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»Mach schon, und lass dich ’ne Weile nicht sehen.« Der Hauer gab ihm einen derben Stoß und blieb alleine mit Mary-Ann. »Und du hältst dein Maul!«, hörte er ihn noch sagen.
Vorn, ganz vorn, an der Stelle, wo sich die eisernen Werkzeuge der Männer in den Berg fraßen, saß ein fünfjähriger Junge und sah sich verwundert um. Er hatte keine Angst, weil er nicht wusste, wo er war. Neben und über ihm kein Ausbau mehr, nichts als das nackte Gestein. Ben legte sich auf den Bauch, inmitten der Kohleader. Er sah, wo der Mann die Ader aufgekratzt hatte, fuhr mit den Fingern über die glatte, leicht glänzende Stelle. Dann nahm er den kalten Meißel auf, den viel zu schweren Hammer, und kleine schwarze Splitter brachen aus dem Berg.
61.
Weit unten im Süden, in der Nähe von London und an einem anderen Tag, in einem anderen Jahr, hob ein kleiner Junge die Splitter auf. Sie lagen vor dem Kamin. Seine Finger wurden schwarz dabei. Das war neu, das war lustig.
Man konnte damit auch auf Kleidern und Wänden schwarze Striche ziehen, und selbst der Wachsoldat, der dabeistand, konnte sich nur mit Mühe das Lachen verbeißen. Er überlegte kurz, was zu tun sei, dann ließ er den Jungen gewähren. Das Vaterland erwartete von ihm, und seine Vorgesetzten hatten ihn dazu erzogen, dass er nicht sah, was die Herrschaften taten. Oder sich nicht ansehen ließ, dass er es sah.
Ein Zimmermädchen bemerkte schließlich das Kichern des Kindes und dann auch den Grund für das Kichern. Sie sagte es einer Gouvernante. Die Gouvernante holte den Pädagogen herbei, der Pädagoge, sprachlos, informierte den Kammerdiener, und der Kammerdiener verständigte behutsam die Königin.
Viktoria, die sich angeblich nie umsah, wenn sie sich setzen wollte, sondern erwarten durfte, dass man ihr immer und überall rechtzeitig einen Stuhl oder Sessel unter den Unnennbaren schieben würde, sah sich zu exekutiven Maßnahmen genötigt. Zuerst musste der Mensch entlassen werden, der die Unsauberkeit am Kamin zu verantworten hatte; ein Wink, ein Federstrich. Dann befahl sie dem immer noch fassungslosen Pädagogen in der wachsenden Ansammlung ihrer Domestiken: »Emerson, nehmen Sie Master Edward diesen grässlichen Gegenstand weg!«
Das Kind erstarrte, wie immer schuldbewusst, das schöne Spielzeug verschwand. Dann hörte der Prince of Wales diese immer so leise Stimme, die sein Leben, das Britische Empire und ein ganzes Zeitalter prägen würde: »Das ist Kohle, Sir! Sie werden nie wieder Kohle anfassen. Sie ist sehr schmutzig.«
62.
Diese Dinge kamen häufig vor, trafen Frauen, Mädchen und die kleineren Jungen. So oft, dass die Pfarrer deswegen bei den Grubenherren vorsprachen und hin und wieder allen Ernstes der Vorschlag gemacht wurde, nur Ehepaare in der gleichen Schicht einzusetzen. Oder nur ältere Frauen, ältere Männer.
Manchmal breiteten sich diese Dinge wie eine Epidemie in den Gruben aus, sprangen von Tal zu Tal; die Eingeweihten erzählten es denen, die noch nie daran gedacht hatten, und dann endete die Seuche erst, wenn die gröbsten Übeltäter verschwanden oder wenn ein Arzt unter den jungen Männern das Gerücht ausstreuen konnte, die im Berg gezeugten Kinder kämen ohne Augen zur Welt.
Mary-Ann erzählte niemandem davon, aber sie bemerkten es, als Ben immer öfter und nicht ohne Stolz erzählte, dass er heute wieder Kohle geschlagen hatte. Da lauerten sie ihm auf. Verkeilten den Wagen im Gang, ein paar Meter die Strecke hinauf, löschten ihre Lampen und warteten.
Und der Mann kam ebenso wortlos aus seinem Loch heraus, wie er Ben hineinschob. Stand gebeugt, nur ein schwarzer Schatten, über dem kleinen Mädchen und sagte: »Mach!«
Mary-Ann tat, was er wollte, und schwieg, als sei es normal. Weinte nicht, schrie nicht, zitterte nur ein wenig. Und vielleicht war dieses Schweigen, diese wortlose Ergebenheit in ihr Schicksal der Grund dafür, dass der Hass der Frauen stärker aufloderte, als sie es selber wollten. Hochschlug in den Adern der Erde, eine düstere Flamme, die den Hauer verbrannte.
