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Sie hatten die Westküste von Armorica gesichtet, dem Land, das nun »Klein-Britannien« oder Bretagne genannt wurde.
Murchad verkündete: »In ein paar Stunden werden wir die Insel Ushant in Sicht bekommen, die vor seiner Westspitze liegt.«
Fidelma war noch nie in Armorica gewesen, aber sie wußte, daß in den beiden letzten Jahrhunderten Zehntausende von Briten durch die Ausbreitung der Angeln und Sachsen aus ihrem Land vertrieben worden waren und die meisten von ihnen eine neue Heimat bei den Armorikanern gefunden hatten. Andere hatten im Nordwesten Iberias Zuflucht gesucht, und dieses Land, nach dem sie jetzt fuhren, nannte man Galicia. Wieder andere siedelten sich in den fünf Königreichen von Eireann an, allerdings nicht in solcher Zahl wie woanders. Doch in Armorica, unter einem Volk mit ähnlicher Sprache und Kultur, hatten die Flüchtlinge aus Britannien die politische Landschaft so verändert, daß man das Land nun »Klein-Britannien« nannte.
»Auf Ushant werden wir Wasser und frische Lebensmittel an Bord nehmen«, fuhr Murchad fort. »Wir haben noch nicht den halben Weg zurückgelegt, doch danach gibt es keine Gelegenheit mehr für euch, sich die Beine auf festem Boden zu vertreten und eine warme Mahlzeit und ein Bad zu genießen.«
Fidelma hörte seinen Worten nur zerstreut zu. Sie beobachtete, wie sich die Pilger auf dem Hauptdeck ergingen. Sie war verwirrt. Einer von ihnen war ein Mörder, und sie hatte keine Ahnung, wen sie verdächtigen sollte! Sie hatte Bruder Guss’ Geheimnis, daß Schwester Canair ebenfalls tot war, nicht preisgegeben. Sie hoffte, daß so vielleicht jemand seine Kenntnis davon verraten würde, die ihn oder sie als Mörder überführen würde. Die Anschuldigung gegen Schwester Crella ließ sich jedenfalls vorerst nicht beweisen.
Bruder Tola hatte seine gewohnte Stellung an Deck eingenommen, er saß mit dem Rücken an das Wasserfaß neben dem Großmast gelehnt und las in seinem Meßbuch. Die Brüder Dathal und Adamrae spazierten Arm in Arm auf dem Deck herum und lachten unpassenderweise, so meinte Fidelma, über einen gemeinsamen Witz. An der Steuerbordseite saß die hochgewachsene Schwester Ainder und hielt Bruder Bairne einen Vortrag. Schwester Crella wanderte mit verschränkten Armen immer noch erregt auf dem Deck umher und redete mit sich selbst. Fidelma schaute sich nach Bruder Guss um, doch der war nicht zu sehen, ebensowenig wie Schwester Gorman.
»Nun, Fidelma?« Cian war neben ihr aufgetaucht und riß sie aus ihren Gedanken. Sein Ton war spöttisch. »Nach dem Ruf zu urteilen, den du dir in den letzten Jahren erworben hast, hätte ich gedacht, das Rätsel um Schwester Muirgel wäre inzwischen gelöst.«
Es fiel ihr schwer zu glauben, sie sei einmal so unreif gewesen, diesen Mann zu lieben. Sie widerstand der Regung, ihm eine scharfe Antwort zu geben, denn auch ihm wollte sie noch ein paar Fragen stellen. Und nun bot sich die Gelegenheit dazu. Statt einer Antwort fragte sie also kühl: »Wie lange hat deine Affäre mit Schwester Muirgel gedauert?«
Cian fuhr zusammen. Sein überhebliches Lächeln wurde noch breiter.
»Rechnest du jetzt meine Liebesverhältnisse nach? Was willst du über Muirgel wissen?«
»Ich setze lediglich meine Nachforschungen über ihren Tod fort.«
Cian musterte ihre gelassene Miene, zuckte dann leicht mit den Schultern.
»Wenn du es genau wissen willst, nicht sehr lange. Bist du sicher, daß du kein persönliches Interesse an der Antwort hast?«
Fidelma mußte lachen.
»Du schmeichelst dir selbst, Cian - aber das hast du ja immer getan. Schwester Muirgel wurde von jemandem ermordet, den sie kannte. Das sagte ich schon am Frühstückstisch.«
»Willst du mich da hineinziehen?« tobte Cian. »Hat dir dein verletzter Stolz nach so vielen Jahren derart den Sinn verwirrt, daß du mich beschuldigst? Das ist doch völlig absurd!«
»Warum sollte das absurd sein? Bringen Liebende nicht gelegentlich einander um?« fragte sie harmlos.
»Meine Affäre mit Muirgel war lange vorbei, bevor wir auf diese Fahrt gingen.«
»Lange ist ein dehnbarer Begriff.«
»Na ja, ungefähr eine Woche vor unserem Aufbruch.«
»Hast du sie ohne ein Wort verlassen oder hattest du diesmal soviel Mut, es ihr ins Gesicht zu sagen?« fügte sie rücksichtslos hinzu.
Cian lief rot an.
