleys Namen. Er verschwindet im Zimmer, schließt beide Türen ab und feuert dann einen Schuss in die Täfelung. Wenn Sie sich erinnern, befanden sich in der Täfelung verschiedene Einschüsse, sodass ein weiterer nicht auffiel. Dann versteckt der Mann sich in aller Ruhe in der Geheimkammer. Die Türen werden aufgebrochen, und die Leute stürzen hinein. Es scheint sicher zu sein, dass Lord Charnley Selbstmord verübt hat. Eine andere Hypothese wird nicht einmal in Betracht gezogen.«
»Das ist doch alles nur Geschwätz«, sagte Monckton. »Sie vergessen, dass Charnley ein ausreichendes Motiv hatte, um Selbstmord zu begehen.«
»Ja – einen Brief, der später gefunden wurde«, sagte Mr Sattersway. »Ein erlogener, grausamer Brief, geschrieben von einer sehr gescheiten und skrupellosen kleinen Schauspielerin, die die feste Absicht hatte, selbst Lady Charnley zu werden.«
»Was meinen Sie damit?«
»Ich meine das Mädchen, das sich mit Hugo Charnley zusammengetan hatte«, sagte Mr Sattersway. »Sie wissen doch, Monckton, und jeder weiß es, dass Hugo Charnley ein Lump war. Er glaubte, auf diese Weise würde er den Titel erben.« Unvermittelt wandte er sich an Lady Charnley. »Wie hieß das Mädchen, das den Brief geschrieben hatte?«
»Monica Ford«, sagte Lady Charnley.
»War es vielleicht Monica Ford, Monckton, die damals von der Treppe aus Lord Charnleys Namen rief?«
»Ja, richtig – jetzt, wo Sie davon sprechen, glaube ich fast, dass sie es war.«
»Nein, das ist unmöglich«, sagte Lady Charnley. »Ich – ich bin wegen der Geschichte bei ihr gewesen. Sie sagte, es stimme wirklich. Ich habe sie nachher zwar nur ein einziges Mal gesehen, aber ich bin überzeugt, dass sie das alles nicht gespielt hat.«
Mr Sattersway blickte zu Aspasia Glen hinüber.
»Ich persönlich halte es sehr wohl für möglich«, sagte er ruhig. »Ich glaube, dass sie die Anlagen zu einer großartigen Schauspielerin hatte.«
»Es gibt aber einen Punkt, den Sie noch nicht geklärt haben«, sagte Frank Bristow. »Auf dem Boden des Terrassenzimmers hätten Blutspuren sein müssen. So schnell hätte man sie wohl kaum beseitigen können.«
»Nein«, gab Mr Sattersway zu, »aber etwas anderes konnten sie tun – eine Sache, die nur wenige Sekunden Zeit beanspruchte: Sie konnten den Buchara über die Blutspuren legen. Kein Mensch dürfte gesehen haben, dass der Buchara schon vorher im Terrassenzimmer gelegen hatte, nicht wahr?«
»Ich glaube, Sie haben Recht«, sagte Monckton. »Aber irgendwann mussten die Blutflecken trotzdem beseitigt werden.«
»Ja«, sagte Mr Sattersway, »mitten in der Nacht. Eine Frau ging um diese Zeit mit einem Krug und einer Schüssel hinunter und wischte die Blutspuren auf, ohne dass es auffiel.«
»Und wenn sie dabei gesehen worden wäre?«
»Das wäre bedeutungslos gewesen«, sagte Mr Sattersway. »Außerdem spreche ich jetzt von dem, was tatsächlich geschah. Ich sagte ausdrücklich: eine Frau mit einem Krug und einer Schüssel. Wenn ich jedoch von einer weinenden Frau mit einem silbernen Krug gesprochen hätte, wäre das der Eindruck gewesen, den irgendein Beobachter gehabt hätte.« Er erhob sich und ging zu Aspasia Glen hinüber. »So war es doch, nicht wahr?«, sagte er. »Man nennt Sie heute die Frau mit der Schärpe, und damals spielten Sie Ihre erste Rolle: die weinende Frau mit dem silbernen Krug. Deswegen haben Sie gerade eben auch die Kaffeetasse vom Tisch gestoßen. Sie bekamen es mit der Angst, als Sie das Bild sahen. Sie glaubten, irgendjemand wisse Bescheid.«
Anklagend streckte Lady Charnley ihre Hand aus.
»Monica Ford«, rief sie. »Jetzt erkenne ich sie wieder!«
Aspasia Glen sprang auf. Mit einer Handbewegung schob sie den kleinen Mr Sattersway beiseite und blieb bebend vor Mr Quin stehen.
