177531.fb2 Tod auf der Northumberland - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 11

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Da man Charleston noch nicht erreicht hatte, war das zumindest eine Übergangslösung, die Emmeline und Gowers unabhängig voneinander erleichtert begrüßten. Außerdem hatte der Investigator diese Gelegenheit genutzt, die Passagierliste der Northumberland in eines seiner Gedächtnissysteme zu prägen.

Doktor Francis Marcellus Van Helmont erwies sich als ein etwa fünfzigjähriger Mann mittlerer Größe mit ungeheuer klaren, fast himmelblauen Augen, die nur wenig zu seinen grauen, hier und da sogar schon weißen Haaren passten. Die steilen Falten, die neben beiden Nasenflügeln begannen und sich irgendwo im Dickicht eines hingebungsvoll gepflegten Barts verliefen, wirkten allerdings wie frisch gezogen und deuteten entweder auf ein akutes Magenleiden oder diverse, noch nicht allzu lange zurückliegende Erlebnisse, die mit nervlicher Anspannung verbunden gewesen sein mussten. Dazu kam ein leichtes Humpeln, vermutlich von einer Kriegsverletzung. Und da war noch etwas.

Es gibt Menschen, die man belügen kann, die meisten eigentlich und in allem. Es gibt aber auch Menschen, die jede Lüge erkennen, als könnten sie sie riechen. Manche machen etwas aus dieser Gabe, andere wissen nicht einmal, dass sie sie haben. Und die einen wie die anderen wurden von John Gowers heiß beneidet, der diese Fähigkeit, diesen Instinkt, schon aus beruflichen Gründen verzweifelt gern besessen hätte. Ihm war allerdings nur gegeben, solche Menschen auf den ersten Blick zu erkennen, und deshalb wusste er, dass er Francis Van Helmont nicht belügen konnte.

Der Arzt war zunächst nicht begeistert von Gowers, denn im Gegensatz zu diesem etwas abgerissenen Yankee reiste er mit seiner gesamten Habe, diversen Koffern und Kisten sowie einer aberwitzig großen Truhe voller Bücher, schon beinahe ein Sarg. Zur Verärgerung des Quartiermeisters wollte er dieses Gepäck nicht im Frachtraum unterbringen, sondern in seiner eigenen Welt weiterleben, auch wenn sie verdammt eng würde.

Tatsächlich sah die Kabine aus wie ein überquellendes Magazin, standen Kisten und Kästen bis an die Decke gestapelt, und der Arzt meinte wenig diplomatisch: »Sieht so aus, als würden Sie wieder zu Ihrer Schwester ziehen!«

Gowers wartete mit seiner Antwort, bis alles verstaut war und sie allein waren.

»Miss Thompson ist nicht meine Schwester, Doktor Van Helmont.«

»Ah«, sagte der Arzt und zog rasch ein paar falsche Schlüsse. »Dann sollte es Ihnen ein Leichtes sein, sich wieder mit der jungen Dame zu versöhnen und die Reise in angenehmerer Gesellschaft zu verbringen als ausgerechnet in meiner.«

»Sie ist nicht meine Verlobte, und ich habe sie auch nicht entführt.«

»Hm.« Van Helmonts Augen funkelten zum ersten Mal ein wenig belustigt. »Hat sie Sie entführt?«

Gowers lachte. »Streng genommen ja. Mein Name ist John Gowers, Investigator.«

»Was?«

»Privatdetektiv. Miss Thompson hat mich engagiert, um den Mord an ihrem Vater aufzuklären. Inkognito, Sie verstehen.«

»Nein, noch nicht ganz.«

Er verstand es allerdings nach einer Viertelstunde und einer ersten gemeinsamen Zigarre. Jedenfalls sagte er: »Nun, ich nehme nicht an, dass ich das alles hier an Bord überprüfen kann.«

»Ich würde Sie jedenfalls bitten, das nicht zu tun. Es gehört zum Wesen einer Inkognito-Untersuchung, dass niemand weiß, dass er untersucht wird. Allenfalls könnten Sie mit Miss Thompson sprechen.«

Van Helmont winkte ab, wobei er gleichzeitig den gläsernen Aschenbecher benutzte, den Gowers in der Messe hatte mitgehen lassen.

»Schon gut, Mr. Wie-immer-Sie-heißen. Immerhin ist es möglich, dass eine gute Geschichte daraus wird.«

33.