»Tatsächlich war es so, daß sie mich verließ und, ja, sie hat es mir gesagt. So unglaublich es klingt, sie hat mir erklärt, sie liebe jemand anderen - nämlich Bruder Guss, diesen kleinen Idioten.«
Damit bestätigte sich, daß zumindest ein Teil der Geschichte von Bruder Guss der Wahrheit entsprach, obwohl Crella leugnete, daß ihre Freundin ein Verhältnis mit ihm hatte.
»Wie ich dich kenne, Cian, hast du das nicht einfach so hingenommen. Dafür bist du zu eitel. Du mußt doch dagegen protestiert haben.«
Cians herzhaftes Lachen überraschte Fidelma.
»Wenn du es wissen willst, ihr Geständnis hat mich sehr erleichtert, denn ich wollte das Verhältnis von mir aus beenden.«
Das glaubte sie ihm nicht. »Du kannst mich kaum davon überzeugen, daß du dich von einem jungen Burschen wie Guss verdrängen läßt, ohne daß das deinen Stolz verletzt.«
»Wenn du schon die schauerlichen Einzelheiten erfahren willst, Canair und ich liebten uns bereits eine Weile. Ich bemühte mich, Muirgel loszuwerden. Zum Glück machte sie es mir leicht.« An seiner prahlerischen Haltung war zu merken, daß Cian nicht log.
»Wann wurdest du Canairs Liebhaber?«
»Ach, das willst du auch genau wissen! Also wirklich, Fidelma, seit wann frönst du dem Voyeurismus?«
Sie mußte sich beherrschen, um ihm nicht in das höhnisch lachende Gesicht zu schlagen.
»Ich muß dich wohl daran erinnern«, erwiderte sie eisig, »daß ich eine dalaigh bin, die einen Mordfall untersucht.«
»Eine dalaigh meilenweit von unserem Heimatland entfernt, an Bord eines Pilgerschiffs«, spottete Cian. »Du hast kein Recht, in meinen Privatangelegenheiten herumzuschnüffeln, dalaigh.«
»Ich habe jedes Recht dazu. Du hattest also Liebesaffären mit Muirgel und Canair? Wie ich dich kenne, hast du es wahrscheinlich mit den meisten jungen Frauen in Moville getrieben.«
»Eifersüchtig, wie?« höhnte Cian. »Du warst schon immer besitzergreifend und eifersüchtig, Fidelma von Cashel. Versuch deine Schnüffelei nicht als Teil deiner Pflicht auszugeben. Von deinen Schmolltouren hatte ich bereits genug, als wir noch jünger waren.«
»Dein törichter Stolz interessiert mich nicht, Cian. Ich will nur die Wahrheit herausbekommen. Ich muß Muirgels Mörder finden.«
Sie merkte, daß ihre Stimmen immer lauter geworden waren und sie sich fast anschrien. Zum Glück hatten wohl die Geräusche von Wind und Meer ihre Worte unverständlich gemacht, obgleich Murchad, der in der Nähe am Steuerruder stand, so bemüht nach See hinausblickte, als sei er verlegen. Er mußte ihren Wortwechsel mitgehört haben.
Fidelma fiel plötzlich auf, daß die junge, naive Schwester Gorman unbemerkt an Deck gekommen war, in der Nähe stand und sie mit unverhohlener Neugier beobachtete. Sie zupfte an einem Schal, den sie sich zum Schutz vor dem kühlen Wind um die Schultern gelegt hatte. Als ihr Blick dem Fidelmas begegnete, fing sie an zu kichern und zu singen.
Cian stieß einen unterdrückten Ausruf des Unwillens aus, wandte sich von Fidelma ab, rempelte das Mädchen leicht an und verschwand den Niedergang hinab. Schwester Gorman lachte schrill auf.
Gorman ist ein seltsames kleines Ding, dachte Fidelma. Sie scheint in der Lage, mühelos ganze Passagen aus der Heiligen Schrift zu zitieren. Woher stammte dieser Text jetzt gerade, aus dem Hohelied Salomos? Schwester Gorman blickte auf, und als ihre Augen erneut Fidelmas trafen, lächelte sie wieder - ein merkwürdiges, humorloses Lächeln, nur eine Bewegung ihrer Gesichtsmuskeln. Dann wandte sie sich ab und ging weg.
»Schwester Gorman!« Fidelma hatte sich vorgenommen, einige Zeit mit dem Mädchen zu verbringen, denn sie war sichtlich überreizt, und niemand schien sich um sie zu kümmern. Das Mädchen schaute ihr mißtrauisch entgegen. »Ich hoffe, du machst dir nicht immer noch Vorwürfe wegen dessen, was mit Schwester Muirgel passiert ist?«
Die Miene des Mädchens wurde noch ängstlicher.
»Was meinst du damit?«
»Nun, als wir glaubten, sie sei über Bord gefallen, hast du mir doch gesagt, daß du dich schuldig fühltest, weil du sie verflucht hattest.«
»Ach das!« Gorman machte eine wegwerfende Geste. »Da war ich einfach albern. Natürlich hat nicht mein Fluch sie umgebracht. Das ist nun durch ihren Tod erwiesen. Wenn mein Fluch sie wirklich getötet hätte, dann hätte sie nicht noch zwei Tage gelebt.«
Fidelma hob leicht die Brauen bei der offenkundigen Gefühllosigkeit im Ton des Mädchens. Gorman machte sichtlich eigenartige Stimmungswechsel durch.
