177531.fb2 Tod auf der Northumberland - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 12

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Innerhalb weniger Minuten wusste das ganze Schiff, was man da Schauriges im Meer gefunden und ihm inzwischen wiedergegeben hatte. Selbst Napoleon sprach beim Abendessen darüber.

»Die Sklavenschiffe werfen manchmal hier ihre Toten über Bord«, erklärte Kapitän Roß.

»Manchmal auch Lebende, habe ich mir sagen lassen«, entgegnete Montholon, »wenn sie überladen sind oder aus anderen Gründen leichtern müssen.«

»Nun, aber die sind dann wohl gefesselt, jedenfalls solange man noch so dicht unter der Küste ist. Haie sind außerdem Aasfresser. Ich denke, dieser Neger war tot«, beharrte der Kapitän.

Napoleon war fasziniert, mehr von seiner eigenen Fantasie als vom Sachverhalt. »Haie sind vor allem Raubfische«, sagte er. »Ich präferiere deshalb, auch im Namen des Hais, die Vorstellung von einem Mann, der versucht hat, seine Freiheit zurückzugewinnen, und kämpfend starb. Wie weit ist es bis zur afrikanischen Küste?«

Roß tauschte einen säuerlichen Blick mit dem Admiral, obwohl es wohl kaum als Geheimnisverrat gelten konnte, eine Frage zu beantworten, die auch jeder halbwegs erfahrene Seemann unter den Franzosen hätte beantworten können.

»Etwa fünfzehn Meilen, Sir. Schwer zu glauben, dass das zu schaffen ist oder dass jemand auch nur den Versuch macht.«

»Nun«, sagte der Kaiser, »was zu schaffen ist, weiß man meistens erst, wenn man es versucht hat. Und glauben werden es die Leute sowieso immer erst hinterher.«

Später, als er an Deck beinahe ausgestreckt auf einer Kanone der Steuerbordbatterie lag, die die Matrosen bereits heimlich Napoleons Kanone nannten, sah er in die immer fremder werdenden Sterne des Südens und dachte an Afrika, sein Afrika, an Ägypten. So hatte er als junger General Bonaparte an Bord der Orient gelegen, Nelsons gesamte Flotte hinter sich und die Welt vor sich.

Währenddessen machte Admiral Cockburn lächerliche Versuche, bei den französischen Bediensteten unauffällig herauszubekommen, ob Napoleon schwimmen konnte.

35.

An der gleichen Stelle an Deck der Northumberland stand wenig über fünfzig Jahre später der amerikanische Arzt Francis Marcellus Van Helmont, einen anderen, größeren verlorenen Krieg hinter sich, eine ungewisse Zukunft in den Burenkolonien am Kap Afrikas vor sich.

Das Schiff fuhr auf den Spuren seiner Väter, nur in umgekehrter Richtung. Sein Urgroßvater war einst aus Breda auf die niederländischen Antillen ausgewandert, sein Großvater hatte dort als Pflanzer ein Vermögen gemacht, sein Vater hatte es durchgebracht und ihn, den Letzten seines Namens, mit der Tochter eines amerikanischen Plantagenbesitzers im Süden Alabamas gezeugt, für den er als Verwalter arbeitete. Er erinnerte sich an seine Mutter wie an eine ferne Königin, auf einem Besitz, der nicht ganz, aber immerhin halb so groß war wie Holland.

Gowers kannte die Herrenhäuser des Südens, die Marmorpaläste, die weißen Säulen, sie waren ein Grund dafür gewesen, dass er für den Norden kämpfte. Denn er kannte auch ihre Fundamente, die Hütten, die Ketten, die Peitschen und die Hunde. Er kannte die fünfzehn-, sechzehnjährigen schwarzen Mädchen, geschwängert von ihren Herren oder dem weißen Abfall, den Aufsehern, von den Herren dazu angestachelt, ihren Besitz an Sklaven auf diese billige, natürliche Weise zu mehren.

Deborah hatte ihm davon erzählt, und die Narben auf ihrem Rücken hatten jede ihrer Geschichten bestätigt. Gowers durfte noch immer nicht daran denken, weil er dann an nichts anderes mehr denken konnte und das Bedürfnis verspürte, den nächsten greifbaren Weißen zusammenzuschlagen.

Als uneheliches Kind hatte Van Helmont natürlich nicht mehr von diesem märchenhaften Reichtum gehabt als eine gründliche Ausbildung und einen Sinn für Ästhetik, der weit über dem der kulturlosen Yankees im Norden stand – millionenschwerer Industrieller, die die Arbeiter ausbluteten, aber vor ihren französischen Schneidern kuschten und für jedes Wort ihrer englischen Butler dankbar waren. Männer, die sich bombastisch-geschmacklose Häuser bauten und mit den Fingern von goldenen Tellern aßen.

