177531.fb2 Tod auf der Northumberland - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 16

Tod auf der Northumberland - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 16

Tim freute sich, dass sie sein Pony gekauft hatten, sein erstes eigenes Pony. Das er selbst mit Stroh abgerieben hatte, als es aus seiner Mutter herausgekommen war. Das er aufgezogen, täglich gefüttert hatte. Er hatte ihm sogar einen Namen gegeben, obwohl sein Vater ihn gewarnt hatte: Wenn du ihm einen Namen gibst, tut es weh, wenn du es verkaufst!

Es tat nicht weh. Oder nur ein bisschen.

Je weiter sie hinabsank, desto wärmer wurde es, und Jane öffnete ihre Augen. Selbst die Erde schwitzte in dieser Tiefe. Von den Wänden tropfte das Wasser; Wasser, wie es John getötet hatte. Aber von unten, sehr nahe jetzt, hörte sie das gleichmäßige Gurgeln der Pumpe im Schachtsumpf, und der Förderkorb stand still.

Weil sie klein war, wurde Jane in der untersten Sohle eingesetzt, mehr als dreihundert Meter tief in der Erde. Hier gab es selbst in der Hauptstrecke keine Pferde, Ponys oder Galloways mehr. Die Strecke war so niedrig, dass sogar Jane den Kopf einziehen musste und nur die jüngeren Kinder aufrecht gehen konnten. Von den Männern dagegen sah man bei der Einfahrt selten mehr als gekrümmte Rücken.

Tim war neun Jahre alt, das Pony anderthalb. Es war nicht scheu, aber etwas wild, eigensinnig. Stieg bei der kleinsten Gelegenheit, vor Freude und Übermut. Stampfte mit den Hufen, sprang umher und schüttelte sich, dass die lange blonde Mähne um seinen Kopf flog. Aber es mochte Tim und leckte seine Hand, wenn er zu ihm kam.

Das Beste an der niedrigen Strecke war noch, dass sie bei Weitem nicht so lang war wie in den oberen Sohlen, nur an die hundertfünfzig Meter. Zu beiden Seiten gingen die noch niedrigeren Förderstollen ab, oft nicht mal einen halben Meter hoch.

Hier zogen die Hauer sich aus, manche völlig, die verschämteren bis auf die Unterhosen, und verschwanden auf allen vieren kriechend in diesen Kaninchenlöchern, ihre Schlepper, Frauen und Kinder beiderlei Geschlechts, ihnen nach.

Jane hatte es, als die Pastorentochter, die sie immer noch war, zu Anfang kaum glauben können, obwohl ihr John bereits hin und wieder davon erzählt hatte. Es war aber so heiß und die Arbeit in den niedrigen Flözen so schwer, dass die Hauer innerhalb kürzester Zeit ihr Zeug durchgeschwitzt haben würden – was nicht nur den Wäscheberg daheim größer, sondern auch ihre Bewegungen schwerfälliger, langsamer gemacht hätte, sie spürte es ja am eigenen Leib. Und bald war ihr nichts selbstverständlicher als der Anblick nackter, schweißüberströmter Männer, die sich wie Maulwürfe ins schwarze Fleisch der Erde wühlten und nur noch am schwach blinkenden Weiß ihrer Augen und Zähne als Menschen zu erkennen waren.

Er hatte es noch mal »schön gemacht«, extra herausgeputzt; sogar einen Strohkranz gewunden und dem Pony aufgesetzt. Er hätte ihm auch Zöpfe geflochten, wenn ihm sein Vater keine Ohrfeige gegeben hätte: Dummkopf, das macht es nur schwerer!

Es war doch gar nicht so schwer. Auch das Pony freute sich, als wüsste es, dass heute ein besonderer Tag war, sein großer Tag. Ungeduldig stampfte es mit den Füßen auf und versuchte, den Strohkranz abzuschütteln.

45.

»Abfahren! Los! Gottverdammte Fotzen!«

Gerade am Anfang der Schicht schlugen die Hauer die Kohle schneller, als die Schlepper sie die Strecke hinaufschaffen konnten, und wurden manchmal unglaublich wütend, weil sie natürlich nicht nach Arbeitszeit, sondern nach Fördermenge bezahlt wurden. Aus dem gleichen Grund vernachlässigten sie allerdings auch oft den Ausbau, und so lagen gerade die vermeintlich Tüchtigsten und Stärksten sehr bald als schreiende, halb zerquetschte Fleischbündel unter dem Berg.