»Wie du weißt«, sprach Fidelma eilig weiter, »fragte ich jeden, wo er sich unmittelbar vor dem Frühstück befand Ich glaube, du hast gesagt, du warst in deiner Kajüte?«
»Ja.« Die Antwort war kurz.
»Zusammen mit Schwester Ainder, mit der du die Kajüte teilst?«
»Sie war eine Weile hinausgegangen.«
»Ach ja, das hat sie auch gesagt.«
»Muirgel ist tot. Du verschwendest nur deine Zeit mit solchen Fragen«, fauchte Gorman.
Fidelma stutzte bei ihrem rüden Ton.
»Es ist meine Pflicht«, erklärte sie und wechselte dann das Thema, um das Mädchen zu beruhigen. »Wie ich höre, singst du gern Verse aus der Bibel.«
»Alles ist in den heiligen Worten enthalten«, erwiderte Gorman beinahe arrogant. »Alles.« Plötzlich starrte sie Fidelma fest in die Augen, und auf ihrem Gesicht bildete sich wieder dieses unheimliche Lächeln.
Unwillkürlich erschauerte Fidelma.
»Ich verstehe dich nicht .«
Gorman stampfte tatsächlich mit dem Fuß auf.
»Jeremia. Du kennst doch wohl die Bibel? Das ist eine passende Grabschrift für Muirgel.«
Damit wandte sie sich ab und eilte an der hohen Gestalt Schwester Ainders vorbei. Diese wollte mit ihr sprechen, aber das Mädchen hielt nicht an, und die Frau machte ihrer Empörung mit einem Ausruf Luft, weil Gorman sie fast aus dem Gleichgewicht gebracht hatte.
»Ist mit Schwester Gorman etwas nicht in Ordnung?« fragte sie Fidelma.
»Ich glaube, sie braucht dringend eine Freundin, die ihr raten kann«, antwortete Fidelma.
Schwester Ainder lächelte tatsächlich.
»Das mußt du mir nicht erst sagen. Sie bleibt immer für sich, redet zuweilen mit sich selber, als brauchte sie niemand anderen. Aber man sagt ja auch, daß die wahren Heiligen Engel sehen und mit ihnen sprechen. Ich würde sie nicht verurteilen, denn vielleicht hat sie einen stärkeren Glauben als wir anderen alle zusammen.«
Fidelma blieb skeptisch.
»Ich meine, sie ist einfach eine Seele in Nöten.«
»Aber Wahnsinn kann auch eine Gabe Gottes sein, vielleicht ist sie damit gesegnet.«
»Glaubst du, daß sie wahnsinnig ist?«
»Wenn nicht wahnsinnig, dann ein bißchen wunderlich, wie? Sieh mal, da ist sie wieder und murmelt Verwünschungen und Flüche.«
Schwester Ainder preßte die Lippen zusammen und wollte dieses Thema anscheinend nicht weiter verfolgen, denn sie bemerkte: »An dieser Pilgerfahrt von Mönchen und Nonnen zu einem heiligen Schrein fehlt offensichtlich etwas.«
»Nämlich?« fragte Fidelma vorsichtig.
»Die Religion selbst. Ich fürchte, von wenigen Ausnahmen abgesehen ist Gott nicht mit denen, die diese Reise machen.«
»Wie kommst du zu diesem Urteil?«
Schwester Ainders Augen bohrten sich in Fidelmas Gesicht.
»Es war zweifellos nicht die Lehre Christi, die die Hand führte, die Schwester Muirgel tötete, und sie wiederum war keine richtige Nonne. Sie wäre in einem Bordell besser aufgehoben gewesen.«
»Du mochtest Muirgel also nicht?«
»Wie ich dir schon gesagt habe, ich kannte sie nicht gut genug, um sie nicht zu mögen. Mir hat nur ihr freizügiger Umgang mit Männern nicht gefallen. Aber damit war sie ja nicht fehl am Platz unter unseren sogenannten Pilgern.«
»Ich nehme an, du zählst dich nicht zu denen, die >fehl am Platz< sind? Gibt es noch weitere Ausnahmen?«
»Bruder Tola natürlich.«
»Aber ich nicht?« lächelte Fidelma.
Schwester Ainder schaute sie mitleidig an.
»Du bist keine Nonne. Dir geht es um das Recht, und eine Schwester des Glaubens bist du nur zufällig.«
Fidelma hatte Mühe, eine unbewegte Miene zu bewahren. Sie hatte nicht gedacht, daß es so auffällig wäre. Erst Bruder Tola und nun Schwester Ainder fühlten sich imstande, ihre Hingabe an Gott in Zweifel zu ziehen.
