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Während Mutter Irvine sich wieder in das Bett legte, das die drei sich teilten, und sofort wieder einschlief, zog Beth ungeniert vor den fremden Augen ihre Tochter und dann sich selbst aus. Mutter und Tochter wuschen sich gegenseitig den Rücken und spülten den Staub aus den Haaren. Beth hatte rotes Schamhaar und Sommersprossen sogar auf Bauch und Brüsten. Und Jane dachte zum ersten Mal seit zwei Wochen an etwas anderes als an John. »Wie kriegt man denn da Sommersprossen?« , fragte sie.
Beth lachte. »Von der Sonne, Schätzchen, logisch. Wenn ich Frühschicht habe, bade ich hier im Hof. Im Sommer braucht man da nicht mal ein Handtuch, trocknet einen die Sonne. Daher.« Sie lachte wieder. »Und wie kriegt man so eine lange Nase?«
Jane lächelte jetzt ein bisschen. John hatte sie das auch oft gefragt. Und hatte dann selbst die Antwort gegeben, die Jane jetzt ihrer neuen Freundin gab: »Man steckt sie in Bücher!«
»Kannst du lesen?«, fragte Beth.
Jane nickte.
»Das ist fein. Da kannst du es Mary-Ann beibringen und vielleicht sogar mir.«
»Ich weiß nicht, ich habe ja keine Bücher. Ich habe nur …« Jane hatte nur ihre Bibel, aus der sie John manchmal vorgelesen hatte. Die Bücher Samuel, das Hohe Lied und den Prediger. Und plötzlich stand ihr die Bibliothek ihres Vaters vor Augen.
»Aber ich weiß, wo ich welche herbekomme!«, sagte sie.
38.
»Ja?«
Es war ihre Schwester Alexandra, die die Tür öffnete und mit ihrem wohlproportionierten Körper sofort die Schwelle blockierte, über die Jane so oft gegangen war.
»Ich möchte Vater sprechen.«
»Vater ist für dich nicht zu sprechen.«
»Dann möchte ich Reverend Gowers sprechen.«
Alexandra warf ihr einen so durchdringend bösen Blick zu, wie es nur eine zwei Jahre ältere und weitaus hübschere Schwester tun konnte, die nie verstanden hatte, warum ihr Vater die jüngere, kleine, dürre Jenny mit der großen Nase vorgezogen hatte.
»Hast du Vater nicht schon genug gequält? Was willst du?«
»Ein paar Bücher stehlen, die silbernen Löffel und deine Tugend!« Jane konnte so böse sein wie ein Dachs, und sie wusste natürlich genau, wie sehr die hübsche blonde Alexandra darunter litt, noch keinen wirklich ernst zu nehmenden Bewerber ihr Eigen zu nennen.
»Willst du eine Szene machen?«
»Nein. Es sei denn, du zwingst mich dazu.«
Ben spürte, wie die Hand seiner Mutter seine eigene immer fester umklammerte, so fest, dass es wehtat. Er schrie nicht, jammerte nicht, sah nur fragend und fast ein bisschen verblüfft zu ihr hoch. Aber da öffnete die fremde Frau die Tür und ließ sie ins Haus, und der Griff lockerte sich ein wenig.
»Vielen Dank«, sagte Jane.
Ihre Schwester hüllte sich in ein eher beleidigtes als bedrohliches Schweigen und wies ihr mit dem Finger den Weg in die Bibliothek, als wenn sie den Weg nicht tausendmal gegangen wäre. Das etwas verspätete Einschnappen mehrerer bisher angelehnter Türen verriet ihr, dass die ganze Familie von ihrem empörenden Auftauchen wusste und nun aufgeregt tuschelnd beratschlagte, wie man die ungebetenen Gäste schnell wieder loswerden könnte.
»Warte hier!«, befahl Alexandra in der Bibliothek, dem Arbeitszimmer des Pfarrers, und ging hinaus, um dem Hausherrn und Pater Familias beim Anlegen seiner Rüstung oder Entrüstung behilflich zu sein, auf dass er gewappnet wäre mit dem Schwert der Tugend und dem Schild der Rechtschaffenheit, ehe er es mit der Tochter Babylons, Tochter Sodoms ausföchte.
Kaum allein gelassen, ließ Jane die Hand ihres Sohnes los und ging entschlossen zu einem Bücherschrank neben dem Schreibtisch ihres Vaters. Hinter Shakespeares Gesammelten Werken fand sie auf Anhieb, was sie suchte. Sie hatte es schon mit dreizehn oder vierzehn Jahren an dieser Stelle entdeckt und immer wieder genauso heimlich darin gelesen wie Ehrwürden Gowers selbst: Chaucers Canterbury Tales.