Der Junge im Flöz merkte es nicht einmal. Hörte nur ein Keuchen, das lauter war als sonst und aus verschiedenen Kehlen kam.
Als Jane das schweißnasse, nackte Fleisch unter ihren Händen fühlte, diese kraftvollen Muskeln sich zum letzten Mal anspannten, die zuckenden Hände in der Erde kratzten, als wollten sie das Erz mit den Fingernägeln aus dem Berg reißen; als Beth den schweren, kantigen Stein fallen ließ und weiter mit bloßen Fäusten auf den Sterbenden einschlug, weil das Glied des Mannes auch in der Agonie nicht kleiner wurde, als Mary-Ann nun doch noch mit zusammengepressten Lippen lautlos zu weinen begann, schaute Ben aus dem Flöz heraus.
Er hielt es für völlig normal, dass Männer auf diese Weise zu Tode kamen.
63.
Erst im Krieg hatte er, ein wenig verwundert, festgestellt, dass es sein Verhältnis zum Tod und zum Töten war, das ihn von anderen Menschen, von seinen Kameraden am deutlichsten unterschied. Für die weitaus meisten Menschen war der Anblick von Leichen eine Art Sensation, die sie mit Grauen, Angst und Trauer, allenfalls mit einer als etwas peinlich empfundenen Neugier verbanden. Auf den Schlachtfeldern wichen diese Gefühle einer Abstumpfung, die meistens zu Ekel, bisweilen aber auch zu einer Rohheit führte, die ganz normale Männer dazu bringen konnte, die Leichen ihrer Feinde und sogar ihrer Freunde zu berauben oder zu verstümmeln.
Es war das Gefühl von Macht in ihrer primitivsten Form, der Macht der Lebenden über die Toten, das achtzehn-, zwanzigjährige Soldaten dazu veranlasste, gefallenen Südstaatlern oder Offizieren die Hosen herunterzuziehen und über ihre manchmal noch warmen Geschlechtsteile höhnische Bemerkungen zu machen. Bei einigen endete dieser Zustand in Wahnsinn und Irrenhaus, andere wurden brutal, schlugen im Frieden Frau und Kinder aus Entsetzen über sich selbst. Die weitaus meisten wurden mit den Jahren wieder normal, vergaßen, was sie gesehen hatten, und schliefen nur hin und wieder schlecht.
John Gowers kannte das alles nicht, weder Rohheit noch Ekel, keine Abstumpfung, aber auch kein Grauen. Der Tod war für ihn keine Sensation, er sah ihn pragmatisch, fast wie ein Arzt, als etwas Normales, Unumgängliches, manchmal Notwendiges. Deshalb fiel ihm das Töten nicht leichter, aber wo seine Mitmenschen, Kameraden blind um sich schlugen und schossen, in einer durch die jeweiligen Umstände provozierten Art von Raserei, einem Ausnahmezustand, blieb John Gowers stets kalt, überlegt, sogar wenn er aus Rache tötete, was allerdings erst ein einziges Mal geschehen war.
64.
Niemand, nicht einmal die Mutter des Hauers, bezweifelte, dass es ein Unglück war.
Nichts war geschehen, was nicht jeden Tag und immer wieder geschehen konnte.
Als Jane sah, dass ihr neuer Hauer der junge Peters war, achtzehn jetzt und mehr in die Breite als in die Höhe gegangen, wusste sie, dass sich nichts ändern würde. Obwohl anfangs schüchtern und linkisch, war ihm anzumerken, dass er sich seiner und ihrer Stellung bewusst war. Wusste, dass er nun ein König und für zwölf Stunden ihr fast unumschränkter Herr war. Und niemand da, der ihn verprügeln würde, wenn er sie ansah, und sei es auch, wenn sie ihre Notdurft verrichten musste.
Sie wusste, dass es nicht lange dauern konnte, bis er Bemerkungen machen und sie schließlich anfassen würde. Sie sah alles kommen.
Beratschlagte mit Beth, wie dem zu begegnen sei und ob vielleicht eine Andeutung über das Schicksal seines Vorgängers helfen würde. Aber Beth sagte kopfschüttelnd: »Tu ihm doch einfach den Gefallen!« Hatte zu viel Angst, dass sich eine entsprechende Bemerkung zu weit verbreiten und dann Folgen haben würde.
Jane glaubte tatsächlich, sie spräche von einer gerichtlichen Untersuchung, von Polizei und Zeugenaussagen, aber dann erzählte Beth leise und stockend eine Geschichte, die sie selbst nur gehört hatte und die Janes Blut beinahe zu Eis werden ließ: wie weit weg, in einer anderen Grube, vor langer Zeit einmal Krieg ausgebrochen war unter dem Berg. Zwischen Männern und Frauen. Mit Toten auf beiden Seiten, gezielten Anschlägen, geschändeten Leichen im Schachtsumpf.
