177531.fb2 Tod auf der Northumberland - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 25

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Als sie schon so viel gesammelt hatte, dass sie daran denken konnte, ihr Wissen zu systematisieren, als sogar schon die ersten Sätze einer Petition in ihr arbeiteten, sagte Beth eines Tages: »Sie reden über dich, im Berg und im Dorf. Sie fragen sich, warum du mit so vielen Leuten sprichst und was du alles wissen willst. Du musst vorsichtiger sein.«

»Warum vorsichtig?«, fragte Jane naiv. Nachdem sie so lange mit den Bergleuten gelebt und gearbeitet hatte, hielt sie sich für eine der ihren und konnte sich nicht vorstellen, dass sie in den meisten der kleinen Häuser immer noch als die Pfarrerstochter galt, ja, dass einige Leute sogar glaubten, sie könne ihre Arbeit im Berg jederzeit aufgeben und zu ihrer Familie zurückkehren.

Da sie schreiben und lesen konnte, war der harmloseste Verdacht der, dass sie vielleicht ein Buch schreiben würde, aber schon dieser Gedanke reichte für erheblichen Unwillen aus. Die Menschen sahen sich als zoologische Objekte, und obwohl kein einziges Wort fiel, fingen einige an, sie ganz offen zu schneiden.

Jane glaubte zuerst, dass die Grubenherren und ihre Spitzel von ihrem Plan Wind bekommen hätten, merkte aber schließlich am eigenartigen Verhalten ihres jungen Verehrers, dass jemand ganz anderes dahintersteckte und offenbar gezielt das Gerücht ausstreute, sie sei einer dieser Spitzel. Und weil von da an niemand mehr mit ihr redete, tat sie genau das, was sie ursprünglich so gefürchtet hatte und um jeden Preis vermeiden wollte: Sie richtete es so ein, dass sie mit dem Hauer allein blieb. Schickte Beth mit den Kindern die Strecke hinauf und kroch zu ihm in den Flöz.

»Tom? Tom Peters?«

»Was willst du?«

»Mit dir reden.«

»Ich arbeite.«

»Sei lieb. Komm herunter!«

Seine zuletzt fast wütenden Schläge erstarben, als sie ihn am Bein berührte. Dann rutschte er ihr nach, hockte nackt vor ihr im Stollen. Schweißtropfen zogen schmale weiße Bahnen über seinen Körper. Ohne ein Wort und wilder, als sie wollte, küsste sie ihn auf den Mund. Für Sekunden erschrak er, erstarrte, dann siegte sein Verlangen nach ihr.

71.

Tom Peters hatte von ihr geträumt, seit er dreizehn war. Seit er Wand an Wand mit ihr schlief und das auch wusste, weil er ihre Bewegungen, ihren Atem, die Geräusche beim Umdrehen von denen ihres Mannes, dieses Riesen, deutlich zu unterscheiden vermochte. Er hatte morgens und abends sogar die Stelle an der Wand geküsst, von der er annahm, dass ihr Kopf daran lag, nur wenige Zentimeter von seinem eigenen entfernt. Und er hatte ihr tiefes leises Stöhnen gehört, wenn sie in den Armen des anderen Mannes lag.

Bei John hatte sie sich stets sicher gefühlt, sosehr sie sich ihm auch hingab. Die Erinnerung an seine Zärtlichkeiten hatte ihr qualvolle Nächte bereitet. Sie hatte befürchtet, diese Erinnerungen zu verlieren, aber sie wurden nur stärker in ihr. Dieser achtzehnjährige Junge konnte nur ihren Körper befriedigen.

Als seine Bewegungen zu heftig wurden, seine Berührungen zu hart, sagte sie: »Warte!«, und: »Langsam!« Wand sich und drehte sich, holte tief Luft und küsste ihn so lange auf den Mund, bis er stillhielt und endlich begriff, was sie wollte. Keuchend vor Erregung drehte er sich auf den Rücken. Jane hockte sich auf ihn, über ihn. Ihr Kopf sagte, dass er danach mit ihr reden würde. Ihr Körper gab sich seinen Erinnerungen hin.

»Da war einer aus Blaydon«, sagte er später, als er mehr verwirrt als erschöpft von der Befriedigung seiner Träume in dem engen Gang hockte. »Der hat nach dir gefragt, wer du bist, was du sagst. Und dass wir besser nicht mit dir reden sollen.«

»Wer war das? Kennst du den?« Jane wusch sich mit dem Wasser aus seiner Feldflasche, vor seinen Augen, und als sie sah, dass seine Erregung dabei wieder wuchs, wusste sie, dass er sie nicht belügen würde.

»Union«, sagte er leise, und wäre sie wirklich die Spionin gewesen, für die er sie trotz allem noch hielt, er hätte sich mit dieser Antwort völlig in ihre Hand gegeben. Auch das wusste Jane, und er tat ihr nur noch leid. Sie zog ihre Hose an, die Schuhe.

Im nächsten Moment hätte sie sein Gesicht in beide Hände genommen. »Ich bin kein Spitzel, Tom. Sag das allen!«, wollte sie sagen, hätte sie gesagt, aber von oben, den Gang herunter, näherte sich ein Schlurfen, Rutschen, das unmöglich von Beth und den Kindern herrühren konnte. Eine Lampe blitzte auf, viel stärker, heller als die übliche Davy, mit Spiegeln verstärkt, man sprach jetzt sehr viel davon. Und eine Stimme ertönte: »Jane Williams!«

Jane, geblendet von dem plötzlichen Licht und immer noch an ihrem Gürtel nestelnd, fragte verstört: »Was ist?«

»Mitkommen!«, befahl die Stimme, die keine Widerworte duldete.