In diesem Moment klopfte es an der Tür. Van Helmont erhob sich von seiner Büchertruhe, die gleich nach dem Einräumen der Kabine zum Sitzmöbel umfunktioniert worden war, und öffnete.

»Besuch für Sie, Mr. Thompson!«

Es war Leutnant Carver, der schüchtern zur Tür hereinlächelte, dabei aber so nervös von einem Bein aufs andere stieg, als hätte er einen Mord zu gestehen. »Darf ich Sie kurz sprechen, Mr. Thompson?«

»Nur herein«, sagte Gowers.

»Unter vier Augen, wenn möglich!« Der Leutnant sah kurz zu Van Helmont, der wieder auf seiner Kiste Platz genommen hatte und auch keine Anstalten machte aufzustehen.

»Oh, tun Sie sich keinen Zwang an«, sagte Gowers und stellte die Herren vor: »Leutnant Carver – Doktor Van Helmont.«

»Es ist aber persönlich«, beharrte der rotohrige Leutnant. »Nur für Sie bestimmt, Sir!«

Einen Moment lang dachte Gowers, es hätte vielleicht mit dem Fall zu tun. Das jungenhaft offene Gesicht des ungefähr zwanzigjährigen Offiziers sprach allerdings gegen diese Annahme. Ein Blick auf Van Helmont sagte ihm außerdem, dass er immer noch aus der Kabine hinausfliegen könnte.

»Na kommen Sie, alter Junge«, sagte er deshalb, »Doktor Van Helmont ist mein Arzt. Ich habe keine Geheimnisse vor ihm, und ich möchte ihm auch nicht das Gefühl geben, ich hätte welche. Was haben Sie auf dem Herzen?«

Van Helmont grinste und schien genau zu wissen, dass er eingewickelt werden sollte. Irritiert wegen dieses Grinsens und noch immer sehr verlegen, kam Leutnant Carver endlich in die Kabine und allmählich sogar zur Sache.

»Nun ja. Ich sehe, dass Sie sich schon … äh!« Er wollte sagen: … eingerichtet haben, vergaß es aber angesichts der drohenden Kistengebirge und Kofferschluchten schnell und vollständig. Er nahm die Mütze ab.

»Was ich Sie fragen wollte, Thompson … Also, es geht um Ihre Schwester, Miss Emmeline. Ich weiß natürlich, dass sie einen schweren Verlust erlitten hat. Und Sie natürlich auch. Ich weiß auch, dass es vielleicht noch zu früh ist. Sie sollten aber wissen, dass ich schon kurz davor stand, Ihren Vater, Ihren seligen Vater, äh … dasselbe zu fragen.«

Dann wissen wir ja jetzt alle allerhand, hätte Gowers beinahe gesagt, während der Doktor wegsah, um den verstümmelten Rest seiner Zigarre zu beseitigen und es dem jungen Mann ein wenig leichter zu machen. Abgesehen von all seinen Problemen mit dem Fall, seiner Unterbringung und nun auch noch dem Gespräch mit Carver, dachte Gowers sofort darüber nach, ob und wie er den Zigarrenstummel in einem unbeobachteten Moment in seine Blechkiste bekommen könnte.

»Kurz und gut«, fuhr der verlegene Leutnant fort. »Ich bitte Sie um … um die Erlaubnis, Ihrer Schwester den Hof machen zu dürfen!«

Der Investigator, der nun wirklich nicht damit gerechnet hatte, jemals über Emmeline Thompsons Glück zu entscheiden, überlegte nach der ersten Verblüffung, welche Ermittlungsvorteile ihm dieser unerwartete persönliche Machtgewinn verschaffen könnte, und bedauerte, für diese Überlegung so wenig Zeit zu haben. Van Helmont schien auch das zu bemerken.

»Nun, Leutnant Carver«, mischte sich der Arzt jedenfalls ein und warf einen kurzen, aber vielsagenden Blick auf Gowers, »Mr. Thompson hier ist vielleicht noch nicht erfahren genug in solchen Dingen. Darf ich mir deshalb, als langjähriger Freund der Familie, die Frage erlauben, ob Sie über ein gesichertes Einkommen verfügen? Feste Bezüge? Wie hoch ist Ihr Sold, Sir? Können Sie Emme… Miss Thompson überhaupt eine Zukunft bieten?«

Gowers nickte zuerst dem Arzt und dann dem Besucher zu. Carver kannte natürlich seine gesamte Truppe, konnte eventuell auch Kontakte zu den Schiffsoffizieren herstellen – und das wäre ein bisschen Hofmachen schon wert. Auf die Höhe der Soldzahlungen in der britischen Indienarmee, Carvers Protektion durch einen Onkel im Generalsrang und andere Kleinigkeiten hörte Gowers dagegen nur mit halbem Ohr.

