177531.fb2 Tod auf der Northumberland - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 26

Tod auf der Northumberland - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 26

»Sie meinen, Sie sagen erst stundenlang gar nichts und anschließend nicht das, was Sie sagen wollen? Dagegen sollten Sie aber mal was unternehmen, mein Junge!«

Gowers sah mit Freude, dass der Arzt dabei war, seinen speziellen Sinn für Humor wiederzufinden, und machte es noch einmal spannend.

»In mehreren Ausgaben von Punch und Times stand etwas über einen unserer anderen Bekannten …«

Van Helmont machte sich gar nicht erst die Mühe, nach dem Namen zu fragen, weil er wusste, dass das seine Qual nur verlängern würde. Und gerade als er sich wieder zu ärgern begann, sagte Gowers promt: »Eden. Die Aktivitäten seiner Lordschaft führten demnach in Cambridge zu einem recht heiklen Skandal.«

»Jungen«, sagte der Arzt, ohne eine Miene zu verziehen.

»Minderjährige, ja«, bestätigte Gowers.

»Ich dachte, dergleichen wäre in englischen Erziehungsinstituten kein wirklicher Skandal.«

»Nicht, wenn alle Beteiligten am Leben bleiben, nein. Aber in diesem Fall ging es um Selbstmord, um ein paar ziemlich belastende Briefe und eine sehr konkrete Prozessandrohung.«

Van Helmont angelte mit neu erwachendem Interesse eine Havanna aus Gowers’ leerer und leerer werdender Zigarrenkiste und resümierte: »Sie haben also jetzt einen mutmaßlichen indischen Mädchenentführer, einen erprobten englischen Knabenschänder und zwei tote ältere Herren.«

»Einen Briten und einen Franzosen«, sagte Gowers seufzend, fing sich aber wieder, ehe Van Helmont eine ironische Bemerkung über seine offenkundige Resignation loswerden konnte. »Sobald wir wieder auf See sind, werde ich zumindest diesen Inder zum Reden bringen!«

»Und wie?«, fragte der Arzt, der seine spitze Zunge einfach nicht im Zaum halten konnte. »Wollen Sie seine Hose anzünden?«

»Nein«, erwiderte Gowers. »Ich denke, ich werde ihm zufällig an Deck begegnen und einfach sagen: All in the golden afternoon/Full leisurely we glide…«9

Van Helmont bedachte ihn wieder mit einem Blick, den man zweifelnd oder aber medizinisch interessiert nennen konnte, und sagte nach einer Weile: »Vielleicht macht er Ihnen ja daraufhin einen Antrag. Dann könnte Eden der Brautführer sein.«

Nun war es an Gowers, seinen Ärger offen zu zeigen. »Ihre Bemerkungen werden allmählich böse, Doc!«

»So?«, sagte der Arzt. »Ich gebe mir ja auch alle Mühe.«

73.

»Mrs. Williams?« Es war Ingenieur Nelson, der sie ins Büro des Reviersteigers geführt hatte. »Darf ich Ihnen Mr. Hollister vorstellen, Mr. Burdette, Mr. Charlton.«

Jane ärgerte sich, dass sie den Grubenherren in diesem Zustand vorgeführt wurde, direkt aus dem Berg heraus, zu verdreckt, um ihnen die Hand hinzuhalten. Sie kam sich schmutzig und fehl am Platz vor, wie eine Bettlerin im Herrenhaus, und genau das war auch die Absicht der Herren gewesen, als sie sie rufen ließen.

Es wunderte eigentlich nur den Ingenieur. Er hatte den Minenbesitzern gleich nach Johns Tod den Vorschlag gemacht, Jane, Mrs. Williams, könnte die Kinder der Bergleute unterrichten, die jüngeren sowieso und die älteren nach Schichtende, aber er hatte nicht einmal eine Antwort erhalten. Erst als er insistierte, dass eine bessere Ausbildung, vor allem im Rechnen, letztlich auch bessere Ergebnisse in der Ausbeutung der Gruben herbeiführen könnte, neue Ideen, wer weiß, vielleicht sogar Erfindungen, hatte man ihm bedeutet, dass seine Aufgabe das Abteufen neuer Schächte sei – und nichts weiter.