Wie hatte er darunter gelitten, dass die englische Sprache ihren ersten literarischen Höhepunkt, ihre Ausprägung ausgerechnet mit Chaucer gefunden hatte! Die Italiener hatten Dantes Comoedia, selbst die Deutschen hatten Luthers Bibel – und die Engländer nur diese mühsam moralisch verbrämte Schwanksammlung, in der immer irgendwer in irgendein fremdes Bett stieg und die Frauen sich splitterfasernackt am Fenster zeigten, alles nur, um ihren Männern Hörner aufzusetzen. Die Ausgabe war so alt wie er, stammte tatsächlich aus seinem Geburtsjahr, und wohl deshalb – und wegen seines Namens natürlich – hatte es einst ein Kommilitone für geistreich gehalten, ihm das empörende Buch zu schenken: Für J. Gower(s), zum 25. Geburtstag und ewigen Vergnügen!
Als ob es ein Vergnügen sein könnte, das obszöne Werk fast vierzig Jahre lang vor den Augen von Frauen und Töchtern zu verstecken!
Jane hob ihren Rock hoch und ließ das Buch in dem Beutel verschwinden, den sie dort befestigt hatte. Gerade wollte sie auch noch den sinnreich hinter Bunyan und einer Prachtausgabe der Legenda Aurea verborgenen Tom Jones an sich bringen, als sie die Schritte ihres Vaters auf dem Flur hörte, viel eher als erwartet. Schnell trat sie ans Fenster und sah in den Garten ihrer Kindheit.
Joseph Benjamin Gowers sah als Erstes den Jungen, seinen Enkelsohn Joseph Benjamin Williams, der allein gelassen, aber nicht ängstlich mitten im Zimmer stand und ihn zwar nicht frech, aber herausfordernd ruhig ansah. Er hat die Augen seines Vaters, dachte Ehrwürden Gowers, meinte aber eher die Art seines Vaters, denn gesehen hatte er John Williams aus Skye ja nur ein einziges Mal und von Weitem. Dass der Junge die Nase seiner Tochter hatte, war dem Pfarrer dagegen so selbstverständlich, dass ihm erst viel später einfiel, darüber nachzudenken, dass niemand sonst in seiner Familie diese Nase und dieses schwarze Haar hatte. Er selbst war über seiner Schande weiß geworden; jedenfalls behauptete er das gern vor sich selbst und dem Spiegel.
39.
»Ja?«
»Guten Tag, Vater.«
»Was willst du?«
»Mein Mann ist gestorben«, begann Jane. »Er ist im Berg verschüttet worden.«
Zur Hölle gefahren oder doch in ihre unmittelbare Nähe, dachte Joseph Gowers in einem Teil seiner Seele, den er selbst auf der Folter verleugnet hätte. Er hatte sich die näheren Umstände mehrmals ausführlich erzählen lassen.
»Ich habe davon gehört.«
»Ich möchte Unterricht geben, um Geld zu verdienen für den kleinen Joseph und mich.«
Sie wollte ihm zeigen, dass sie keinesfalls vorhatte, ihn um Geld zu bitten oder sich unter sein Dach zu flüchten, aber vielleicht war gerade das falsch. Vielleicht wäre er zugänglicher gewesen, wenn sie reumütig um Gnade und Vergebung ihrer Schuld gebeten hätte. Stolz hingegen konnte er an keiner seiner Töchter leiden, an den anderen allerdings auch nur sehr selten entdecken.
In aller christlichen Demut hätte er akzeptiert, wenn sie seine Knie umfasst, sein Füße gewaschen und Maria Magdalena irgendwie erwähnt hätte. Davor hatte er sogar insgeheim Angst gehabt, denn dann wäre es ja an ihm gewesen, eine christliche Regung zu zeigen. So aber konnte er ihren Vorschlag, ihr hin und wieder einige Bücher aus seiner Bibliothek leihweise zur Verfügung zu stellen, damit sie den wertlosen Bälgern der Bergarbeiter Lesen und Schreiben beibringen könnte, brüsk zurück-und sie selbst mit ihrem schottischen Bastard aus dem Haus weisen.
Und erst lange nachher, als er sich wieder einmal über die Unarten der frühen englischen Literatur aufzuregen beschloss, fand er hinter Shakespeares Werken das entsprechende Buch nicht mehr. Zuerst schoss ihm das Blut heiß ins Gesicht, denn er befürchtete, es nach der letzten Lektüre gedankenlos irgendwo liegen gelassen zu haben, sodass die Abgründe seiner Seele für jedermann oder irgendwen offen zutage traten.