Niemand hatte Jane je solche Namen gegeben oder sie so beschimpft, und am Anfang wusste sie nicht, wie sie sich dagegen wehren sollte, und hatte nur noch geweint. Inzwischen fluchte und brüllte sie so unflätig zurück, wie sie es selbst nie für möglich gehalten hätte: dass die Steine rot wurden und die ältesten Hauer nach zwei, drei unwillkürlichen Ausbrüchen pro Schicht lieber den Mund hielten.

Er streichelte sein Pony noch einmal, ehe die Männer es mitnahmen, wegführten, und das Pony leckte seine Hand, ohne zu wissen, dass es das letzte Mal war. Es sah aus, als würde es grinsen, unter dem Strohkranz.

Tim fand den Kranz am nächsten Tag im Graben an der Wegbiegung, keine hundert Meter vom Stall entfernt. Es war doch schwer. Und es tat weh. Er würde dem nächsten Pony keinen Namen mehr geben.

Das Schleppen war entsetzlich schwer, schlimmer als alles, was ertragen zu können sich Jane jemals ausgemalt hatte. Das Geschirr schnitt ihr ins Fleisch, die Schlüsselbeine drohten zu brechen, die Augen traten aus den Höhlen vor Anstrengung. John Williams hätte seine Frau, Joseph Gowers seine Tochter nicht wiedererkannt.

Auf allen vieren in den schräg aufwärtsführenden niedrigen Stollen kriechend wurde sie zu einer einzigen Zusammenballung von Kraft und verzweifeltem Willen, während bis zu fünf Zentner Kohle, aufgeladen auf den hölzernen Hund und angebunden an Schultern und Rücken, ihren Körper wieder in die Tiefe zu reißen versuchten bei jedem Schritt, dreißig Meter lang. Und nur am Keuchen, Scharren und Stolpern hinter ihr erkannte sie, dass noch zwei Stoßer, Mary-Ann und der elfjährige Jacob Hull, die enorme Last mit ihr in die Hauptstrecke hievten.

Es war ein herrlicher Tag, die Hügel glänzten fett und grün in der Nachmittagssonne, und das Pony wäre gerne gestiegen, gerannt, fühlte die Kraft in den jungen Muskeln. Aber die Männer hielten es kurz, und so trottete es langsam die immer breiteren Wege entlang. Hob nur manchmal den Kopf und spitzte die Ohren, wenn sie an einer Viehweide vorbeikamen.

Am Horizont wuchs eine hohe, schwarzgraue Landschaft heran. Einer der Männer rauchte.

46.

Endlich hörte sie das Klappern der Wettertür am oberen Ende.

»Tor!«, schrie Jane, und im schwankenden Licht der Davy, die oben auf dem Hund lag und die Strecke vor ihr beleuchtete, wurde die Wettertür aufgerissen, festgehalten von einer kleinen, dreckigen Hand, bis die Schlepper mit ihrer Last durch waren. Ein Kind saß hier, ein sechsjähriges Mädchen in einer Nische des Stollens, zwölf Stunden in fast völliger Dunkelheit, und tat nichts anderes, als die Wettertür auf-und zuzustoßen, damit denen unten die Luft nicht ausging.

Oben angekommen, sagte Jane laut: »Eins!« Schirrte sich ab und sank erschöpft für ein, zwei Minuten auf den Boden der Förderstrecke, lehnte sich an die feuchte Wand. Sie würde auf dieser Schicht noch bis fünfundzwanzig, vielleicht auch bis dreißig zählen müssen.

Sie erreichten die Grube am späten Nachmittag. Kein Grün mehr, die aufgerissene Erde dampfte hier und da einen stinkenden Nebel aus, und der Boden war voller Pfützen, obwohl es nicht geregnet hatte. Der Einkäufer band das Pony an einem rostigen Geländer auf der Rückseite eines hohen Gebäudes an, aus dem unablässig der Lärm von Metall auf Metall drang.

Die Hufe stampften im Schlamm, bald waren alle vier Beine verdreckt, und das Pony fühlte zum ersten Mal Angst. Wenn es menschliche Stimmen hörte, stellte es die Ohren auf und hoffte, dass Tim seinen Namen rufen würde.

Sie füllten die Kohle in die eisernen Loren, die auf der Hauptstrecke Loch für Loch abfuhren, gezogen von Männern, die schon zu alt, noch zu jung oder auch zu verkrüppelt waren, um vor Ort zu arbeiten.

Am Anfang hatte Jane versucht, die Kinder zum Lachen zu bringen, wenigstens manchmal. Aber die Kinder lachten nie unter Tage. Sprachen auch kaum oder gaben einfach keine Antwort mehr, wenn sie mit ihnen zu reden versuchte. Fragen stellte nach ihren Freunden, nach den Spielen, die sie spielten. Fragen, die sie an das Leben oben, an Luft und Sonne erinnern sollten. Aber die Kinder blieben stumpf und stumm.