Deshalb war er einigermaßen verblüfft, als ihn jetzt, drei Jahre später, Burdette auf ebendiesen Gedanken angesprochen hatte. Diese Kerle haben schon ein verdammt gutes Gedächtnis, dachte er. Und es stimmte. Die Grubenherren vergaßen nie etwas. Niemandem.

Diese Männer waren keine Unmenschen, nicht die Monster, als die eine andere Zeit sie hinstellte. Aber sie konnten rechnen. Natürlich machte es ihnen keinen Spaß, sechsjährige Kinder in die Minen zu schicken, aber jede andere Lösung – Galloways, Ponys oder erwachsene Menschen – hätte bedeutet, dass man auch die Höhe der Nebenstrecken um mindestens einen Meter vergrößern musste. So hohe Strecken hätten aber einen verstärkten Ausbau nach sich gezogen, Arbeitskräfte gebunden, Zeit gekostet – und das alles, ohne dass sich der Abbau vor Ort dadurch erhöht hätte.

Nein, die Kinder waren im Verhältnis von Preis zu Leistung ganz einfach billiger. Es war billiger, pro Jahr und Grube fünf bis zehn Menschen durch Schlagwetterexplosionen zu verlieren als auch nur einen einzigen Wetterschacht niederzubringen.

Das war keine Bosheit. Das war Ökonomie. Und letztlich: Wer zwang denn die Leute, Frauen und Kinder, in den Minen zu arbeiten? Niemand. Wer arbeiten wollte, für den fand sich Arbeit. Wer gehen wollte, den hielt man nicht. Es gab genug Menschen für den Berg. Mehr, als man brauchte. Und natürlich wirkte sich das auf die Löhne aus. Warum einem Mann einen Shilling zahlen, wenn ein anderer die Arbeit für einen halben tat?

So war alles nur eine große Rechnung, die am Ende aufgehen musste, manchmal sehr einfach, manchmal etwas komplizierter, mit einigen Unbekannten. Jane Williams war eine solche Unbekannte. Man wusste, dass sie Informationen sammelte, über die Arbeitsbedingungen in den Gruben am Tyne. Aber warum tat sie das?

Sie gehörte nicht zu den Unionisten, man kannte die Unionisten, beobachtete sie. Einige warf man hinaus, mit anderen arbeitete man zusammen, um das Ganze unter Kontrolle zu halten. Denn Entwicklungen, die man nicht verhindern kann, sollte man steuern können. Und tatsächlich war der erste Hinweis auf Jane Williams aus den Kreisen der Union gekommen.

Als sie vor ihnen stand, da bewegte diese gut gekleideten, satten, ruhigen, kühl kalkulierenden Grubenherren nur eine Frage: Welchen Einfluss kann dieses schmutzige kleine Wesen mit der riesigen Nase und seinem verdreckten Balg an der Hand auf unsere Bilanzen haben?

Sie waren gebildete Männer. Sie wussten, dass in der Geschichte manchmal die unbedeutendsten, die lächerlichsten Ursachen ungeahnte Wirkungen entfalten konnten. War Jane Williams so eine Ursache? Konnte diese winzige Zahl, weit hinter jedem Komma, ihre Rechnungen verfälschen? Sollte man Jane Williams verhindern oder steuern?

Mit dem Vorschlag dieses sentimentalen Ingenieurs ließe sich glücklicherweise beides tun, je nach Bedarf. Also machten die Gentlemen ihr das Angebot, von dem sie geträumt hatte, seit sie ihr Elternhaus verließ, um mit John zu gehen. An das sie sich geklammert hatte, nach seinem Tod. Und war es nicht auch ein erster Schritt in die Richtung, die sie und Beth und so viele andere anstrebten? Eines der Ziele, von denen sie träumten?

Jane war nicht so naiv. Sie wusste, dass sie gekauft werden sollte, dass sie nur deshalb direkt aus dem Berg geholt worden war, mit schwarzen, schmierigen Kleidern und Haaren vor diesen Männern stand, um die ihr erwiesene Gnade deutlicher zu spüren. Und sie glaubte den schönen Worten nicht.

Aber trotzdem konnte sie nicht verhindern und erreichten die klugen Rechner, dass der kleine Vogel Hoffnung aufflog in ihrer Brust, dass sie wieder den Himmel über sich sah, mit einem Platz darin. Nicht für sie, aber für ihren Jungen.

74.