»Und was ist mit den anderen in der Gruppe? Meinst du, die gehörten auch nicht ins Kloster?«
»Mit Sicherheit nicht. Cian zum Beispiel ist ein Schürzenjäger ohne jede Moral und ohne einen Gedanken an andere Menschen. Er besitzt keinerlei Mitgefühl. Bei seiner Eitelkeit käme es ihm nie in den Sinn, daß er vielleicht andere verletzt. Krieger war wahrscheinlich der richtige Beruf für ihn. Das Schicksal ließ ihn Zuflucht in einem Kloster suchen. Das war ein falscher Entschluß.«
Dann wies Schwester Ainder auf Dathal und Adamrae. »Diese jungen Männer sollten lieber ... na ja!« Ihr Gesicht drückte ihr Mißfallen aus.
»Würdest du sie verurteilen?« forschte Fidelma.
»Unsere Religion verurteilt sie. Denk an die Worte, die Paulus den Römern schrieb: >Desgleichen auch die Männer haben verlassen den natürlichen Gebrauch des Weibes und sind aneinander erhitzt in ihren Lüsten und haben Mann mit Mann Schande getrieben und den Lohn ihres Irrtums (wie es denn sein sollte) an sich selbst empfangen. Und gleichwie sie nicht geachtet haben, daß sie Gott erkenneten, hat sie Gott auch dahingegeben in verkehrten Sinn, zu tun, was nicht taugt.<«
Fidelma verzog das Gesicht.
»Wir wissen alle, daß Paulus von Tarsus ein Asket war, der an Enthaltsamkeit und strenge Moral glaubte.«
Schwester Ainder schüttelte ärgerlich den Kopf.
»Es ist ganz klar, Schwester, daß du nicht die Worte beachtest, die Gott zu Mose sprach. Drittes Buch Mose, Kapitel achtzehn, Vers zweiundzwanzig: >Du sollst nicht bei Knaben liegen wie beim Weibe; denn es ist ein Greuel.< Ein Greuel!« wiederholte sie zornig.
Fidelma wartete einen Moment und sagte dann: »Ist nicht die Grundlage unseres Glaubens die Rettung aller? Wir sind doch alle Sünder und bedürfen alle der Rettung. Gott hat die Welt nicht verurteilt, deshalb haben wir kein Recht, sie zu verurteilen. Ich antworte dir mit den Worten des Johannesevangeliums: >Denn Gott hat seinen Sohn nicht gesandt in die Welt, daß er die Welt richte, sondern daß die Welt durch ihn selig werde.<«
Schwester Ainder lachte sogar, wenn auch säuerlich.
»Du bist wirklich eine dalaigh, zitierst Sätze von hier und da zur Bekräftigung deiner Argumente. Du bist und bleibst eine Frau des Gesetzes, und doch sprichst du davon, die Welt nicht zu richten?«
»Ich richte nicht. Ich suche die Wahrheit - und in der Wahrheit liegt auch die Verantwortlichkeit.«
Schwester Ainder schnaubte und beendete das Gespräch. Doch dann wandte sie sich noch einmal um.
»Bruder Bairne ist vermutlich der einzige, den ich außerdem noch von diesem Narrenschiff retten würde«, fügte sie hinzu. »Er hat eine gewisse Anlage zur Frömmigkeit, aber die anderen, Schwester Crella zum Beispiel, na, die ist wohl auch nicht besser als ihre Freundin Muirgel. Ich nehme es auf meinen Eid, daß wir auf diesem winzigen Schiff, das die Wogen durch-pflügt, alle sieben Todsünden an Bord haben, die der lebendige Gott verflucht hat. Es gibt Zorn und Geiz, Neid und Unmäßigkeit, Unkeuschheit und Stolz und Trägheit.«
Fidelma blickte die strenge Nonne mit unverhohlener Belustigung an.
»Hast du alle diese Sünden bei uns festgestellt?«
Schwester Ainders Miene wurde nicht freundlicher.
»Du wirst bemerken, daß die Unkeuschheit auf diesem Schiff an erster Stelle steht. Diese Sünde begehen anscheinend viele aus unserer Gruppe.«
»Ach ja?« Fidelma lächelte leise. »Gehöre ich auch zu denen, die dieser Sünde frönen?«
Schwester Ainder schüttelte den Kopf.
»O nein, Fidelma von Cashel. Du bist der schlimmsten Sünde unter diesen sieben schuldig - denn deine Sünde ist der Stolz. Mit Stolz verdeckt man die eigenen Fehler.«
Fidelma spürte, wie ihre Miene sich verhärtete. Hätte ihr Schwester Ainder eine der sechs anderen Sünden vorgeworfen, hätte sie ehrlich darüber lachen können, aber auf den Stolz war sie nicht gefaßt. Der Stich schmerzte, weil Fidelma sich selbst schon lange darum Sorgen machte. Sie war tatsächlich stolz auf ihre Fähigkeiten, aber das war keine Eitelkeit. Darin bestand ein Unterschied. Doch sie war sich dessen nie ganz sicher. Sie hielt falsche Bescheidenheit für schlimmer als den Stolz auf die eigenen Erfolge.
Schwester Ainder lächelte zufrieden, als sie den Widerstreit in Fidelmas Miene beobachtete.
»Sprüche Salomos, Schwester Fidelma«, erklärte sie. »Sprüche sechzehn, Vers achtzehn: >Wer zu Grunde gehen soll, der wird zuvor stolz; und Hochmut kommt vor dem Fall.<«
Fidelma errötete vor Zorn.