An diesem Abend schrieb Jane zum ersten Mal etwas auf. Sie wusste selbst nicht, für wen – oder was daraus werden sollte. Schrieb von sich und von John, ihrem Leben, seinem Tod – und weinte dabei. Dann von der Arbeit in den Minen, den Dingen, die niemand laut aussprach. Dabei weinte sie nicht mehr. Und schrieb und schrieb, als die Kinder, Beth, Mutter Irvine längst eingeschlafen waren, bis sie selbst nur noch zwei graue Stunden hatte, ehe der Berg wieder über ihr zusammenschlagen würde.
Sie dachte jetzt nicht mehr an John, wenn sie einfuhr. Schloss nicht mehr die Augen, sondern sah hoch, nach oben, wo der Lichtpunkt der Öffnung kleiner und enger wurde, wo der Himmel in der Entfernung verschwand wie das letzte Glimmen einer abgebrannten Kerze.
65.
Auf Gowers’ Brust, rechts, genau auf dem großen Brustmuskel, befanden sich vier kleine Druckstellen, die zuerst rot waren und sich nun langsam dunkel einfärbten. Man konnte es auch ohne Lampe in der Morgendämmerung deutlich sehen.
»Kräftiges Kerlchen, Ihr Inder«, sagte Van Helmont und musterte die Verletzung mit fachmännischer Miene. »Wenn dieser Schlag Ihren Kehlkopf getroffen hätte, wären Sie jetzt mit einiger Sicherheit tot. Ich hoffe, der ganze Aufwand hat sich wenigstens gelohnt?«
»Ich konnte mich umsehen. Und Sie?«
»Oh, es lief alles nach Plan. Abgesehen davon, dass ich … Sagen Sie, ist es normal, dass man in diesen Laderäumen viel stärker das Gefühl bekommt, dass man auf dem Meer eigentlich nichts zu suchen hat?«
Gowers lächelte. »Sie meinen, auch wenn man kein Feuer legt? Dünne Planken, Eierschale, wesensfremdes Element und all das?«
»Ja.«
»Ja.« Er wollte hinzufügen, dass dieses Gefühl bei einem Schiff, das im Eis eingefroren ist, noch hundertmal schrecklicher ist. Weil das Meer dann Hände bekommt, harte, eisige Finger, die das Schiff umklammern, nach seinem Herzen tasten, bis das Holz ächzt unter dem Griff. Aber der Arzt war schon wieder woanders.
»Aber da war noch etwas …«
Es klopfte, ehe er fortfahren konnte. Und noch bevor einer von beiden etwas gesagt hatte, platzte ein Schiffsjunge herein, der viel von seiner Frechheit und alles von seiner Selbstsicherheit eingebüßt hatte.
»Tag, Sir. Entschuldigung, Sir.«
»Hallo, George.«
Gowers hatte mit diesem Besuch gerechnet, wenn auch noch nicht so bald und in diesen frühen Morgenstunden. Dem Jungen war allerdings anzusehen, dass er kein Auge zugetan hatte.
»Ich komme, weil … ich möchte Sie bitten, dass …« Die Haarsträhne spielte verrückt und fiel ihm schneller ins Gesicht, als er sie zurückstreichen konnte. Seine Hände, Knie, der ganze junge Mensch zitterte.
»Schon gut, George. Ich werde es niemandem sagen.«
»Danke, Sir!« Er atmete tief durch, und es schien, dass sich seine verkrampften Rückenmuskeln zum ersten Mal seit Stunden entspannten, jedenfalls sackten seine Schultern ein wenig nach vorn.
»Aber ich will wissen, was du da gemacht hast, heute Nacht in Edens Kabine!«
»Oh, Sir, ich …« Das Zittern war schlagartig wieder da, aber diesmal war es keine Angst mehr, es war Scham. George Barclay begann zu weinen. Er heulte nicht wie ein Kind, schluchzte nicht wie ein Mädchen, er weinte lautlos und zog nur manchmal die Nase hoch. Dann sagte er leise und schon wieder eine Spur trotzig: »Er bezahlt mich dafür.«
»Dass du mit ihm ins Bett gehst«, ergänzte Gowers, der keinen Grund sah, einen fünfzehnjährigen Jungen zu schonen, der aus seinem Körper ein Geschäft machte. Der ihn deswegen aber auch nicht verachtete oder ihn demütigen wollte, sondern ganz einfach sachlich blieb. George bemerkte das und wurde wieder sicherer, hörte auch auf zu weinen.