»Also habe ich doch Recht gehabt! Einer hat es tatsächlich gewusst! Oh, dieses dumme Getue hat mich nicht täuschen können. Diese angeblichen Überlegungen und Folgerungen.« Sie zeigte auf Mr Quin. »Sie sind damals da gewesen. Sie waren es, der draußen vor dem Fenster stand und hereinsah. Sie haben gesehen, was wir machten – wir, Hugo und ich. Ich habe genau gewusst, dass jemand hereinsah. Die ganze Zeit hatte ich es gespürt. Aber als ich den Kopf hob, war niemand zu sehen. Ich wusste, dass wir beobachtet wurden. Einmal dachte ich, ich hätte gesehen, wie am Fenster ein Gesicht auftauchte. Die ganzen Jahre hat es mich gequält. Und dann sah ich das Bild, auf dem Sie am Fenster stehen, und ich erkannte Ihr Gesicht wieder. Sie haben es also die ganzen Jahre gewusst. Warum brechen Sie jetzt das Schweigen? Das möchte ich gern noch wissen!«
»Vielleicht, damit der Tote in Frieden ruhen kann«, sagte Mr Quin. Plötzlich drehte Aspasia Glen sich um und rannte zur Tür; dort blieb sie einen Augenblick stehen und rief herausfordernd: »Macht meinetwegen, was ihr wollt! Für das, was ich eben gesagt habe, gibt es jetzt weiß Gott genügend Zeugen. Aber mir ist alles egal – alles. Ich habe Hugo geliebt und ihm bei dieser widerlichen Sache geholfen; später hat er mich dafür hinausgeworfen. Letztes Jahr ist er gestorben. Ihr könnt die Polizei ruhig auf meine Spur setzen, wenn ihr wollt – aber denkt daran, was dieser kleine Mann gesagt hat: Ich bin eine ziemlich gute Schauspielerin. Sie werden es nicht leicht haben, mich zu finden!« Krachend schlug die Tür hinter ihr zu, und einen Augenblick später hörten sie auch, dass die Haustür zugeschlagen wurde.
»Reggie«, rief Lady Charnley. »Reggie!« Die Tränen liefen ihr über das Gesicht. »Oh, mein Lieber, mein Lieber – jetzt kann ich nach Charnley zurück. Jetzt kann ich mit Dick dort wohnen. Ich kann ihm erzählen, was sein Vater war: der feinste, der großartigste Mann der Welt!«
»Wir sollten ernsthaft beraten, was in dieser Angelegenheit unternommen werden muss«, sagte Monckton. »Alix, meine Liebe, wenn du erlaubst, dass ich dich jetzt nachhause bringe, würde ich wegen dieser Sache gern noch ein paar Worte mit dir wechseln.«
Lady Charnley erhob sich. Sie kam zu Mr Sattersway, legte beide Hände auf seine Schultern und küsste ihn flüchtig.
»Wenn man so lange tot war, ist es wunderbar, wieder zu leben«, sagte sie. »Es war, als wäre ich tot, verstehen Sie? Ich danke Ihnen, lieber Mr Sattersway.« Sie verließ das Zimmer zusammen mit Monckton. Mr Sattersway sah ihnen nach. Ein Knurren von Frank Bristow, der völlig in Vergessenheit geraten war, ließ ihn herumfahren.
»Sie ist ein hinreißendes Geschöpf«, sagte Bristow schwermütig. »Aber sie ist nicht annähernd so interessant wie früher«, fügte er mürrisch hinzu.
»Jetzt spricht der Künstler«, sagte Mr Sattersway.
»Stimmt es etwa nicht?«, sagte Mr Bristow. »Wahrscheinlich zeigt sie mir doch nur die kalte Schulter, wenn ich mich jemals in Charnley sehen lassen würde. Ich gehe nicht gern dahin, wo ich unerwünscht bin.«
»Mein lieber junger Freund«, antwortete Mr Sattersway, »wenn Sie etwas weniger an den Eindruck denken würden, den Sie auf andere Leute machen, wären Sie meiner Ansicht nach weiser und glücklicher. Außerdem würde es Ihnen gut tun, wenn Sie einige Ihrer überholten Vorstellungen aufgäben – etwa die, dass die Herkunft unter den heutigen Bedingungen noch etwas bedeutet. Sie gehören zu diesen großen, breitschultrigen jungen Männern, die in den Augen der Frauen immer gut aussehen, und möglicherweise, wenn nicht sogar bestimmt, sind Sie ungeheuer begabt. Das alles brauchen Sie sich nur jeden Abend, vor dem Schlafengehen, zehnmal vorzusagen, damit Sie Lady Charnley in drei Monaten besuchen können. Das ist es, was ich Ihnen rate, und ich bin immerhin ein alter Mann, der beträchtliche Erfahrungen gesammelt hat.«
Ein reizendes Lächeln erschien auf dem Gesicht des Malers.
»Sie sind verdammt nett zu mir gewesen«, sagte er plötzlich. Er ergriff Mr Sattersways Hand und umklammerte sie mit kräftigem Griff. »Ich bin Ihnen unendlich dankbar. Aber jetzt muss ich verschwinden. Sehr herzlichen Dank für einen der ungewöhnlichsten Abende, die ich je erlebt habe.«
Er schaute sich um, als wolle er sich noch von jemand anders verabschieden, und stutzte dann.
»Nanu, Sir, Ihr Freund ist nicht mehr da! Ich habe gar nicht gemerkt, dass er gegangen ist. Er ist wohl ein ziemlich komischer Vogel, nicht?«
»Er geht und kommt sehr plötzlich«, sagte Mr Sattersway. »Das gehört nun einmal zu seinen Eigenarten. Und man merkt nicht immer, wenn er kommt oder geht.«
»Wie ein Harlekin«, sagte Frank Bristow, »kann er sich unsichtbar machen.« Und dann lachte er schallend über seinen Witz.