»Und welche Sünde gestehst du ein, Ainder von Moville?« fragte sie gereizt.
Schwester Ainder lächelte dünn.
»Ich halte alle Gebote des Herrn«, erwiderte sie selbstsicher.
Fidelma hob leicht die Brauen.
»Wer Rotz an der Backe hat, freut sich über den Rotz an der Backe des anderen«, sagte sie rücksichtlos.
Es war ein altes ländliches Sprichwort, das Fidelma einmal von einem Bauern gehört hatte. Es war grob und kräftig, doch Fidelma ärgerte sich plötzlich über diese eingebildete Frau und sprach es unbedacht aus.
Schwester Ainder schäumte vor Wut bei dieser Ungezogenheit.
Fidelma hörte, wie der nahe dabeistehende Murchad vor Vergnügen wieherte. Diese Art von Humor genoß er.
Doch kaum hatte Fidelma das Sprichwort losgelassen, bereute sie es und wollte sich dafür entschuldigen, daß sie sich hatte von ihrem Zorn hinreißen lassen. Aber Schwester Ainder war schon davonstolziert.
Schuldbewußt schaute Fidelma den Kapitän an. Murchad grinste noch und unterdrückte ein Lachen.
»Tut mir leid, Lady, aber du hast recht. Die Frau ist voll von genau dem Stolz, den sie dir vorwirft.«
Fidelma war dankbar für seine Unterstützung, aber immer noch reuevoll.
»Im Zorn gesprochene Worte, ob sie nun richtig sind oder nicht, haben meistens keine Wirkung, außerdem .«
Sie wurde von einem Schrei unterbrochen. Es war kein Ruf des Ausgucks, sondern ein Warnschrei. Jemand auf dem Hauptdeck, anscheinend Bruder Bair-ne, hatte ihn ausgestoßen. Er zeigte nach vorn.
Auf dem Vorderdeck standen sich zwei Gestalten gegenüber, Schwester Crella und dicht vor ihr Bruder Guss. Er wich vor ihr zurück in einer beinahe unterwürfigen Haltung. Bruder Bairne wollte ihn mit seinem Ruf warnen, weil Guss rückwärts gehend der Reling gefährlich nahe kam.
Der Warnschrei kam zu spät.
Bruder Guss taumelte an der Steuerbordkante und fiel mit einem Angstschrei rücklings ins Meer.
Schwester Crella stand da und schien mit ausgestreckten Händen auf die Stelle zu weisen, wo er über Bord gefallen war.
Murchad brüllte: »Mann über Bord!«
Viele an Deck, auch Fidelma, rannten zur Steuerbordseite. Das Schiff machte schnelle Fahrt, und sie sahen, wie Bruder Guss’ Kopf beunruhigend rasch achteraus verschwand.
»Klar zum Halsen!« rief Murchad.
Wie durch Zauber war die Mannschaft zur Stelle und holte das Segel ein, während Gurvan und der andere Rudergänger sich gegen das Steuerruder stemmten und das Schiff mit anscheinend unglaublicher Langsamkeit in einem weiten Bogen drehten.
Fidelma war über das Hauptdeck zu dem kleinen Vorderdeck gelaufen.
Schwester Crella stand noch dort. Sie hatte sich jetzt vorgebeugt und die Arme um die Schultern geschlungen. Sie sah Fidelma auf sich zukommen. Ihr Gesicht war weiß, die Augen hatte sie weit aufgerissen. Der Schock stand ihr deutlich im Gesicht.
»Er ... er fiel ...« setzte sie hilflos an.
»Was hast du zu ihm gesagt?« fuhr Fidelma sie an. »Was waren deine Worte?«
Crella starrte sie an, als habe sie die Sprache verloren.
»Er wich vor dir zurück, hast du ihm gedroht?« drang Fidelma in sie.
»Gedroht?« Schwester Crella schaute sie verwirrt an. »Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Warum ist er dann so angstvoll rückwärts von dir weg gegangen, daß er über Bord fiel?«
»Wie soll ich das wissen?«
»Was hast du zu ihm gesagt?«
»Ich hab ihm gesagt, ich wüßte von der siebenten Vereinigung, weiter nichts.«
»Wovon?« Fidelma tappte im dunkeln.
»Das solltest du doch wissen«, erwiderte Schwester Crella und riß sich zusammen. Sie setzte eine trotzige Miene auf. »Jetzt laß mich in Ruhe. Sie werden ihn gleich rausfischen, und dann kannst du ihn selber fragen.«
Schwester Crella schob sich an Fidelma vorbei und rannte davon.
Fidelma eilte zu Murchad zurück. Seeleute und Passagiere standen auf beiden Seiten an der Reling und spähten nach Guss aus.
»Können wir ihn retten?« fragte Fidelma atemlos, als sie Murchad erreichte.
Der Kapitän schaute düster drein.
»Ich fürchte, wir sehen ihn überhaupt nicht mehr.«
»Was? Wir kamen doch so dicht an ihm vorbei.«
Der Kapitän blieb bei seiner trüben Stimmung.