Die Northumberland überquerte den Äquator fast genau am vierzigsten Längengrad. Kein Vermessungsingenieur hätte eine geradere Linie durch den Ozean ziehen können als Kapitän Radcliffe zwischen Britisch-Guayana und St. Helena. Das Wetter begünstigte seine Bemühungen, und da ein stetiger Wind wehte, spürte man auch die Hitze nicht in unerträglichem Maß.

Die Einzigen, die davon ohnehin nicht berührt wurden, waren die bedauernswerten Kinder des Missionars Parker, drei Mädchen, zwei Jungen. Sie trugen ihre schlichten schwarzen Anzüge oder Kleider so unveränderlich, als wären sie angewachsen und als sei es ganz gleich, wohin in der Welt Gott und Vater sie aussenden würden. Sie hätten am Nordpol nicht mehr getragen und trugen am Äquator nicht weniger. Aber obwohl sie ihr Leben der Bekehrung von Heiden gewidmet hatten, hatten sie eine derartige Taufe noch nicht gesehen.

Von den rund tausend Menschen an Bord hatten weit mehr als die Hälfte noch nie jene unsichtbare Linie überschritten, von der an die Erde auf dem Kopf steht, die See kocht und die Matrosen schwarz werden und bleiben müssen bis ans Ende ihrer Tage – wie ihre Vorfahren glaubten. Niemand wusste, wie alt das Ritual war, mit dem hier die erfahrenen die unerfahrenen Seeleute begrüßten, nur, dass es keine Regeln gab und dass jegliche Ordnung aufgehoben wurde, war allgemein bekannt.

Der kleinste Vortoppmann, der schon »jenseits« gewesen war, durfte jedem, der das nicht von sich sagen konnte, ungestraft die Südhalbkugel unter die Nase reiben, seien es nun Offiziere oder Mannschaften. Anfangs ein zweifellos harmloser Spaß, bei dem selbst Lords der Admiralität ihren Eimer Wasser über den Kopf bekamen, war die Äquatortaufe jedoch allmählich zu einer so derben Quälerei der »Heiden« geworden, dass man sie schließlich auf Mannschaft und Vorschiff beschränken musste.

Obwohl also die Passagiere von dem Schauspiel ausgenommen blieben – bis auf einige Füsiliere, die sich freiwillig gemeldet hatten, um vor den »Wasserratten« nicht als Feiglinge dazustehen –, nahmen doch nahezu alle diese willkommene Unterbrechung der inzwischen recht eintönigen Seereise wahr und strömten als Publikum zusammen.

Die Täuflinge wurden gegen mehr oder minder geringen Widerstand bis auf die Wäsche entkleidet, auf Deck festgehalten und dabei so kräftig von allen Seiten mit Wassergüssen eingedeckt, dass nicht Faden noch Haar trocken blieben. Derart gewaschen glaubten einige sich bereits genügend eingeführt und fielen ihrerseits über ihre noch ungetauften Kameraden her, bis eine hin und her wogende Wasserschlacht entstand, in der dann auch schon kameradschaftlich einige Fäuste flogen und Blutstropfen vergossen wurden.

Über den schwächsten Opfern wurde anschließend Scheuerseife ausgeschüttet, und ein paar Matrosen stürzten sich mit Bürsten und Putzwolle auf die Unglücklichen, die nun kaum noch die Augen offen halten konnten, weil Seife und Salzwasser darin brannten. Dem Süden sauber entgegentreten hieß die Parole. Und während die Stimmung dergestalt ihren Höhepunkt erreichte, erhob sich Neptun persönlich aus dem Meer, beziehungsweise stieg über die Bordwand.

Das Getümmel erstarb kurzfristig, die Männer johlten und klatschten begeistert, auch die meisten Zuschauer lachten, die Männer feixend, die Frauen und Mädchen ungläubig, staunend; nur Reverend Parker hatte seine gottesfürchtige kleine Herde sofort unter Deck getrieben, als der heidnische Gott aufgetaucht war. Neptun war völlig nackt, nur der Kopf, Gesicht und Haare waren mit Teer, Tang und undefinierbaren Stoffstreifen unkenntlich gemacht, sodass selbst die Seeleute nicht wussten, welcher der ihren die ungeheure Frechheit besaß, in diesem Aufzug vor aller Augen und in jeder Hinsicht herumzuhüpfen.

