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48.
Er hörte Van Helmonts Mundharmonika schon auf dem schmalen Niedergang auf das zweite Achterdeck: Die letzten Takte von Dixie, dann Old & golden Slippers – der Arzt war offenbar bester Laune und empfing ihn mit der freudigen Anspannung eines Mannes, der sensationelle Neuigkeiten zu verkünden hat.
»Eine gute und eine schlechte Nachricht!«
»Zuerst die schlechte, bitte«, seufzte Gowers niedergeschlagen. »Und vorher, wenn’s geht, eine Zigarre!«
Der Arzt wartete, bis der Investigator seinen gequälten Hirnkasten in den wohltuend-dämpfenden Tabaknebel gehüllt hatte.
»Louis Vivés ist heute gestorben.«
»Schnell, die gute«, sagte Gowers.
»Na ja, ›gut‹ ist eigentlich relativ …«
»Hat er noch irgendwas gesagt?«
»Nein.« Auch Van Helmont zündete sich jetzt eine Zigarre an und blies genüsslich den Rauch an die Decke. Gowers’ Narbe begann zu jucken, und nach einer Weile sprang er nervös auf und fing ungeniert an, sich zu kratzen.
»Das wollte ich sehen!«, triumphierte der Arzt. »Die gute oder weniger gute Nachricht, ganz, wie Sie wollen: Vivés ist vergiftet worden!«
Das Jucken hörte schlagartig auf. »Ist das sicher?«
»Ich bin ziemlich sicher. Arsen. Über einen längeren Zeitraum, wahrscheinlich schon seit er an Bord ist.«
»Weiß Braddock davon?«
»Der Idiot? Nein. Der würde auch ein Messer im Rücken für eine natürliche Todesursache halten.«
»Wie kommen Sie auf Arsen?«
»Hab erst kürzlich eine Arsenvergiftung gesehen. Meine Mutter …«
»Oh! Mord?«
»Könnte man sagen, ja.«
»Wer war es?«
»Ein gewisser Abraham Lincoln. Sherman. Grant. Eine organisierte Bande sozusagen.«
»Ich verstehe. Wie können wir sichergehen?«
»Ich habe ihm ein paar Haare abgeschnitten. Verstehen Sie was von Chemie?«
»Nein.«
»Dann schauen Sie halt nur zu.« Van Helmont suchte aus einem seiner unzähligen Gepäckstücke einen Tiegel, eine Lupe und ein bestimmtes Chemikalienfläschchen heraus. »Eine Schwefelwasserstoffverbindung. Ich fürchte, es wird nicht besonders gut riechen.«
Der Arzt legte die dunkelblonden Haare, die er Louis Vivés über dem Ohr abgeschnitten hatte, in den Tiegel, goss ein wenig der Flüssigkeit darüber, die tatsächlich sehr unangenehm roch – vor allem in Verbindung mit dem Zigarrenrauch –, und erhitzte alles mithilfe einer Zuckerzange über der Kerze.
»Ist eigentlich nicht nötig«, sagte er, »geht aber schneller!«
Die Flüssigkeit verdampfte nicht in einzelnen Wolken, sondern als ein dünner, stinkender und sehr hartnäckiger Nebel. Nach fünf Minuten unablässigen Schwenkens und Rührens, bei dem Gowers allmählich schlecht wurde, hielt der Arzt mit einer rasch aus seiner Medizintasche hervorgesuchten Pinzette eines der Haare ins Licht der Petroleumlampe und sah es sich durch die Lupe eingehend an.
»Hm. Vier, fünf Wochen. Wie ich vermutet habe.«
Auch Gowers sah schon mit unbewaffnetem Auge, dass das Haar von der Spitze aufwärts fast weiß geworden und nur an der Haarwurzel für die Länge von vielleicht einem Zentimeter dunkel geblieben war.
Van Helmont dozierte: »Arsen lagert sich in den Haaren ab, verbindet sich mit den Pigmenten, der Wasserstoff kann sie nicht mehr lösen. Das menschliche Haar wächst pro Tag etwa 0,1 bis 0,2 Millimeter. Die Dosis ist kontinuierlich gesteigert worden, aber wie dem auch sei: Ihr Mörder ist jedenfalls noch an Bord!«
»Falls es nur einer ist«, sagte Gowers.