»Auch wenn wir sofort die Segel gerefft und gewendet haben, sind wir doch ein ganzes Stück von der Stelle entfernt, an der er hineingefallen ist. Ich segle in meinem Kielwasser zurück, aber ich finde keine Spur von ihm.«
Er blickte zu dem Ausguck im Mastkorb hinauf.
»Siehst du was, Hoel?« rief er ihn an.
Der verneinte.
»Wir suchen, solange wir können. Er hat nur eine Chance, wenn er ein ausdauernder Schwimmer ist.«
Fidelma schaute hinüber zu Bruder Bairne, der auch sorgenvoll die See musterte.
»Weißt du, ob Guss gut schwimmen kann?« fragte sie.
Bruder Bairne schüttelte den Kopf.
»Selbst ein guter Schwimmer hält es in diesem Meer nicht lange aus.«
»Ich versuche mein Bestes«, meinte Murchad. »Mehr kann ich nicht tun.«
Fidelma trat zu Bruder Bairne.
»Als du den Warnruf ausgestoßen hast, was hast du da gesehen?« fragte sie ihn so leise, daß die anderen es nicht hören konnten.
»Gesehen? Ich schrie eine Warnung, weil Guss zu dicht an den Rand taumelte.«
»Hast du gesehen, warum er sich rückwärts in diese gefährliche Stellung begab?«
»Ich glaube nicht, daß er das wahrgenommen hat.«
Fidelma wurde ungeduldig.
»Hast du gesehen, daß Schwester Crella ihn bedroht hat?« Bruder Bairne machte ein verstörtes Gesicht.
»Schwester Crella ihn bedroht? Meinst du das im Ernst?«
»Du hast doch bemerkt, daß Schwester Crella mit ihm auf dem Vorderdeck stand?«
»Natürlich. Sie sprachen miteinander, und dann ging Bruder Guss rückwärts, ein bißchen schnell, wie mir schien. Ich warnte ihn mit meinem Ruf, aber er stolperte und fiel.« Bruder Bairne schaute ihr mit einiger Verwirrung ins Gesicht.
»Vielen Dank«, sagte Fidelma. »Ich wollte nur wissen, was du gesehen hast, weiter nichts.«
Mit gesenktem Kopf ging sie nachdenklich zurück zum Achterdeck. Die Minuten verstrichen, und alle wurden immer bedrückter. Erst eine Stunde später brach Murchad die Suche ab.
»Ich fürchte, wir können nichts mehr für den armen Jungen tun«, erklärte er Cian, der wieder seine Führungsrolle in der Gruppe herausstrich. »Ich nehme an, er ist beinahe sofort untergegangen. Es gibt keine Hoffnung mehr. Es tut mir sehr leid.«
Fidelma ging nach unten zu Schwester Crellas Kajüte.
Schwester Crella lag auf der Koje und starrte an die Decke. Als Fidelma eintrat, setzte sie sich mit hoffnungsvollem Gesicht auf, doch sobald sie Fidelmas grimmige Miene sah, versteinerte ihre eigene.
»Murchad hat die Suche nach Bruder Guss aufgegeben«, erklärte Fidelma. »Es besteht keine Hoffnung mehr, ihn noch lebend zu bergen.«
Schwester Crellas Gesicht blieb unbewegt.
»Vielleicht sagst du mir jetzt, was du gemeint hast?« fuhr Fidelma fort.
Schwester Crella antwortete mit gepreßter Stimme »Für eine dalaigh wie dich sollte es doch leicht zu verstehen sein, was die siebente Vereinigung bedeutet.«
»Die siebente Vereinigung?« Jetzt begriff Fidelma. »Meinst du die siebente Form der Vereinigung von Mann und Frau? Den Rechtsausdruck für heimliche sexuelle Beziehungen?«
Schwester Crella schloß die Augen und gab keine Antwort.
»Ja, ich kenne das Gesetz über die siebente Vereinigung«, meinte Fidelma, »aber es enthält nichts, was ich mit Bruder Guss in Zusammenhang bringen könnte. Warum hat er auf diese Weise reagiert?«
»Ich habe ihm nur gesagt, ich wüßte, wie er Muirgel belästigt hat.« Mit trotzigem Blick fügte sie hinzu:
»Weißt du, ich glaube, Guss hat sie umgebracht, weil sie auf seine Annäherungsversuche nicht einging.«
Fidelma setzte sich auf einen Stuhl.
»Belästigt? Das ist ein interessantes Wort.«
»Wie soll man es denn sonst nennen, wenn jemand versucht, einem anderen Menschen seine Gefühle aufzudrängen?« wollte Schwester Crella wissen.
»Also du glaubst, Bruder Guss wollte Schwester Muirgel seine Gefühle aufdrängen und sie ist nicht darauf eingegangen?«
»Natürlich. Er war völlig verknallt in sie - genau wie Bruder Bairne. Muirgel wollte nichts mit ihm zu tun haben. Da bin ich mir sicher.«
»Woher willst du das so genau wissen?«
»Weil Muirgel meine Freundin war. Ich hab dir schon gesagt: Zwischen uns gab es keine Geheimnisse.«
»Trotzdem hat Muirgel dir nicht erzählt, daß sie für ihr Leben fürchtete und sich auf dem Schiff versteckt hielt, nicht wahr? Wenn es kein Verhältnis gab, warum hat Muirgel dann Guss gebeten, sie zu verbergen -selbst vor dir?«
Crella starrte Fidelma zornig an.