Gowers und Van Helmont hatten eine gewisse Vermutung, aber erst als Neptun einem sechseinhalb Fuß großen Gefreiten der 16. Füsiliere, den vier Männer kaum am Boden zu halten vermochten, auf den Bauch sprang und in den Oberschenkel biss, sahen sie sich bestätigt. Auch George Barclay glaubte plötzlich, sich einmal mehr in Lord Edens Kabine zu befinden.

Er lag auf dem Bauch, spuckte Salzwasser aus wie eine Brunnenfigur und war blind vor Seife, als er spürte, dass jemand seine Hose bis auf die Knöchel herunterzerrte. Nur das Gelächter der Umstehenden verriet ihm, dass dies am hellen Tag und vor aller Augen geschah, und er wehrte sich wie wild, was den Anblick für seine Peiniger und ihre Zuschauer nur noch ergötzlicher machte.

Die Seeleute schrien vor Lachen, als George in seiner Verzweiflung die Hose halbwegs wieder hochgezogen hatte und dabei den Stiel von Neptuns Dreizack zwischen den Beinen fühlte, den der Gott des Meeres dort in die Deckplanken gesteckt hatte. Und noch der dümmste Maat glaubte, er allein habe diese geistreiche Andeutung verstanden, und gönnte dem Schiffsjungen die Schande von Herzen.

75.

Seit Mary-Ann Blut hustete, schlief Jane in der Mitte, zwischen den Kindern. Zuerst hatte sie gehofft, Beth würde das Mädchen wieder nehmen, aber Beth hatte nicht verstanden, dass dieser Husten keine Erkältung war und auch nichts mit dem überall eindringenden schwarzen Staub zu tun hatte. Stattdessen hatte sie ihre Tochter mehrfach scharf zurechtgewiesen und ihr einmal, mitten in der Nacht, sogar eine Tracht Prügel verabreicht.

»Reiß dich gefälligst zusammen! Du hältst uns alle nur wach!«

Seitdem spürte, hörte Jane manchmal, dass das Kind den Atem anhielt und mit den Zähnen knirschte in seiner Qual. Sie streichelte ihr dann den Rücken mit langsamen, ruhigen Bewegungen, die sie ablenken, einschläfern sollten, und manchmal gelang das auch. Aber ihr Rücken war immer feucht, beinahe nass vor Schweiß, so sehr kämpfte der kleine Körper gegen einen gnadenlosen Feind.

Die Blutflecken auf dem Laken versuchte das Mädchen zuerst zu verstecken, dann weinte sie vor Scham. Beth wollte sie schon ausschimpfen, als sie das Entsetzen in den Augen ihrer Mutter sah. Sie ließ einen Arzt kommen, der Mary-Ann untersuchte, ihnen aber nicht mehr als den griechischen Namen der Krankheit – Phthisis – sagen konnte. Als er sich weigerte, Geld für die Untersuchung zu nehmen, weinte auch Beth. Das war ein Todesurteil in dieser Welt.

Tatsächlich verfiel das Mädchen sehr schnell, ihr schönes rotes Haar wurde stumpf, dafür glänzten die Augen tief in den Höhlen. Alle Gelenke traten dick hervor, wie bei einem ganz jungen Fohlen, und sie war bald so leicht, dass sogar Jane sie mühelos aus dem Bett heben und waschen konnte, wenn Beth einfuhr und Mutter Irvine nähte.

Mary-Ann zu waschen, zu pflegen machte ihr nichts aus. Nur der blutige Auswurf ekelte sie, und nachts drehte sie dem sterbenden Kind den Rücken zu, schützte ihren Jungen, so gut es ging, mit ihrem Körper vor dem Atem der Kranken. Sie lag im Dunkeln und lauschte auf das Rasseln aus der todwunden kleinen Lunge, wünschte, es würde aufhören – und weinte, weil sie das wünschte.

Tagsüber las Jane den Kindern vor, brachte ihnen auch die Buchstaben bei, aber davon wollte Mary-Ann nicht viel wissen. Umso gespannter war sie bei den Geschichten. Jane las aus der Bibel und aus den Canterbury Tales, wobei sie manches natürlich ausließ. Als sie las: Dieses Mädchen hatte vierzehn Lenze gesehen, und wie die Natur die Lilien weiß und die Rosen rot macht, so hatte die Sonne ihre Locken mit den Strahlen ihrer Glut gefärbt – da fragte Mary-Ann: »Was sind Lenze?«