Jane hatte die Erinnerungen an ihr früheres Leben, an ihre Bücher, an die Zeit mit John. Daran dachte sie, versuchte sie zu denken. Sie wusste nicht und konnte sich nicht vorstellen, an was die Kinder dachten im Berg.

Der Hund war abgeräumt, und wortlos krochen die drei Kohleschlepper wieder hinunter, wo Beth eine zweite Ladung schon aufgefüllt hatte. Noch elf Stunden.

Sie zogen dem Tier einen Futtersack über Maul und Augen, und trotz seiner Unruhe begann es, ein wenig zu fressen. Sie fesselten seine Beine, damit es nicht zu wild ausschlagen konnte, und legten ein Hebegeschirr unter seinen Bauch, seine Rippen, befestigten den Flaschenzug auf seinem Rücken.

Die Ketten strafften sich mit einem leisen Klirren, und das Pony wurde hoch in die Luft gehoben. Es pisste vor Angst, als es keinen Boden mehr unter den Füßen spürte. Einige Männer lachten.

Bei der Ausfahrt roch man es. Blut, frisches Fleisch, Gekröse. Jane hatte schon davon gehört, dass in den oberen Sohlen eines der Ponys gestürzt war und sich ein Bein gebrochen hatte. Die Tiere hielten nie länger als zwei, drei Jahre durch, schon nach sechs Monaten waren die meisten blind.

Man hatte gewartet, bis der Ersatz da war, und dann, Sekunden nach Schichtende, hatten sich die Frauen mit Messern und Beilen auf das sterbende Tier gestürzt und es binnen Minuten bis aufs Gerippe zerlegt.

Bei einigen Familien würde es heute ein Fest geben im Dorf. Bei anderen musste es länger reichen, die Letzten kochten die Knochen aus. Schwarz, mit blutigen Händen, aber leuchtend gebleckten weißen Gebissen tauchten sie aus der Tiefe auf, hier einen Teil Eingeweide, da ein Stück Fleisch in den Armen, wie eine Rasse besonders grausamer Raubtiere.

Ihre neue Beute in zwei, drei Jahren hing hoch über ihren Köpfen und schlug nur noch wenig mit den Beinen aus, dann wurde es hinuntergelassen. Jane Williams streckte sich müde in den Strahlen der Sonne, die Tims Pony heute zum letzten Mal gesehen hatte.

47.

Edward Bell hasste es, die kleineren Besitzungen des Britischen Empire in der Karibik abzuklappern. Aber da die Marine Ihrer Majestät im Augenblick keine größeren Kriege führte, musste man froh sein, überhaupt ein Schiff unter den Füßen zu haben. Zehn Jahre auf Halbsold seit dem Feldzug gegen Russland hatten den Mann zermürbt.

Natürlich wusste er, dass all diese Inseln eine wichtige strategische Bedeutung besaßen, aber – mein Gott! Hier fünfzehn Soldaten anlanden, um Englands koloniale Ansprüche militärisch zu unterstreichen; dort einen bedauernswerten Ministerialbeamten absetzen, der ein Jahr lang die Kopfzahlen der westindischen Hühner, Schweine, Ziegen Ihrer Majestät überprüfen würde; ein paar Kaufleute, Missionare, sogar eingeborene Händler von Insel zu Insel schaffen, wie ein irischer Fährschiffer! Und das alles in überaus tückischen Gewässern, bei manchmal stündlich wechselnden Winden und einem Himmel, der einen im einen Moment an-und im nächsten auslachen konnte.

Der Erste Offizier war dieses Leben gründlich leid: Antigua noch und Barbados und Trinidad, das Fieberland Britisch-Guayana und dann endlich die offene See!

Auch John Gowers war schlechter Stimmung. Die Ermittlung ging nicht voran, die Passagierliste war bald abgearbeitet: Die einen kamen nicht in Frage, die anderen gingen von Bord. Interessant war eigentlich nur noch eine indische Reisegruppe, die die drei Kabinen belegt hatte, zu der irgendein barbarischer Schiffszimmermann der Ostindischen Kompanie die ehemalige Heckgalerie des großen Linienschiffs umgebaut hatte. Hier, wo drei Generationen Admirale in die untergehende Sonne siegreicher Tage geblickt haben mochten, waren jetzt zwei der niedrigen Türen ständig verschlossen, und die drei Räume waren durch schmale Verbindungstüren zu einer Kabinenflucht geworden.