Erst nach einer ausführlichen, aber erfolglosen Suchaktion, bei der er schließlich das ganze Zimmer auf den Kopf stellte, keimte in ihm der Verdacht auf, eine von Lots Töchtern oder gar sein gottloses Weib könnte das Buch entwendet haben und sich heimlich an seinen Schweinereien ergötzen. Jedenfalls nahm er die sporadischen Äußerungen seiner Lieben, dass er sich nicht so in die Bücher hineingraben solle, die er früher stets mit patriarchalischem Wohlwollen wie Huldigungen entgegengenommen hatte, plötzlich sehr ungnädig auf.
Tatsächlich ließ ihn die Vorstellung nicht mehr los, irgendjemand in der Familie wisse mehr über seine literarischen Vorlieben, als dem Ansehen eines Hirten seiner Herde zuträglich war, und mache sich vielleicht sogar über ihn lustig. Natürlich konnte er mit keiner Menschenseele über seinen Verlust reden, denn was man nicht besitzen darf, kann einem auch nicht gestohlen werden. Das Quälendste aber war, dass man nun sogar nach seinem Tod Dinge über ihn wissen würde, die er im Leben niemandem gestanden hatte.
Je älter er wurde, desto größer war in der Tat Bens Vergnügen, wenn er sich die kopfschüttelnde Erregung des ehrwürdigen Joseph B. Gowers bei der Lektüre des Miller’s Tale oder vergleichbarer Erzählungen ausmalte. Mitleid konnte er allerdings nicht für seinen derart gequälten Vorfahren empfinden, denn von dieser ersten Bibliothek seines Lebens erinnerte er zwar die respektheischend knarrenden Dielen, die Furcht einflößende Höhe der Regale, an denen Generationen geschnitzt zu haben schienen, und die versammelte Würde einer dickleibigen, ledergebundenen Bildung, aber vor allem eben den Zeigefinger des selbstgerechten alten Mannes, der ihm die Tür dieser Welt wies.
Und Ben Williams war froh, dass er keine andere Erinnerung an seinen Großvater hatte.
40.
Ermittlungsarbeit war das Sammeln, Ordnen und Interpretieren von Informationen und insofern wissenschaftlicher Forschung durchaus vergleichbar. Der wesentliche Unterschied bestand darin, dass Wissenschaftler nur in Ausnahmefällen befürchten mussten, ihr Forschungsgegenstand werde aufspringen, eine Hieb-, Stich-oder Schusswaffe auf sie richten oder ihnen sonst wie kräftig eins über den Schädel geben. Diese einigermaßen erheiternde Vorstellung – jedenfalls wenn man dabei nicht an Afrikareisende, sondern Insekten-oder Bibelforscher dachte – nutzte der Investigator immer noch hin und wieder, um innerlich den manchmal spöttischen, meist aber nur blasierten Blicken zu begegnen, die ihn bei seinen Recherchen in Bibliotheken und Archiven irgendwann zu treffen pflegten.
Zwar hatte ihn seine Mutter Respekt vor dem geschriebenen Wort gelehrt, zwar hatte er sich selbst in Jahren und Jahren eines fast wütenden Bücherverschlingens eine erstaunlich profunde Bildung angeeignet, aber noch immer überfiel ihn jenseits der Pforten von Universitäten, Lehr-und Lesesälen das alte Gefühl, die Welt seiner Feinde zu betreten. Gelehrsamkeit in Goldschnitt und Folio starrte feindselig auf ihn herab, und blasse Menschen mit engen Kragen und fingerdicken Brillengläsern schienen mit jeder Regung zu fragen, was er hier suchte – der Kajütjunge mit den roten, vom Scheuersand rissigen Händen, der braun gebrannte, bezopfte Seemann, Arktisfahrer, Flusslotse, der nach einem Übermaß von Sonne und Tabak roch, der verwundete Captain der Nordarmee in seiner fadenscheinigen Uniform, der zwielichtige Ermittler mit dem Messer im Stiefel.
Früher waren es zuverlässig die Vorstellung von Gewalt und der Gedanke gewesen, dort jederzeit alles und jedermann zu Brei schlagen zu können, die ihm bei Bibliotheksrecherchen seine Gemütsruhe erhalten hatten. Inzwischen war es vor allem die Erfahrung, dass bisweilen ein einziges hingemurmeltes Wort noch des schäbigsten Informanten wertvoller für ihn war als zehn Regalmeter enzyklopädischen Weltwissens. Auch das war die Welle. Sie machte das Große klein, unwichtig und hob das Niedrige, Zufällige für einen einzigen funkelnden Augenblick ins Licht der Unverzichtbarkeit.
41.
»Tag, Mr. Thompson, Sir. Mein Name ist Barclay, George Barclay, ich komm wegen der Zigarre!«