»Guss hat Lügen über Muirgel verbreitet.«
»Wie erklärst du es dann, daß es Guss war, an den sich Muirgel wandte, als sie sich bedroht fühlte?« be-harrte Fidelma. »Daß es Guss war, der ihr half, sich die beiden letzten Tage zu verstecken?«
»Dieser Milchbart hat behauptet, er wäre Muirgels Liebhaber. Deswegen habe ich ihm die siebente Vereinigung vorgehalten.«
Plötzlich beugte sie sich nieder, holte mit einer fließenden Bewegung unter der Koje ein langes, schmales Messer hervor, stand auf und reckte es Fidelma entgegen. Fidelma war rasch auf den Beinen und reagierte blitzschnell in der Annahme, sie müsse sich gegen einen Angriff wehren. Doch Schwester Crella stand nur da und starrte auf das Messer. Dann hielt sie Fidelma den Griff hin.
»Hier, nimm es.«
Fidelma war überrascht.
»Na los!« fauchte Schwester Crella. »Nimm’s schon! Du siehst ja, daß noch getrocknetes Blut dran ist.«
»Was ist das?«
»Das Messer, mit dem wahrscheinlich meine arme Freundin umgebracht wurde, was sonst?«
Fidelma nahm ihr vorsichtig das Messer aus der Hand. Es stimmte, daß getrocknetes Blut an der Klinge haftete. Ob es wirklich die Tatwaffe war, konnte sie nicht wissen. Andererseits konnte sie auch nicht beweisen, daß es nicht die Mordwaffe war. Es war ein Messer, wie man es gewöhnlich zum Fleischschneiden benutzte.
»Wieso vermutest du, daß dies die Tatwaffe ist?« Sie formulierte die Frage vorsichtig. »Wie kommst du zu dem Messer?«
»Bruder Guss hat es in meine Kajüte geschmuggelt.« Crella schluckte. »Ich war zum Frühstück gegangen. Dann kamst du dazu und berichtetest von Muirgels Tod. Als ich zurückkehrte, stieß ich im Gang auf Guss. Mir gefiel es nicht, wie er mich anstarrte. Er schob sich an mir vorbei und stieg an Deck. Ich ging weiter in meine Kajüte. Da fand ich dann das Messer.«
Fidelma richtete den Blick auf die Koje; von dort, wo sie stand, konnte man nicht unter die Koje sehen.
»Wo war es versteckt?« fragte sie.
»Unter der Koje.«
»Wie hast du es entdeckt?«
»Durch Zufall.«
»Auch durch Zufall kann man nicht durch feste Gegenstände hindurchschauen! Von keinem Punkt in diesem Raum wäre es zu erblicken, falls man nicht auf Knien unter der Koje nachsieht.«
Crella ließ sich nicht beirren.
»Ich kam zurück mit einem Apfel in der Hand. Als ich die Tür öffnete, fiel mir der Apfel herunter. Ich bückte mich und hob ihn auf, und dabei sah ich das Messer.«
»Du hast aber nicht selbst gesehen, daß Guss es dort hingelegt hat, nicht wahr? Aus deiner Schilderung geht nicht hervor, weshalb du ihn dafür verantwortlich machst.«
»Weil wir alle beim Frühstück saßen - mit einer Ausnahme. Bruder Guss war nicht da. Du behauptest, er sei in seiner Kajüte gewesen, aber ich sah ihn aus seiner Kajüte herauskommen. Guss hat versucht, mir den Mord an Muirgel anzuhängen. Allen hat er erzählt, ich hätte sie umgebracht.« Sie runzelte die Stirn. »Dir muß er es doch auch gesagt haben.«
»Von wem hast du gehört, er habe allen erklärt, du wärst die Mörderin?« wollte Fidelma wissen.
Crella zögerte. »Von Bruder Cian. Guss hatte es ihm gesagt, und Cian sagte es mir.«
»Was hast du da getan? Du hattest das Messer gefunden, und Cian hatte dir gesagt, daß Guss dich beschuldigte. Was geschah dann?«
»Ich war so wütend, daß ich an Deck stürmte und Guss zur Rede stellte.«
»Aber das Messer hast du in der Kajüte gelassen.«
»Woher weißt du das?«
»Weil du es nicht in der Hand hieltest, als du an Deck standest. Du hast eben erst unter die Koje gelangt und es hervorgeholt.«
»Dann habe ich es wohl da gelassen.«
»Daher ist es merkwürdig, daß du ihm nicht die Waffe vorgehalten hast. Wäre das nicht die normale Reaktion gewesen?«
»Das weiß ich nicht. Ich wollte ihm nur zu verstehen geben, daß ich sein Geschwätz von seinen sexuellen Beziehungen mit Muirgel kannte. Ich wollte ihn nur warnen, daß er mit solchen Behauptungen nicht durchkäme!«
»Und das ist er ja auch nicht, nicht wahr? Er hatte solche Angst vor dir, daß er zurückwich und über Bord fiel.« Schwester Crella wollte protestieren, doch Fidelma fuhr unerbittlich fort. »Ein wirklich kaltblütiger Mörder war dieser Bruder Guss, der nicht nur tötete, sondern auch falsche Spuren legte - und dann, als er vor aller Augen einer Frau gegenüberstand, so erschrocken war, daß er sich buchstäblich über Bord treiben ließ.«
Schwester Crella spürte den Sarkasmus in ihrer Stimme.