Erst als der Leutnant schon wieder eine Weile den Mund hielt und nach einem auffordernden Blick Van Helmonts fiel dem Investigator noch die allseits erwartete Frage ein: »Nun, Carver, alter Junge, Sie wissen natürlich, dass ich Ihnen durchaus wohlwollend gegenüberstehe. Aber sagen Sie noch eins: Ihre Familie. Ich nehme nicht an, dass Ihre Leute von diesem … diesem Vorhaben wissen. Wie werden sie sich dazu stellen?«

Leutnant Carver konnte den Bruder seiner potenziell Angebeteten auch in dieser Hinsicht vollkommen beruhigen, brachte Gowers’ Selbstsicherheit dann aber mit einer abschließenden Frage gefährlich ins Wanken.

»Wenn ich Sie dann vielleicht noch nach der Höhe der Mitgift fragen darf, lieber Thompson?«

Van Helmont konnte ein hervorquellendes Gelächter gerade noch als kleinen Hustenanfall tarnen und krächzte: »Eine mehr als berechtigte Frage!«

Aber Gowers hatte sich schon wieder gefangen. »Nun, dazu kann ich natürlich nicht allzu viel sagen, Carver. Ich bin schon zu lange aus England weg. Es dürfte Sie aber interessieren, dass Emmeline die Alleinerbin unseres Vaters ist. Vater und ich, wir sind … wir waren … einander sehr fremd, sehr fremd geworden. Man könnte fast sagen: Wir kannten uns eigentlich nicht.«

»Das betrübt mich zu hören, Thompson, betrübt mich außerordentlich«, sagte Carver hocherfreut. »Dann darfich mich wohl empfehlen?!«

»Auf Wiedersehen, junger Mann«, sagte Van Helmont. »Und: hipp, hipp, wenn ich so sagen darf !«

»Danke, Sir!«, sagte ein sichtlich beglückter und plötzlich sehr viel selbstbewussterer Leutnant und zog in die Schlacht seines Lebens. Nicht, ohne sich an der Tür ordentlich den Kopf zu stoßen.

Van Helmont grinste ihm hinterher. »Wie schon gesagt, ich mag gute Geschichten!«

34.

Auf der Höhe von Guinea schlief der Wind ein, und an die Stelle der Seekrankheit, an der zuletzt auch der Kaiser gelitten hatte, trat die Langeweile, für die sehr bald das Gleiche galt. Cockburn sandte ein Schiff des Geschwaders an die afrikanische Küste, die man von den Mastspitzen der Northumberland aus eben noch ausmachen konnte, um Obst und frisches Wasser aufzunehmen.

Die Mannschaft vertrieb sich die Zeit des tagelangen Treibens, Kreisens und Wartens mit der Jagd auf Haie. Napoleon höchstpersönlich schaute zu, wie sie einen dieser Räuber aus der Tiefe zogen und an Deck hievten.

Das riesige Tier, fast fünf Meter lang, kämpfte, seines ureigensten Elements beraubt, doch noch unglaublich zäh um sein Leben; wand sich, schlug mit der Schwanzflosse mehrere Matrosen zu Boden und hätte auch beinahe den Kaiser verletzt, der näher herantrat, während ein Rudel siebzehn-, achtzehnjähriger Knaben mit Messern und Enterhaken auf das Tier einstach. Fast wäre er mit den zierlichen Escarpins im Blut dieses Königs der Meere ausgerutscht, und es spritzte so sehr, dass er die Strümpfe wechseln musste.

Währenddessen schnitt man dem toten Hai den Bauch auf und fand in seinem Magen die noch erkennbaren Überreste eines schwarzen Männerarms mit der dazugehörigen Hand, an der auch mit wenig Fantasie Kettenspuren auszumachen waren. Madame Bertrand, nach langer Seekrankheit zum ersten Mal wieder an Deck, übergab sich vor all den Männern und wurde anschließend für zwei Wochen von niemandem mehr gesehen.