In diesem Moment platzte George Barclay, ohne anzuklopfen, in die Kabine, sah verwirrt auf das seltsame Treiben und – roch es dann auch, mit weit aufgerissenen Augen. Und wäre seine Nachricht weniger wichtig gewesen, er hätte bestimmt eine Bemerkung darüber gemacht. So aber keuchte er: »Doktor! Doktor Braddock schickt mich, Sie möchten sofort kommen. Louis kommt wieder zu sich!«
Van Helmont erstarrte samt seiner Zigarre zu einem Denkmal naturwissenschaftlichen Staunens, langte dann mechanisch seine Jacke vom Haken, seine schwarze Tasche vom Tisch und folgte dem aufgeregten Schiffsjungen.
»Chemiker«, höhnte Gowers ihm hinterher, »Quacksalber ! Stinktier!«
49.
Er wusste, dass angeblich Schiffe auf See waren, die ihn entführen und nach New Orleans bringen sollten. Tatsächlich hatten ihm französische Geschäftsleute dort ernsthaft ein Exil angeboten, aber diese Idee hatte er selbst noch nach Waterloo in den Wind geschlagen. Der Kaiser der Franzosen würde sich nicht auf einem Fischkutter oder Schnapsschmuggler verstecken! Auch das Gerücht, er hätte mit seinem privaten Vermögen eine geheime Flotte ausgerüstet, die ihn im Golf von Kamerun befreien würde, hatte ihn eher erheitert.
Was wussten die Leute von seinem privaten Vermögen?
Und was hätte auch die größte französische Flotte gegen die simple Tatsache vermocht, dass Cockburn ihn eher an den Ersatzanker binden und ins Meer werfen lassen würde, als ihn freizugeben? Jedenfalls hätte er das so gemacht.
Der Kaiser lächelte, weniger über diesen Gedanken – Napoleon Bonaparte an der tiefsten Stelle des Atlantiks versenkt! – als darüber, dass Madame Bertrand am Arm ihres Mannes auf dem Oberdeck aufgetaucht war. Er mochte die hochgewachsene, bleiche Schönheit, die so ganz anders war als die dunkle Josephine oder die österreichische Fleischwurst, die er so teuer bezahlen musste.
Natürlich hatte er sie schon einmal besessen. Er hatte mit fast allen Frauen seiner Generäle geschlafen, jedenfalls sofern sie hübsch waren, und dabei die Erfahrung gemacht, dass die cornuti es beinahe als eine Auszeichnung empfanden, auf diese plebejische Weise mit dem Kaiser verschwägert zu sein. Zum ersten Mal seit Wochen verspürte er wieder eine Regung des Fleisches und freute sich darüber, dass Madame Bertrand und Madame Montholon sein Exil teilen würden.
»Ich bin erfreut, Sie wohlauf zu sehen, Madame!«
Er nahm ohne Umschweife ihren Arm, den Bertrand ihm auch schicksalsergeben überließ, und führte sie auf dem Schiff herum, als gehörte es ihm. Der General ging hinter ihnen, um bei Bedarf Napoleons Ausführungen über die Seefahrt im Allgemeinen und die Northumberland im Besonderen durch eifriges Kopfnicken zu bestätigen.
»Dies ist das Vorschiff, Madame, unter uns befinden sich die Quartiere der Mannschaft, die sogenannte Back. Der wildeste Teil des Schiffs, in jeder Beziehung. Fühlen Sie, wie der Bug in die Wellen taucht?«
Madame Bertrand fühlte das Auf und Ab der Northumberland stärker, als ihr lieb war, und kämpfte doch gegen den Wunsch, sich beim Kaiser entschuldigen zu müssen, mit der natürlichen Kraft an, die sie als Generalsfrau ihr Eigen nannte. Dann verschlug es ihr allerdings die Sprache.
»Dort vorn ist der Klüverbaum, und hier …«
Selbst Napoleon verstummte.
Zwei Matrosen hatten die kleine Gruppe offensichtlich nicht kommen sehen und waren ins Klüvernetz gestiegen, um zu tun, wozu dieser Teil eines Segelschiffs der Mannschaft seit Beginn der christlichen Seefahrt dient. Madame Bertrand überlegte, ob es opportun wäre, in Ohnmacht zu fallen, als die beiden nahezu gleichzeitig die Hosen herunterließen und sich in das Netz hockten. General Bertrand war schon vorgetreten, um die schamlosen Schmutzfinken zur Ordnung zu rufen, aber Napoleon fühlte, dass das die Sache für alle Beteiligten nur noch peinlicher machen würde, und sagte: »Galionsfiguren, Madame. Englische Galionsfiguren.«
Madame Bertrand lächelte säuerlich. Nie wieder würde sie den Anblick eines Segelschiffs als majestätisch empfinden können.