Er hatte bei Shilo gekämpft, nicht gegen die Sklavenbefreiung, nicht gegen die Union, aber gegen diese Männer und gegen das geschmacklose System, das sie hervorbrachte. Ein System, das sich noch damit brüstete, weder Geschichte noch Kultur zu besitzen, sondern einfach nur viel Geld. Wirklich gekämpft hatte Van Helmont nur dies eine Mal und bei dieser Gelegenheit gleich eine Kugel gefangen; allerdings nicht weniger als eine Kanonenkugel, die seinen linken Unterschenkel mit sich ins Dunkel der Geschichte riss. Hatte es überlebt und von da an der Sache der Konföderierten in zahlreichen Lazaretten gedient.

Die Herren genossen es, ihren Sklaven biblische Namen zu geben oder solche aus der römischen Geschichte. Hannibal bediente bei Tisch, Cato mistete die Ställe aus, Abraham, Isaac und Jacob schwitzten auf ihren Feldern. Man konnte Samson auspeitschen und Delilah die französische Sauciere an den Kopf werfen, wenn das Fleisch nicht zart genug war.

Deborah hasste ihren Namen, und als Gowers ihr erzählt hatte, dass die Sklaven im alten Rom keine Namen trugen, sondern nur Nummern: Primus, Secundus, Tertius und so weiter, nannte sie sich selbst Seven, weil sie das siebte Kind ihrer Mutter war. Ihren Vater kannte sie nicht, aber sie war erleichtert, als ihre Mutter ihr versichert hatte, dass es ein schwarzer Mann gewesen war.

Van Helmonts Schlachten fanden stets nach dem Kampf statt und waren weit blutiger, gnadenloser als die, für die man die Generäle in Gazetten und Geschichtsbüchern feierte. Seine Niederlagen waren schwerer, endgültiger, und irgendwann hatte er aufgehört, die Toten zu zählen. Aber dafür waren auch seine Siege größer, beständiger als all die billigen, vorübergehenden Triumphe der Militärs oder Politiker. Da gab es eben immer wieder die Siebzehnjährigen, die – und das hatte er sich tatsächlich ausgerechnet – vielleicht noch im Jahr 1930 von »diesem verdammten Doc damals« reden würden, der ihnen, ihren Kindern und Enkeln das Leben gegeben und wiedergegeben hatte.

Das Einzige, was an ihrer Verbindung romantisch gewesen war, dachte Gowers oft bitter, war Deborahs Verzweiflung. So schwer war es für sie, ihn zu lieben. War er nicht weiß? Und war nicht Weiß schlecht? Er wusste, er hatte es immer gespürt, dass sie ihm nie, auch in ihren intimsten Momenten nicht, wirklich vertraute. Und es war diese traurige Gewissheit, für die er den Süden immer noch hasste. Dumpfer jetzt, nicht mehr wie ein Messer in der Brust, nur noch wie ein schlechter Geschmack im Mund, begleitete ihn der Hass.

36.

Vielleicht war noch nicht genug Zeit vergangen, vielleicht hatte der Krieg zu lange gedauert, aber bis die Northumberland vor den Bahamas ankerte, sprachen die beiden Männer nicht viel miteinander. Van Helmont nahm höflich die immer wieder angebotenen Zigarren, spielte Shenandoah auf seiner kleinen Mundharmonika und dachte an die Kriegsgewinnler, die Landdiebe, an den Selbstmord seiner alten Mutter, den Verfall der Plantagen.

Gowers begegnete dem Südstaatler zwar nicht mit Hass, aber doch mit Misstrauen, bis ihm auffiel, was ihn an der Situation so irritierte: Er hatte auch Deborah nicht belügen können. Nicht durch Reden und nicht durch Schweigen. Seltsam, dass nun ausgerechnet ein Sklavenhalter, ein Feind, das gleiche Gefühl in ihm auslöste.

Van Helmonts Mundharmonika erzählte ein bisschen zu elegisch, ein bisschen schief von den Streets of Laredo und erinnerte Gowers an eine alte schottische Melodie, die seine Mutter gesungen hatte: The Unfortunate Lad. Er war nahe daran mitzusummen, aber da klopfte der Arzt das Instrument in der linken Hand aus, schnallte sein Bein wie immer unter der Bettdecke ab und lehnte es an den Bettpfosten. Ein prachtvolles Bein, nicht einfach ein Holzpflock, sondern ein wirklich geschnitztes und kunstvoll zusammengesetztes künstliches Bein, das sogar eine Federmechanik besaß, die es ihm nach einiger Übung ermöglichte, fast ohne Humpeln oder Nachziehen zu gehen.

Gowers, der die Prothese anfangs mit dem instinktiven Misstrauen des Zweibeiners betrachtet hatte, nahm Van Helmonts herrenloses Bein an diesem Abend in die Hand, wog es, bewunderte den ausgeklügelten Mechanismus im Gelenk und sagte: »Eigentlich eine feine Sache. Wo ist das Original geblieben?«

»Shilo«, knurrte Van Helmont und machte nicht den Eindruck, als ob er darüber reden wollte.