»Er hat das Messer bei mir versteckt, und er hat mich beschuldigt!«
»Schade, Bruder Guss können wir nun nicht mehr befragen«, bemerkte Fidelma trocken. »Mit seinem Tod ist anscheinend alles sauber erledigt.«
Crella sah sie mißtrauisch an.
»Ich weiß nicht, was du damit meinst.«
»Sag mal, weshalb bist du so sicher, daß Muirgel kein Verhältnis mit Guss hatte? Das verstehe ich immer noch nicht.«
Crella schob trotzig das Kinn vor.
»Du glaubst mir nicht?«
»Hatte Muirgel viele Liebesaffären?«
»Wir waren beide normale junge Frauen. Wir hatten beide unsere Liebesgeschichten.«
»Also hat sie dir immer anvertraut, mit wem sie ein Verhältnis hatte?«
Crella schnaubte unwillig.
»Natürlich.«
»Wann hat sie dir das letzte Mal von einer Affäre erzählt?«
»Das habe ich schon erwähnt. Sie hatte ein Verhältnis mit Cian. Ich hatte übrigens selbst ein kurzes Verhältnis mit Cian, bis ich von ihm genug hatte.«
»War es nicht in Wahrheit so, daß Cian dich Muir-gels wegen fallengelassen hat?«
Crella lief rot an.
»Mich läßt niemand fallen.«
»Hat dich das nicht eifersüchtig und zornig gemacht?«
»Nicht so sehr, daß ich sie umgebracht hätte! Werd nicht albern. Wir haben oft unsere Liebhaber getauscht. Wir waren Kusinen und enge Freundinnen, vergiß das nicht.«
»Und du meinst, sie habe immer noch ein Verhältnis mit Cian gehabt und nicht mit Guss?«
»Nicht mit Guss, aber ich glaube, sie und Cian hatten einen Streit, kurz bevor wir von Moville aufbrachen.«
»Weshalb bist du so sicher, daß sie kein Verhältnis mit Guss hatte? Trotz Muirgels offen gezeigten freizügigen Ansichten?«
»Weil sie es mir gesagt hätte«, erwiderte Crella hartnäckig. »Guss wäre der letzte gewesen, mit dem sie sich eingelassen hätte. Er war zu ernst. Für mich liegt es auf der Hand, daß Guss sich in sie verknallte, sie ihn abwies und er daraufhin ihren Tod plante und sie umbrachte.«
»Wie erklärst du dir dann, warum und wie Muirgel sich zwei Tage auf diesem Schiff versteckte und alle glauben machen wollte, sie sei über Bord gespült worden?«
»Vielleicht wollte sie so Guss’ unwillkommenen Nachstellungen entgehen.«
»Warum hat sie dich dann nicht in das Geheimnis eingeweiht? Tut mir leid, Crella, aber es gibt Beweise dafür, daß Guss tatsächlich ihr Geliebter war. Es geht noch um eine andere Sache. Wie erklärst du dir das mit Schwester Canair?«
Fidelma sah dabei Crella tief in die Augen, um ihre Reaktion zu prüfen.
Es war nur ein leichter Ausdruck von Verwunderung zu bemerken.
»Schwester Canair? Was ist mit ihr?«
»Behauptest du, daß Guss sie auch umgebracht hat?«
Schwester Crellas Verwunderung nahm zu und war nicht geheuchelt.
»Wie kommst du darauf, daß Schwester Canair umgebracht wurde?« wollte sie wissen. »Du bist doch erst zu uns gestoßen, als wir schon ausliefen. Woher weißt du überhaupt etwas von Schwester Canair?«
Fidelma betrachtete Crella einige Augenblicke, dann lächelte sie leicht.
»Keine Ursache«, sagte sie und beendete das Thema. »Gar keine Ursache.«
Sie drehte sich um und verließ die Kajüte, das Messer in der Hand.
Entweder sagte Schwester Crella die Wahrheit oder ... Fidelma schüttelte den Kopf. Dies war der undurchsichtigste Fall, mit dem sie bisher zu tun gehabt hatte. Sagte Schwester Crella die Wahrheit, dann mußte Guss ein außerordentlicher Lügner gewesen sein. Sagte Bruder Guss die Wahrheit, dann mußte Crella lügen. Wer sagte die Wahrheit? Wer log? Sie hatte gelernt, daß die Wahrheit groß sei und sich immer durchsetze. Aber in diesem Fall hatte sie keine Ahnung, woran sie die Wahrheit erkennen sollte.
Es hätte keinen Zweck, Crella die ganze Geschichte zu unterbreiten, die Guss erzählt hatte. Sie würde einfach leugnen, falls sie schuldig war, und ohne weitere Beweise führte das zu nichts. Anscheinend war Fidelma in eine Sackgasse geraten.