Gegenüber, im ehemaligen Wohn-und Empfangsraum der Flottenchefs, residierte der dritte Lord Eden, links und rechts den Gang hinunter der dicke Merriwell, der verstorbene Gouverneur von St. Helena beziehungsweise seine Tochter und einige britische Offiziere. Es war, verglichen jedenfalls mit den Kabinen im zweiten Achterdeck, der in jeder Hinsicht beste Teil des Schiffs.

Von den merkwürdigen Indern hatte sich bislang allerdings nicht mehr als ein einzelner Diener regelmäßig gezeigt. Der war zwar ein höchst eindrucksvoller Mann, fast zwei Meter groß und dabei dünn wie ein Stock, sprach allerdings kein Wort Englisch oder tat jedenfalls sehr gekonnt so. Immer in düsterer, schweigender Würde, auch wenn er das Kochgeschirr ausspülte, die Nachttöpfe leerte oder Wasser holte, hatte Gowers über diesen Mann noch nicht mehr herausgefunden als das, was er instinktiv spürte: dass er viel gefährlicher war, als er aussah, eigentlich mehr ein Leibwächter als ein Diener. Die mysteriöse Eintragung im Quartierbuch: Mrs. M. W. und Begleitung, von Portsmouth nach Bombay, trug vielleicht zu diesem Eindruck bei, vielleicht aber auch nur seine nach zwei Wochen fruchtloser Investigation überreizte Fantasie.

Seine einzige wirkliche Spur blieb Louis Vivés, und der lag mittlerweile in einem Delirium, aus dem er höchstwahrscheinlich nicht wieder auftauchen würde. Das war zumindest Van Helmonts Meinung, der sich bereitwillig von Gowers auf den Kranken hatte ansetzen lassen. Ansonsten war die Northumberland leider nicht New York, und abgesehen von den unregelmäßigen und mit Vorsicht zu genie-ßenden Nachrichten, die George Barclay ihm verschaffte, konnte der Investigator auf keinerlei Unterstützung durch Informanten, Journalisten und befreundete oder gekaufte Polizisten zurückgreifen.

Und da war noch etwas, das John Gowers immer stärker bedrückte.

Er war in Nassau in einem Bordell gewesen, aber es hatte ihm statt der erhofften Erleichterung nur neue Schwierigkeiten eingebracht. Dabei war es ein durchaus stilvolles Etablissement gewesen, keine Hinterzimmer in einer Hafenkneipe. Hatte auch nicht wenig gekostet, obwohl die Preise im Vergleich zu New York erträglich waren. Auch das Mädchen war überraschend hübsch, eine Mulattin, neunzehn, zwanzig Jahre vielleicht. Ein bezauberndes Lächeln, eine wundervolle Haut und eine Figur, wie man sie sich für dieses Geschäft nur wünschen konnte.

Aber sie sträubte sich lange, sich völlig auszuziehen und ansehen zu lassen, was sich Gowers als erfahrener Bordellbesucher zum Prinzip gemacht hatte. Nicht nur aus Gründen der Vorfreude oder des Genusses – obwohl er gerade die schönen Huren genoss wie Weine; kostete, nippte, schaute, sich nie sinnlos betrank. Auch, weil bestimmte Ansteckungserkrankungen sehr weit verbreitet, aber ebenso leicht zu erkennen waren.

Die Mulattin etwa würde in zwei oder drei Jahren keine Nase mehr haben, und dieses Schicksal konnte sich Gowers durch seine ausführliche Visitation ersparen. Nicht ersparen konnte er sich die Frustration, eine so schöne Landschaft gewissermaßen ausgebreitet vor sich zu sehen und sie nicht betreten zu dürfen. Dabei konnte er seine eigene Lust inzwischen schon riechen – oder bildete sich das zumindest ein.

Er schickte sie weg, um ein anderes Mädchen zu holen, aber es kam nur der Rausschmeißer, ein sechs Fuß großer und über zweihundert Pfund schwerer Neger, dem er ohne seinen Totschläger sicher nicht beigekommen wäre. Wie dem auch sei, seinen Hut hatte er bei dem mehr als übereilten Aufbruch verloren, sein Rock war zerrissen und sein Hemd blutig, wenn es auch nicht sein eigenes Blut war.

Unangenehm war außerdem, dass er, in diesem abenteuerlichen Aufzug aus dem Fenster des verrufenen Hauses springend, mitten in der sechsköpfigen Familie eines englischen Predigers gelandet war, die dann, weiß der Teufel, ausgerechnet auf der Northumberland von den Bahamas nach Kapstadt reiste, um die Kraft ihres Glaubens zur Abwechslung mal an afrikanischen Heiden zu erproben.