»Shilo«, wiederholte Gowers und wartete, obwohl er nicht sicher war, ob er es wissen wollte.

Schließlich setzte der Arzt sich in seiner Koje auf. »Ich fühle es immer noch manchmal jucken. Hab es verdammt noch mal selbst abgeschnitten, weil gerade kein anderer da war.« Er zog die Decke vom Stumpf. »Ein ziemlicher Pfusch. Hatte leider noch nicht die Erfahrung von später. Fühlen Sie mal!«

Gowers betastete vorsichtig den Stumpf und fühlte kleine Beulen und Dellen, die jedem Fachmann wahrscheinlich ein missbilligendes Grunzen entlockt hätten. Er überlegte nur kurz. Dann richtete er sich auf, drehte sich um und ließ Hose und Unterhose herunter.

Van Helmont betrachtete erst verblüfft, dann interessiert das Hinterteil seines Genossen und ließ einen Pfiff der Bewunderung hören. Über die ganze Länge der rechten Hinterbacke, von der Hüfte bis zum Oberschenkel, zogen sich Bahnen weißer Narben, Spuren einer Verletzung, die einmal tief durch den Muskel gegangen sein musste.

»Auch ganz nett«, befand er. »Und eine bildschöne Stelle. Schrapnell?«

»Nein«, sagte Gowers und zog die Hosen wieder hoch. »Eisbär.«

Der Arzt lachte, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und sagte: »Erzählen Sie!«

37.

Ihr Zuhause war ein einziges Zimmer gewesen, etwa zwölf Quadratmeter, im Haus eines Steigers. Ein Herd, ein Tisch, zwei Stühle und ein Schrank aus Johns Junggesellenzeit, in dem nicht nur Kleidung und Wäsche, sondern auch das wenige Geschirr und sonstige Habseligkeiten Platz finden mussten. Das Bett hatte er selbst gebaut.

In diesem Zimmer verbrachte Jane die drei glücklichsten Jahre ihres Lebens. Es zu verlassen brach ihr das Herz. Das Fenster, durch das sie ihn morgens weggehen und abends zurückkommen sah. Die Tür, die so dünn war, dass sie sämtliche Lebensäußerungen der Familie Peters mit anhören konnten. Deren Ritzen sie verstopften, wenn sie sich liebten. Die sich jetzt zum letzten Mal für sie öffnete.

»Sind Sie so weit?« Der Ingenieur Nelson persönlich. Bob Liddell, ein Schotte, Freund und Kollege von John. Der jüngere Peters, ein fünfzehnjähriger Junge, der sie einmal beim Baden beobachtet hatte und dafür zuerst von John, dann von seinem Vater und schließlich noch von seiner Mutter verprügelt worden war. Einmal fürs Gucken, einmal fürs Erwischtwerden und einmal fürs Onanieren.

»Was ist es?«

Es war der Schrank, Johns Schrank und sein Inhalt. Es war eine Kiste mit seinen alten Kleidern und der Bettwäsche. Und es war das Bett selbst.

»Das Bett nicht. Das Bett passt da nicht mehr rein!«

»Ohne das Bett gehe ich nicht weg.«

»Wo soll denn das noch hin? Das ist nicht Buckingham Palace!« Mutter Irvine hatte ein hartes, hageres Gesicht und schneeweiße Haare. Noch nicht fünfzig, war sie doch bereits eine alte Frau. Ihre Tochter Beth war sechsundzwanzig Jahre alt, rothaarig, sommersprossig und verwitwet wie Jane. Ihre Tochter Mary-Ann war neun und ihr kleineres Ebenbild, nur etwas hübscher.

»Das passt hier nicht rein!«

»Ohne das Bett ziehe ich gar nicht erst ein, und wenn ich auf der Straße schlafen muss!«

Beth, die gleich zur Schicht musste, sah in Janes Augen; stumpfgeweinte Augen, in die selbst ihr Zorn keinen Glanz mehr bringen konnte.

»Wie lange ist er schon tot, Schätzchen?«

Janes Kehle war plötzlich genauso trocken wie ihre Augen. Was geht dich das an?, wollte sie sagen, fauchen. Aber sie krächzte nur: »Zwei Wochen.«

Beth legte ihrer Mutter, die noch immer die Tür versperrte, eine Hand auf die Schulter und zog sie aus dem Weg. »Lass es ihr, Mum, um Gottes willen. Sie kann es tagsüber hoch an die Wand stellen.«

Das Bett war ihre Zuflucht. Das Bett und ihr Junge. Sie klammerte sich nachts so sehr an ihn, dass sie am Tag manchmal Angst hatte, ihn dabei zu ersticken. Das Zimmer war ein bisschen größer als ihr Zuhause mit John. Aber dafür wohnten sie hier auch zu fünft.