»Wohin?«

»Raus. Nach oben!«

»Und wer macht ihre Arbeit?«, fragte Tom Peters.

Das Licht glitt über den nackten Jungen, der den Einspruch gewagt hatte, und der Mann sagte böse, belustigt: »Welche Arbeit?« Und zu Jane: »Komm schon! Und nimm deine Sachen mit!«

Auf allen vieren folgte Jane dem Obersteiger, hoch, zum letzten Mal den engen Stollen hinauf.

»Was ist mit meinem Jungen?«, fragte sie und nahm Bens Hand, als sie oben waren. Ihr war kalt geworden in den wenigen letzten Minuten, sie zitterte. Ben war ganz ruhig, seine Hand blieb warm.

»Nimm ihn mit, lass ihn hier, schmeiß ihn in den Schacht!«, knurrte der Mann unwillig, der sich auch in der Hauptstrecke nicht einmal halb aufrichten konnte und schon wieder ein paar Schritte voraus war. Und Jane folgte ihm, den stillen Jungen an ihrer Hand, obwohl sie das Gesicht des Mannes noch immer nicht gesehen hatte.

Beth, Mary-Ann und die alten Männer sahen ihnen nach. Es geschah sehr selten, dass jemand aus dem Berg herausgerufen wurde, und es bedeutete nie etwas Gutes.

»Abkehr«, murmelte einer.

»Dafür das Getue?«, erwiderte ein anderer.

Dann nahmen sie ohne ein weiteres Wort ihre schwere Arbeit wieder auf.

72.

»Sagen Sie mir ja nicht, was Sie herausgefunden haben. Ich mag es gern, wenn ich keine Ahnung habe, worum es eigentlich geht!«

Nachdem Gowers auch zwei Stunden nach seiner Rückkehr noch nichts anderes getan hatte, als auf seiner Koje zu liegen und Rauchwolken an die Decke zu blasen, wurde Van Helmont allmählich sarkastisch.

»Entschuldigung, Doc, aber ich habe nicht viel herausgefunden. Und selbst das wenige verwirrt mich.« Er strich über das Buch, das auf seiner Brust lag, und lächelte. »Als würde man in den Traum von jemand anderem geraten.«

»Was?«

»Alice im Wunderland. Als würde man in den Traum von jemand anderem geraten.«

»Werden Sie jetzt poetisch statt rätselhaft?«

»Nein. Oder beides. Das ist aus einer Kritik im Spectator. Kennen Sie Alice im Wunderland?« Gowers reichte ihm das Buch, und wie nicht anders zu erwarten, blätterte der Arzt umso gespannter, je weniger er die Illustrationen von Sir John Tenniel verstand.

»Nur den Titel«, brummte Van Helmont. »Stand schließlich in allen Gazetten, gleich hinter Unser Vetter aus Amerika8. Demnach ein ziemlicher Erfolg.«

Gowers hatte sich längst abgewöhnt, auf die verklausulierten Beleidigungen und Provokationen des Südstaatlers einzugehen. »Ausgesprochen erfolgreich, ja. Obwohl es keine wirkliche Geschichte erzählt. Jedenfalls keine, die einen Sinn ergibt. Und genau das ist der Sinn.«

Der Arzt warfihm einen zweifelnden Blick zu, sagte: »Aha!« und blätterte verständnislos weiter.

Gowers gab jedoch noch nicht auf. »Jede Figur darin folgt einer Logik, ganz strikt, ohne Abstriche. Aber jede folgt einer eigenen Logik. Das macht das Ganze natürlich ziemlich unlogisch.«

»Natürlich, natürlich«, sagte Van Helmont, als wollte er einen Irren beruhigen. Dann fiel sein Blick auf das Porträt des verrückten Hutmachers. »Und wer ist das?«, fragte er, mit dem Finger im Buch.

»Mad Hatter«, sagte Gowers. »Meine Lieblingsfigur. Spezialist für Rätsel ohne Lösung. Das heißt, er gibt Ihnen Rätsel auf, deren Lösung er selbst nicht kennt.«

»Und macht er es sich da nicht ziemlich leicht?« Van Helmont warf dem Investigator einen vielsagenden Blick zu.

»Er erzählt auch Geschichten, die er nie zu Ende bekommt, weil ihn ständig jemand unterbricht«, erwiderte Gowers grinsend. »Und er sitzt sein Leben lang beim Fünf-Uhr-Tee, weil just zu dieser Zeit seine Uhr stehen geblieben ist.«

»Für einen Engländer vermutlich ein völlig logisches Verhalten!« Van Helmont klappte das Buch zu. »Aber auf die Gefahr hin, die Geschichte unnötig zu verlängern: Was hat das alles mit zwei Morden, drei Indern und einem Schiffsbrand zu tun?«

Dem Arzt war anzusehen, dass er allmählich nicht mehr zu Späßen oder feinsinnigen Andeutungen aufgelegt war. Gowers schwang deshalb seine Beine aus der Koje und beschloss, ihm das Eindeutigste zu geben, was er vorzuweisen hatte.

»In Bezug auf unsere Inder ist das tatsächlich alles: eine Kritik zu Alice in einer der Zeitungen, die in ihrer Kabine liegen, und das Buch selbst – das sie vermutlich schon vermissen werden. Aber was ich eigentlich sagen wollte …«